Veröffentlicht: 18.09.2022. Rubrik: Unsortiert
Strandkur
Wie dichter Nebel, getrieben von einer sanften Brise, wich der Schlaf zäh aus seinem Bewusstsein. Er sass in einen gepolsterten Sitz geschnallt. Das eintönige Fauchen in seinen Ohren kam von einer Flugzeugturbine. Er löste den Sicherheitsgurt, räckelte sich so gut es ging und sann darüber nach, wann und wo er einen Flieger bestiegen hatte. Im Moment konnte er sich nicht daran erinnern.
Hinter der Blende, die das Fenster bedeckte, strahlte die Sonne, helles Blau oben und unten. Offensichtlich flogen sie über einen Ozean, aber wohin.
Stirnrunzelnd mühte er sich herauszufinden,wo er an Bord gestiegen war. Schliesslich musste er sich eingestehen, dass er das einfach nicht mehr wusste, weniger noch wohin der Flug ging. Schon wollte er seinen feisten Sitznachbarn danach fragen, hielt sich jedoch dann doch zurück. Der Mann müsste ihn für geistesgestört halten.
Er suchte nach dem Boarding Pass und fand ihn in der Brusttasche seines Hemds auf den Namen von Anton Sternbeck. Amsterdam – Curaçao. Was sollte er in Curaçao? Ja, wie und wann war er eigentlich nach Amsterdam gekommen? Wohnte er dort? War er wirklich Anton Sternbeck? Nicht eimal das wusste er.
Amnesie!
Unsinn, ein Alptraum, gleich würde der Wecker läuten. Er hielt den Atem an und biss sich auf die Zunge, aber er erwachte nicht. Lächerlich, nur keine Panik, ganz ruhig bleiben.
Wer war er? Er sah an sich herunter, hellbraune Hose, gleichfarbige Hushpuppies und ein sandfarbenes, sportliches Hemd mit langen Ärmeln. In der Brusttasche war auch ein Pass. Er zog ihn heraus. Ein deutscher Pass der Europäischen Gemeinschaft, auf den Namen Anton Sternbeck, Wohnort Regensburg, Augenfarbe grau, Grösse 186 cm, ausgestellt am 7. Februar 1997, dann eine Unzahl von Stempeln. Das Gesicht auf dem Foto kannte er schon, schmal, kurzgeschittene Haare. Er stand auf, blickte seinen Nachbarn entschuldigend an, wartete bis der sich aus dem Sitz gekämpft hatte und zwängte sich dann wortlos an ihm vorbei und ging zur Toilette. Sein Gesicht im Spiegel war zweifelslos mit dem Passfoto identisch. Er war also Anton Sternbeck. Wieder zog er den Pass aus der Hemdtasche und sah auf das Foto. Nein, kein Zweifel. Er atmete tief, wusch sich Hände und Gesicht und trocknete sich sorgfältig mit einem Papierhandtuch ab, warf nochmals einen Blick auf sein Spiegelbild, schüttelte den Kopf, wie um die Gedanken auf ihren Platz zu rütteln, entriegelte die Toilettentür und stakte an seinen Platz zurück. Der Dicke erhob sich widerwillig, Anton zwängte sich wieder an ihm vorbei und liess sich zu einem schüchternen “Danke” hinreissen,
Die Bordzeitschrift in der Tasche der Rückenlehne vor ihm war von der DCA herausgegeben, der Dutch Caribbean Airline. Er sass also in einem Flugzeug der DCA. Sehr schön, aber wieso? Wieder zog er den Pass aus der Brusttasche. Ein Zettel fiel auf den Boden. Er hob ihn auf. Es war ein ausgefülltes Einreiseformular. Als Grund seiner Einreise nach Curaçao waren Geschäfte angekreutzt. Seine Aufenthaltsdauer war mit einer Woche angegeben, seine Adresse das Howard Johnsson Hotel in Willemstad. Was das wohl für Geschäfte sein mochten? Was war sein Beruf? Er blätterte im Pass. Geburtsort Cumaná, Venezuela, Einreise- und Ausreisestempel, Curaçao, Bonaire, US Immigration Dallas, Aeropuerto Internacional Mexico DF, El Dorado-Bogota-Colombia, ein Visum der Republic of Suriname, gültig bis Juni 2009. Welches Datum war heute. Er sah auf seine Armbanduhr, eine sportliche Uhr, digital, schwarze Hartgummifassung, schwarzes Lederarmband. Es war Sonntag, 16-08-03, 14:17. Wieder öffnete er den Pass. Geburtstag 28/05/61. Schnell errechnete er sein Alter. Grosser Gott, schon 42 Jahre alt, schon bald schrottreif!
