Veröffentlicht: 24.10.2022. Rubrik: Unsortiert
Hände
Hände
(Für Anne)
von
Bernhard Montua
Eine Lakritzschnecke, eine Schaummaus und eine Sauereschlange bitte, piepste die Stimme des kleinen Mädchens, vor dem Fenster des Kiosks. Sie streckte ihre kleine rosige, unverbrauchte Kinderhand hoch und ließ die abgezählten Münzen auf den abgenutzten, gelblichen Zahlteller prasseln. Wenige Augenblicke später, wurden ihr die gewünschten Köstlichkeiten, in einer bunten, mit Blumen verzierten Tüte, durch das schmale Fenster gereicht. Die Hand welche, die Tüte durch das Fenster reichte, war alt, bleich und knochig und mit braunen Altersflecken übersät. Das Mädchen fischte die saure Schlange aus der Tüte, biss ein Stückchen davon ab und hüpfte zufrieden davon. Am Kiosk schloss sich das Schiebefenster, mit einen kratzendem, schabendem Geräusch. Das Fenster war fast so alt wie die Hand, die es bewegte. Seit über vierzig Jahren, vollzog sich diese „Aufführung“ der Hände, auf dieser kleinen Bühne. Schiebefenster auf, eine Wunsch, eine Hand bezahlt, etwas wurde durch das Fenster gereicht, eine Hand nahm und ging meist ohne Dank und Gruß. Dann fiel der Vorhang und das Fenster schloss sich hinter der Hand und die Bühne war bereit für den nächsten Akt.
Anne Schmidt, war damals in den sechziger Jahren, als sie den Kiosk gegenüber dem großen Kaufhaus, mitten in der Innenstadt von Ratingen übernahm, eine junge Frau. Sie und Günter ihr Mann, der eine gute Anstellung bei Mannesmann bekleidete, hatten gerade geheiratet und schmiedeten große Pläne. Ein Haus in Breitsacheid, zwei Kinder und Liebe bis zum Tod. Die Kinder kamen nicht, sie konnte keine Kinder bekommen. Günter ließ sich scheiden und ehelichte die Bäckereiverkäuferin, die neben an, in der kleinen Backstube gearbeitet hatte. Ein Haus für Anne allein, nein das machte für sie keinen Sinn. Nach vielen, immer verzweifelter werden versuchen, einen anderen, passenden Hausbewohner zu finden, gab sie auf. Sie nahm sich eine Zweizimmerwohnung auf der Düsseldorfer Straße, nur wenige hundert Meter vom Kiosk entfernt. Das war praktisch, denn sie öffnete das Kioskfenster schon um fünf Uhr morgens, so dass die Frühschicht, die Bildzeitung zwei Brötchen mit Fleischwurst oder mit Käse, bei ihr kaufen konnte. Diese frühen Hände, die sich ihr entgegen streckten, waren meistens groß, stark, hatten Schwielen und rochen nach harter Arbeit. Sie hatten oft Mühe, die kleinen Münzen aus dem Geldbeutel zu bekommen, da nahmen sie lieber die Mark und murmelten: Stimmt so Anne. Die von Morgens und die, die am Mittag kamen, um den ersten Underberg zu kaufen, kannten sie beim Namen. Anne behandelte alle mit der gleichen, stummen Freundlichkeit, so wie sie auch voller stummer Geduld, sich die Lebensgeschichten der Abendhände, immer wieder und meistens immer wieder anders, anhörte. Das kleine Kioskfenster, das kein Gesicht zeigte, erfuhr Dinge, die in keinem Beichtstuhl je ausgesprochen wurden. Da waren die Sonnen verbrannten Hände von Peter, der zur See gefahren war und an Land keinen sicheren Halt mehr gefunden hatte, oder die weichen Hände von Klaus, dem Koch aus Österreich, der mal im Lotto eine größere Summe gewonnen hatte, Alles in kurzer Zeit verjubelte und mit dann, mit dem Alltag nicht mehr klargekommen war. Es waren so viele, die unter dem kleinen Regendach, welches Anne für sie angebaut hatte, damit sie wenigstens im