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geschrieben 2017 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 29.10.2018. Rubrik: Lustiges


Chaos im Café

Nur drei- oder viermal jährlich fuhr Birgit in die Innenstadt. Fast ihr gesamtes Leben spielte sich in dem Vorort ab, in dem sie geboren und aufgewachsen war. Hier wohnte sie mit ihrer Familie in einem hübschen kleinen Reihenhaus mit Vorgarten, hier befanden sich Martins Firma und das Gymnasium von Tim und Lea, hier jobbte sie ein paarmal wöchentlich in einem Geschäft.

Eines Dienstagvormittags, als sie gerade die Post aus dem Briefkasten an der Gartentür geholt hatte, schaute sie zufällig zum Nachbargrundstück hinüber und stutzte. Gaby, ihre Nachbarin – etwas jünger als sie, aber schon verwitwet –, plauderte mit einem gutaussehenden, mindestens 1,90 Meter großen jungen Mann, der an einem Sportwagen mit Berliner Kennzeichen lehnte. „Nanu“, dachte Birgit, „hat Gaby sich einen jugendlichen Liebhaber zugelegt?“

SatirepatzerSatirepatzer„Birgit, komm mal rüber“, rief Gaby. „Dies ist mein Neffe Boris. Wir fahren in die Stadt zur Galerie Stern. Kommst du mit?“

Birgit überlegte kurz. Ihre drei Lieben würden erst nachmittags aus Firma und Schule zurückkommen, und ins Geschäft brauchte sie heute nicht. Warum sollte sie sich nicht einen kleinen Ausflug gönnen? Die Hausarbeit konnte warten.

Die Galerie Stern, das wusste Birgit, war ein Familienbetrieb in der Nähe des Hauptbahnhofs, der von Gabys verstorbenem Mann gegründet worden war. Wie Gaby ihr mitteilte, fand heute eine Gesellschafterversammlung statt, deretwegen Boris aus Berlin gekommen war. „Sie wird wohl ziemlich lange dauern. Du kannst ja in der Zeit die ausgestellten Kunstwerke anschauen. Wenn du schon vor dem Ende der Versammlung zurückmusst, müsstest du leider allein nach Hause fahren. Aber der Bus nach hier hält nur ein paar Meter von der Galerie entfernt. Vor einem Café.“

„Alles okay!“ Erwartungsvoll eilte Birgit ins Haus zurück, um Handtasche und Schirm zu holen. Sie legte die Post auf den Schreibtisch, schloss die Fenster und vergewisserte sich, dass auch sonst alles in Ordnung war. Für den Fall, dass Martin, Tim oder Lea früher als erwartet nach Hause kämen, legte sie einen Zettel in die Küche („Bin mit Gaby in der Stadt“), verzichtete jedoch darauf, die drei schon im Voraus zu informieren. „Ein bisschen Freiheit kann ich mir ruhig mal gönnen“, dachte sie, als sie mit ihrer Nachbarin und deren Neffen Boris zur Galerie fuhr.

Es war fast wie ein kleiner Urlaub. Mit ihrem Handy machte sie Fotos von ihren Begleitern und den Kunstwerken. Während in einem Nebenraum die Versammlung stattfand, genoss sie das Eintauchen in die Welt der Formen und Farben.

Mit großem Bedauern klopfte sie schließlich an die Tür zum Nebenraum, um Gaby und Boris mitzuteilen, dass sie jetzt zurückfahren müsse. „Ich setze mich aber zuerst noch ins Café und trinke einen Tee“, sagte sie. „Okay, hab noch einen schönen Tag“, erwiderte Boris, der fast alle unter 50-Jährigen duzte, wie sie von Gaby erfahren hatte.

Um zur Tür des Cafés zu gelangen, musste Birgit an dessen Fenster entlanggehen. Zufällig blickte sie dabei hinein – und erstarrte. An einem der Tische saß Martin, ihr Mann. Mit einer jungen, äußerst attraktiven Frau, die sie noch nie gesehen hatte. Angeregt unterhielten sie sich. Birgits verzweifelte Hoffnung, es könne sich vielleicht um ein geschäftliches Gespräch mit einer Kundin seiner Firma handeln, wurde zunichte gemacht, als Martin seine Hand auf die der jungen Frau legte und dabei zärtlich lächelte.

Sie trat zur Seite, damit er sie nicht sah, lehnte sich an die Hauswand und schloss die Augen. Nie hatte sie geglaubt, dass ihr dies passieren würde. Fremdgehen, das hatte sie immer gedacht, taten nur die Ehemänner anderer Frauen. Nicht ihrer.

Als sie Martin vor fast zwanzig Jahren kennengelernt hatte, war er frisch geschieden. Seine erste Frau Anne war – nach kurzer, kinderloser Ehe – mit einem Schausteller durchgebrannt. Umso erleichterter war er gewesen, eine so bodenständige, solide Partnerin wie sie, Birgit, zu bekommen. Wusste er ihre Qualitäten jetzt nicht mehr zu schätzen?

Birgit atmete tief durch. Dann hatte sie sich entschieden. Ihr Leitspruch war stets gewesen: „Alles sofort klären“. Sie stürmte ins Café, raste durch die engen Stuhlreihen und ließ dabei mehrere Taschen und Mäntel anderer Besucher zu Boden gleiten, ohne sich um das von ihr angerichtete Durcheinander zu kümmern. Von einer Ehefrau und Mutter, die ihren Mann in flagranti erwischt hat, konnte man keine Rücksicht und Höflichkeit verlangen, fand sie.

Endlich stand sie vor Martins Tisch. Als er sie erblickte, weiteten sich seine Augen in grenzenlosem Erstaunen. „Birgit – du?“

„Ja, ich! Was machst du hier? Wer ist das?“ Wutentbrannt wies sie mit dem Zeigefinger auf Martins Begleiterin.