Hatte er eigentlich Gepäck? Er fingerte den Flugschein aus der Brusttasche. Kein Baggage-tag. Aber um eine Woche in Curaçao zu bleiben, muss man doch Gepäck haben, vermutlich eine grosse Reisetasche als Handgepäck. Wie sollte er diese nun identifizieren?
Die Bordsprechanlage begann zu rauschen. Eine weibliche Stimme verkündete, dass sie sich im Anflug auf den Flughafen Hato von Curaçao befänden, und leierte dann die zu diesem Anlass üblichen Floskeln herunter.
Nach der Landung standen die meisten Fluggäste eilig auf und zogen hastig ihr Handgepäck aus dem Gepäckfach über den Sitzen. Ungeduldig warteten sie auf das Öffnen der Kabinentür. Nach ein paar Minuten setzte sich die Menschenschlange endlich in Bewegung. Anton blieb sitzen und wartete ergeben, bis alle Passagiere an seinem Sitz vorbeidefiliert waren, erhob sich und sah in die offenen Gepäckfächer. Über ihm lag einsam und verlassen eine grosse, braune Reisetasche und ein Laptop. Er fasste die Sachen und schleppte sie zum Ausgang. Die Passkontrolle verlief reibungs-los. Aber die Zöllner schnüffelten in seiner Reisetasche. Hoffentlich, betete er, ist sie die meinige und enthält keinen Sprengstoff. Zum Vorschein kamen dann auch nur Wäsche und Toilettenartikel.
Die Ankunftshalle war ihm sehr bekannt. Als er den Ausgang passierte, überreichte ihm ein reizendes, dunkelhäutiges Mädchen Touristeninformation.
“Masha danki, dushi “, entfuhr es ihm .
Bedanken konnte er sich jedenfalls vielsprachig.
Bei der Rezeption im Howard Johnson fragte er nach einer Reservation für Anton Sternbeck.
“Ja richtig, von Maduro gebucht,” informierte ihn der Rezeptionist.
Maduro, hätte er Bayer gesagt, hätte Anton gewusst wovon er sprach, aber Maduro sagte ihm nichts. Waren das seine Kunden, oder war es die Firma bei der er sein Brot verdiente? Was machte die Firma?
Er fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock und suchte das Zimmer 214. Die Plastikfolie, die den Schlüssel ersetzte, öffnete ein geräumiges Zimmer mit einem kleinen Kühlschrank und Fernseher.
Im Laptop war keine Information über Maduro gespeichert. Auch seine Beziehung zu Maduro blieb ein Rätsel. Aber immerhin gab es eine Präsentation einer Kläranlage auf der Festplatte.
Die gelben Seiten des Telefonbuchs von Willemstad halfen nicht weiter. Maduro machte so ziemlich alles, Touristik, Import, Export, Vertretungen.
Was sollte er tun? Er schaltete den Fernseher ein und suchte eine Nachrichtensendung. CNN berichtete pausenlos über Bomben und Explosionen im Irak und in Israel, über den verlogenen Bush, seinen Vasall Blair und den klugen Chirac, der den ganzen Terror schon vor der Invasion Iraks prophezeit hatte, ganz wie jeder andere halbwegs vernünftige Bewohner des Erdballs. Er musste etwas trinken. Vielleicht würde ihn der Alkohol entspannen und hoffentlich konnte er sich dann wieder daran erinnern was er hier in Curaçao zu tun hatte.