Trockenen stehen konnten und ihre Schicksale, oder das was sie oft, in geschönten Bilder, dafür ausgaben, schildern konnten. Denn in all den Jahren, hatte niemand, jemals, das Innere des Kiosks betreten dürfen. Für Anne waren die Geschichten, wie die Titelblätter der frischen Zeitungen, die morgens in großen Bündeln vor den Kiosk lagen, um nächsten Morgen als Altpapier wieder abgeholt wurden. Als dann die Städtische Sparkasse fertig gebaut war, kamen auch die gepflegten und nach Duftwasser riechenden Hände, die nach dem „Spiegel“ und der „Zeit“ fragten. Diese Hände gingen meistens grußlos und sagten nie: Stimmt so Anne. Sie kauften auch keine Brötchen oder nahmen einen Becher Kaffee mit. Nein, sie kamen am späten Nachmittag und hüstelten, haben sie die „Sankt Pauli Nachrichten“ und oder den „Playboy“ und eine „Frankfurter“ bitte. Anne reichte ihnen alles, und schmunzelte, wenn sie sah, dass die „Frankfurter Allgemeine“ als Verpackung für die Schmuddelblättchen benutzt wurde. Dann, Anfang der Neunziger, verkaufte sie auch die Fahrkarten für die Rheinbahn. Das brachte ihr viele neue Hände auf ihre „Bühne“.
Es waren keine mehr Kinderhände mehr, das Leben hatte die ersten kleinen Kerben, auf die Handrücken der Schülerhände geritzt. Die mit gespieltem Selbstbewusstsein, nach einer Schachtel „Marlboro“ oder einer Flasche Bier verlangten, aber sie nie bekamen. Die größte Geduld aber, verlangten ihr die weiblichen Hände ab. Diese Hände waren mal manikürt mal waren sie von zu vielen Putzmitteln, ganz spröde, aber alle hatten Zeit und wollten reden, mit ihr oder mit den nächstbesten Frauenhänden, die vor dem Kiosk warteten. Sie verlangten „Frau und Welt“ „Goldene Blatt“ oder die neusten Arzt oder Bergromanhefte, in denen immer dasselbe Thema, vor immer neuer Kulisse beschrieben wurde. Mit den Jahren wurden die Hände rundlicher und verlangten nach „Brigitte“ und „Cosmopolitan“ und nach noch mehr Jahren, als die Hände alt wurden, waren es denn wieder die Arzt und Bergromane. Anne selbst las nie mehr, als sie es beim dem Verkauf der Zeitungen, nicht verhindern konnte, also die Überschriften. Am liebsten waren Anne aber die Kinderhände, sie hatten noch so viel Hoffnung und die Zukunft in ihren neuen Händchen. Vielleicht war es aber auch der unerfüllt gebliebene Kinderwunsch, der sie oft dazu brachte, in diese kleinen nervösen Hände, mehr zugeben als sie bezahlt hatten und sie wurde dafür geliebt. Es gab Hände, die sie als Kinderhände kennenlernt und sie ihr bis zu Erwachsenenalter treu geblieben waren. Diese Hände brachten ihr zu Weihnachten und zu Ostern kleine Geschenke und fragten immer, wenn sie bei ihr etwas kauften, nach ihrem Befinden. Das war ihr Familie und sie war auch der Grund, warum sie immer weiter machte, weit über das Rentenalter hinaus. Am 5 Juli 2005 morgens, schloss das kleine Kioskfenster für immer. Anne erlag einem Herzversagen, während sie neuen Kaffee für die Frühschicht zubereitete. Ich war einer, der tausendmal Zeitungen und Zigaretten bei Anne gekauft hat. Als ich mich für die alte unbekannte und denn noch so vertraute, greise Hand und deren Schicksal interessiert habe, war es leider zu spät. Anne ist freundlich und stumm gegangen. Zwei Monate nach dem Tot von Anne, wurde der Kiosk abgerissen. Diese Geschichte habe ich geschrieben, damit ein kleiner Gedanke an Anne bleibt, mag er auch nur von mir erdacht sein. - Ende -