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geschrieben 2017 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 09.10.2018. Rubrik: Menschliches


Tom und Luisa

„Mach dir keine Sorgen, Mum, ich bin nur müde vom Stress an der Uni“, sagte Luisa, bevor sie in ihrem Zimmer verschwand.

Sandra seufzte. Doch, sie machte sich Sorgen. Und sie glaubte zu wissen, was ihre Tochter bedrückte.

Es ging um Tom, den Sohn von Sandras Mann Bastian aus erster Ehe. Nach der frühen Scheidung seiner Eltern war er mit seiner Mutter in deren amerikanische Heimat übergesiedelt. Die Kontakte zwischen Bastian und seinem Sohn hatten danach stets in den USA stattgefunden. Nun jedoch arbeitete Tom in Deutschland, seinem Geburtsland, dessen Sprache er gut beherrschte. Zuerst hatte er bei seinem Vater und dessen neuer Familie gewohnt, doch schon bald nahm er sich eine eigene Wohnung in einer Nachbarstadt und mied Bastian, Sandra und Luisa regelrecht.

Sandra ahnte den Grund. Tom und Luisa hatten sich ineinander verliebt und wussten, dass eine Beziehung zwischen Halbgeschwistern verboten war.

Luisas Leid ging Sandra nahe, aber das Schlimmste war der Gedanke, dass sie ihr und Tom helfen könnte, dabei jedoch ihr eigenes Lebensglück aufs Spiel setzen würde.

Immer wieder kehrten ihre Gedanken zurück zu jener Nacht, neun Monate vor Luisas Geburt. Sie und Bastian waren erst seit einem halben Jahr verheiratet, als er eine dreitägige Geschäftsreise antreten musste. Aus purer Langeweile war Sandra zu einer Party gegangen und dort ihrem Ex Fred Langner begegnet, der einige Tage später nach Australien auswandern wollte…

Als Sandra feststellte, dass sie schwanger war, wusste sie nicht, ob von Bastian oder von Fred. Sie beschloss, ihrem Mann nichts von ihrem Zweifel zu sagen, und teilte ihm mit, dass er wieder Vater würde. Seine Freude war unbeschreiblich. Zum Glück, dachte Sandra, sahen beide Männer sich ziemlich ähnlich, sodass ihr Seitensprung kaum aufflöge. Nur an einem einzigen Merkmal sähe sie selber möglicherweise, wer der Erzeuger war. Freds Ohren waren oben spitz zulaufend. „Mister-Spock-Ohren“, hatte er einmal gelacht, „die liegen bei uns in der Familie.“

Beim ersten Blick auf die Öhrchen der neugeborenen Luisa wusste sie, dass Fred ihr biologischer Vater war. Aber Bastian freute sich so sehr über die Kleine, dass sie sich berechtigt fühlte, ihr Geheimnis für sich zu behalten. „Sollte jemals die Rede auf diese Ohrenform kommen“, dachte sie, „werde ich behaupten, einige meiner Vorfahren hätten sie ebenfalls gehabt."

Die Geburt war schwer gewesen, und die Ärzte mussten Sandra sagen, dass sie keine weiteren Kinder bekommen könne.

Knapp zwei Jahre später berichtete die Lokalzeitung, dass Fred Langner in seiner neuen Heimat Australien tödlich verunglückt war. Bastian war schon im Büro, als Sandra diese Meldung las und das Foto anschaute. Zuerst war sie geschockt, aber dann überwog die Erleichterung. „Nun wird niemand mehr etwas von Luisas Herkunft erfahren“, dachte sie.

Jetzt aber hatte die Vergangenheit sie doch eingeholt. Luisa und Tom hatten sich kennengelernt und ineinander verliebt. Sie litten. Was sollte sie tun?

Nach langem Überlegen beschloss Sandra, weiterhin Stillschweigen zu bewahren. „Die jungen Leute werden irgendwann andere Partner finden“, versuchte sie ihr Gewissen zu beruhigen.