„Das ist Miriam.“

Birgit schnappte sich einen Stuhl und ließ sich drauffallen. „Er ist mein Mann!“, teilte sie der Fremden mit giftigem Blick mit und wandte sich dann wieder Martin zu: „Ich verlange eine Erklärung!“

„Miriam ist mein ehemaliges Pflegekind. Erinnerst du dich nicht, dass ich dir von ihr erzählt habe? Anne und ich hatten sie zu uns genommen, weil ihre alleinerziehende Mutter, Annes Schwester, bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Aber dann beschloss der Vater der Kleinen, dass sie bei ihm und seiner neuen Partnerin im Ausland leben solle. Ich hörte nie wieder etwas von Miriam. Bis heute Morgen ihr Anruf kam. Sie hatte im Internet meine Firmen-Handynummer ausfindig gemacht und wollte mich treffen, da sie auf der Durchreise nach Berlin ist und hier zwei Stunden Aufenthalt hat.“

Birgits Gedanken fuhren Achterbahn. Tatsächlich erinnerte sie sich, dass Martin ihr von dem Pflegekind Miriam erzählt hatte. Aber wie sollte sie wissen, ob die Fremde hier mit dem Kind identisch war? Und selbst wenn – zwischen einem Mann und seiner ehemaligen Pflegetochter, die er jahrzehntelang nicht gesehen hatte, konnte sich durchaus eine Affäre entwickeln…

„Warum sagst du nichts?“, herrschte Martin sie ungeduldig an. „Glaubst du allen Ernstes, Miriam und ich hätten etwas miteinander?“

„Ich sah durchs Fenster, wie du Miriams Hand tätscheltest. Was sollte ich denn da sonst denken? Wenn ein Mann mit einer Frau, die nicht seine Ehefrau ist, im Café sitzt und Händchen hält, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass er ein Verhältnis mit ihr hat, doch weitaus größer als die Wahrscheinlichkeit, dass sie sein früheres Pflegekind ist, oder?!“

„Hier geht’s nicht um Wahrscheinlichkeit! Ich bin enttäuscht, dass du mir nicht vertraust. Habe ich dir jemals Anlass zum Misstrauen gegeben? Nie! Und trotzdem benimmst du dich hier absolut unmöglich und –“

„Hallo Birgit!“ Alle drei schraken zusammen und blickten auf. Am Tisch stand eine hünenhafte Gestalt. Es war Boris, der unbemerkt hereingekommen war. „Gut, dass du noch hier sitzt. Du hast deinen Schirm bei mir im Auto vergessen! Hier, nimm ihn, ich muss sofort wieder zurück –“

„Moment mal!“, rief Martin. „Wer sind Sie? Birgit, wer ist das? Ich habe ihn noch nie gesehen! Aber er duzt dich! Und du bist mit ihm gefahren!“

„Das ist Boris, ein Neffe unserer Nachbarin Gaby. Wir waren alle drei in der Galerie Stern. Hier, schau dir die Fotos auf meinem Handy an!“

Martin studierte die Bilder genauestens. Zwar war Gaby tatsächlich überall dabei. Aber war Boris wirklich ihr Neffe? Und selbst wenn – das schloss ja nicht aus, dass er und Birgit…

„Mann, bist du misstrauisch!“, staunte Boris, als Martin wieder beim ersten Foto anfing.

„Da hörst du’s“, sagte Birgit, „er duzt fast alle unter 50. So, und jetzt muss er zur Gesellschafterversammlung in die Galerie zurück. Danke, Boris, dass du mir den Schirm gebracht hast! Tschüss und gute Heimfahrt!“

Martin, der immer noch die Handyfotos betrachtete, knurrte nur, als Boris das Café verließ. Dann fiel sein Blick auf sein ehemaliges Pflegekind. „Miriam! Was ist? Geht es dir nicht gut?“

Auch Birgit sah jetzt, dass Miriam wie in Trance dasaß. Mit verklärtem Blick fragte sie schließlich: „Boris – ist er solo?“

Birgit musste lachen. „Keine Ahnung.“

„Einen Ring trägt er jedenfalls nicht“, flüsterte Miriam hoffnungsvoll.

„Nein? Na, dann ist er wohl solo. Gehen Sie doch einfach zur Galerie Stern, hier in der Straße, Hausnummer 14, und fragen Sie nach ihm. Er kommt übrigens aus Berlin. Beeilen Sie sich, vielleicht nimmt er Sie ja im Auto mit.“

Miriam hatte es plötzlich überaus eilig. „Tschüss, Martin, es war riesig nett, dich wiederzusehen!“

„Tschüss, Miriam, melde dich mal wieder. Hoffentlich fährt dieser Boris jetzt wirklich schnellstens nach Berlin zurück.“

Für Birgit hatte Miriam keinen Gruß übrig, was diese nicht überraschte. Dann entschwand sie Richtung Galerie.

Birgit und Martin sahen sich verdutzt an. Und dann brach es aus ihnen heraus. Sie lachten, lachten, lachten, bis alle im Café zu ihnen herüberstarrten.

„Ich hatte wirklich geglaubt, du und Miriam... Ich hätte es nicht überlebt.“

„Mir ging’s genauso. Du und Boris...“

Wieder lachten sie, und da es ihnen inzwischen völlig egal war, was die Leute im Café von ihnen dachten, fielen sie sich um den Hals und küssten sich wie zwei verliebte Teenager.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Weißehex am 04.11.2018:

Die Geschichte hat mich wunderbar unterhalten und zum Schmunzeln gebracht. Danke dafür!

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