“Wo kann man denn hier an einem Sonntag Nachmittag hingehen,” konsultierte er den Rezeptionisten.
“Kennen Sie Mambo Beach?” fragte der.
“Nein. Nie gehört.”
“Da ist heute was los, Happy Hour, voller Touristen aus Holland und der Karibik, Musik und Romantik und so.”
“Hört sich gut an. Wie komme ich denn da hin?”
“Am besten nehmen Sie ein Taxi, 15 Florins.”
“O.k. Mambo Beach here I come.”
Ein riesiger nicht asphaltierter, staubiger Parkplatz, voll mit Fahrzeugen aller Art war die Endstation der Fahrt. Das Taxi überquerte den Parkplatz und hielt am Ende vor einem Zaun hinter dem ein paar staubige Palmen aus dem daruntergelegenen Strand hervorlugten. Anton ging durch eine kleine Tür im Zaun, stieg eine Betontreppe hinab und war mitten im Touristentrubel auf einem fast fussballfeldbreiten, langen palmenbestandenen Sandstrand. Dröhnende Salsa übertönte das Rauschen des Meeres. Er schlängelte sich an den Menschen vorbei, die in dichtgedrängten Gruppen in Strandkluft herumalberten, alle Bierdosen oder Papierbecher mit undefinierbaren Mixgetränken in den Händen. Er näherte sich einer Bar mit einem Palmwedeldach. Auf halbem Weg stand eine grosse Kühltruhe voller Bierdosen im Eis. Wie Wespen um einen Honigtopf drängten sich die Durstigen um die Truhe, wo sie von zwei gestressten, aber gut gelaunten Blondinen viersprachig bedient wurden.
Anton verlangte ein Heineken, bezahlte und drängte sich weiter zur Bar. Zwischen der Bar und dem Meer gab es eine runde mit Fliessen belegte Tanzfläche. Nur wenige Paare tanzten. Viele Männer standen noch unentschlossen herum und tranken sich in Stimmung. Die Frauen lauerten auf die Männer und lachten etwas zu laut. Anton genoss den feucht-warmen Meeresgeruch und die ausgelassene Urlaubsatmosphäre. Rot senkte sich die Sonne ins Meer, eine leichte Brise machte das Klima erträglich. Er setzte sich auf eine kniehohe Steinmauer, die die Tanzfläche zum Meer hin abgrenzte, trank genieserisch sein Heineken und sah und hörte sich um. Papiamentu, holländische, englische, spanische, Sprachfetzen, Taki-Taki, ein Gewirr von Nationaltäten, Typen und Hautfarben.
Die Tanzfläche belebte sich. Neben ihm nistete sich ein Rudel Südamerikaner ein. Sie hatten einen Stapel Bierdosen gekauft und bauten sie pyramidenförmig auf die Mauer. Offenbar beugten sie mit dieser Massnahme dem Ende der Happy Hour vor. Danach würde das Bier das Doppelte kosten.
“Das Bier wird doch warm”, meinte Anton .
“Dazu wird es viel zu schnell getrunken “, antwortete der junge Mann den er angesprochen hatte und hielt ihm eine Büchse Polar unter die Nase. Er hatte bemerkt, dass Antons Dose inzwischen leer war.
Überraschst bedankte er sich und nahm sich vor bei der ersten Gelegenheit eine Runde auszugeben..
“Wo bist du denn her”, fragte ihn eine korpulente Schwarze aus der Gruppe, die sich auf der Mauer neben ihm niedergelassen hatte.
“Aus Deutschland“, antwortete Anton vage. Sein fehlendes Erinnerungsvermögen machte ihn nervös.
“Einen deutschen Akzent hast du aber nicht.”
Dazu wusste er nichts zu sagen, aber um das Gespräch nicht abzubrechen stellte er ihr die selbe Frage.
“Aus Kolumbien, aus Cartagena”, erklärte sie mit Stolz in der Stimme.