*

Einige Tage später seufzte Bastian: „Sandra, merkst du nicht auch, dass Tom und Luisa ein Problem haben?“

Sie sah ihn erschrocken an. „Wie meinst du das?“

„Sie lieben sich. Und sie wissen, dass Halbgeschwister kein Paar werden dürfen.“

„Nun ja… dann müssen sie sich eben damit abfinden.“

„Sandra“, sagte Bastian, „sollen wir die Kinder für unsere Fehler büßen lassen? Ich weiß seit Luisas zweitem Lebensjahr, dass sie von Fred Langner ist.“

Sandra starrte ihn an. „Woher…“ stammelte sie und brach dann in Tränen aus.

„Ruhig, ruhig“, sagte er, „ich mache dir keine Vorwürfe, falls auch du mir keine machst. Auch ich habe einen Fehler begangen. Ich habe dir verschwiegen, dass ich nicht mehr zeugungsfähig bin. Kurz nach Toms Geburt bekam ich eine seltene Tropenkrankheit, die dies zur Folge hatte. Die Ärzte sagten es mir sofort, aber ich wollte ihnen nicht glauben. Als Luisa dann unterwegs war, stand für mich fest, dass sie sich geirrt hatten.“

Beschämt sah Sandra zu Boden.

„Und dann kam der Tag, an dem unsere Zeitung, die auch im Büro ausliegt, die Meldung von Fred Langners Tod brachte. Du hattest mir ja gesagt, dass du mit ihm liiert gewesen warst. Als ich auf dem Foto seine Ohren sah, die denen von Luisa genau glichen, meldete ich mich krank und ging zu Doktor Tanner, meinem alten Freund. Ihm erzählte ich alles. ‚Es gibt keine andere Erklärung‘, sagte er, ‚dieser Mann war der Erzeuger von Luisa.‘

Ich tobte, wollte mich sofort scheiden lassen. Aber mein Freund brachte mich davon ab. ‚Der Mann ist tot‘, sagte er, ‚und Luisa hat nie einen anderen Vater gekannt als dich. Denk außerdem dran, dass auch du einen Fehler gemacht hast. Du hättest Sandra sagen müssen, dass du nicht mehr zeugungsfähig bist.‘ Schließlich folgte ich seinem Rat und ließ alles, wie es war.“

Dann sagte er dieselben Worte, die zuvor auch Sandra durch den Kopf gegangen waren: „Jetzt hat die Vergangenheit uns doch eingeholt.“

Lange saßen sie schweigend beisammen. „Was machen wir denn jetzt?“, fragte Sandra schließlich.

„Wir werden Luisa auf jeden Fall über ihre Herkunft aufklären. Sie hat das Recht, darüber Bescheid zu wissen. Es wird ein Schock für sie sein, aber da sie Tom liebt, wird die Erkenntnis, dass sie nicht seine Schwester ist, ihren Schreck in Freude verwandeln.“

„Aber rein rechtlich gelten sie doch als Halbgeschwister“, warf Sandra ein.

„Stimmt. Da steht uns ein bürokratischer Hürdenlauf bevor. Da müssen wir jetzt durch. Aber irgendwie schaffen wir das schon.“

*

Luisa schluchzte. Soeben hatten Sandra und Bastian ihr so behutsam wie möglich gesagt, dass ihr geliebter Dad nicht ihr leiblicher Vater war.

Plötzlich durchfuhr ein Ruck ihren Körper. Ein Gedanke musste ihr ins Hirn geschossen sein. Binnen von Sekunden wandelte sich ihr Gesichtsausdruck von tiefer Verzweiflung zu atemloser Hoffnung. Stockend fragte sie: „Dann ist Tom gar nicht mein Halbbruder?“

„Nein, das ist er nicht“, antwortete Bastian.

Luisa schien es noch nicht recht glauben zu können. „Weiß er das?“

„Noch nicht, aber ich kann es ihm gern sagen. Was meint ihr, sollen wir ihn zum Abendessen einladen?“

„Ja!“, jubelten Mutter und Tochter. Bastian wählte Toms Nummer. „Hallo Tom, hier ist Dad. Kommst du heute Abend zum Essen zu uns? – Keine Zeit? Schade! Sandra und ich hätten uns gefreut, und Luisa auch. Übrigens seid ihr nicht miteinander verwandt. Luisa ist von Sandras früherem Partner. – Was? Du willst doch kommen? Jetzt sofort? Okay, aber fahr nicht zu schnell…“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Weißehex am 12.10.2018:

Da haben Tom und Luisa ja noch ihr Glück gefunden. Eine schöne, romantische Geschichte.

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