"Mach ein wenig Platz, Carmen!" rief eine junge Frau die aus der Menge aufgetaucht war, die aufregenste Mulattin, die Anton je gesehen hatte, wenigstens in den letzten vier Stunden an die er sich erinnern konnte, gross, verführerische Proportionen, schulterlanges, dichtes Kraushaar, hellbraun gefärbt mit blonden Strähnen, hautenge Hose, die nur bis drei Finger unter dem Nabel reichte, ein T-shirt das eine handbreit darüber endete und im Nabel ein Piercing und darum herum vielleicht ein ganz klein wenig zu viel Cholesterin unter der Haut. Winzige Schweissperlen standen auf ihrer Stirn. Wahrscheinlich war sie eben nach einem, eiligen Fussmarsch angekommen, Als er merkte, dass er sie anstarrte, streckte er schnell Carmen die Hand hin und sagte:
“Hola Carmen, ich heisse Antonio. “
“Antonio, das ist Reina,” stellte Carmen die Neuangekommene vor.
“Encantado, Reina,” strahlte er.
“Reina gab ihm die Hand. Sie war fest und warm und die Berührung ging ihm bis in den Unterleib.
“Bist du auch aus Cartagena?”
“Ja, und du?”
“Aus Deutschland.”
“Und was machst du in Curaçao? setzte er das Verhör fort.
“Ich arbeite als Kellnerin.”
“Eigentlich habe ich Meeresbiologie studiert, aber das ist lange her,” fügte sie hinzu.
“Ich bin Ingenieur,” hörte er sich zu seiner Ueberraschung sagen, wohl weil er glaubte diese Berufsparte sei für Frauen besonders attraktiv.
Rasch drängte er sich zur Bar, kaufte zwei Sechser-Packungen Amstel und reichte sie herum.
Reina trank das eiskalte Bier ein bischen zu schnell.
Die Sonne war untergegangen, der Mond hing jetzt riesengross, tief über dem Meer. Der Beat der Salsa Brava hämmerte in seinen Ohren.
"Azuquita mami, azuquita pa' ti", röhrten die Lautsprecher.
Er fasste Reina bei der Hand und zog sie auf die Tanzfläche.
Danach waren sie wieder zu ihrem Platz auf der Mauer zurückgekehrt. Er hatte sie unbewusst um die Hüfte gefasst und sie hatte sich wie absichtslos ein wenig an ihn gedrängt.
Sein Identitätsproblem war unwichtig geworden. Es war ihm jetzt egal, dass er nichts über sich wusste, dass er keine Ahnung hatte, was er hier in Curaçao sollte. Sein neues Leben hatte vor fünf Stunden begonnen und sein Mittelpunkt war Reina. Jäh hatte er sich in sie vernarrt.
Spät in der Nacht gingen sie Seite an Seite durch den Sand zum Strandhotel. Jetzt konnten sie das Meer rauschen hören.
“Ich habe zwei Kinder, zwei Mädchen,” sagte Reina leise.
“Da fehlt dir ein Junge von mir.”
“Meinst du das ehrlich oder machst du dich über mich lustig?”
“Ich meine es ehrlich, von ganzem Herzen.”
“Bist du verheiratet,” fragte sie unsicher.
“Ja”, sagte er, “ich bin verheiratet.”
Und plötzlich wusste er wieder wer er war. Ja, er war Anton Sternbeck, ja, er wohnte in Regensburg und er war verheiratet mit Marlene, 39, Rechtsanwältin, die davon überzeugt war, dass sie an seiner Seite vorzeitig alterte, die keine Kinder wollte, um ihre Karriere nicht aufs Spiel zu setzen, die ihm nach vierzehn Jahren Ehe den Titel des langweiligsten Mannes des Planeten verliehen hatte und ihn einen engstirnigen Macho schimpfte. Er erinnerte sich an das Ritual ihres täglichen Streits und wie sie sich anödeten, wenn sie einmal nicht stritten.
Es war zum aus der Haut fahren.
Und eben das hatte er für ein paar Stunden getan.
“Ja, ich bin verheiratet “, wiederholte er und fügte entschlossen hinzu,
“Nächste Woche lasse ich mich scheiden.”