Veröffentlicht: 02.09.2022. Rubrik: Unsortiert
Outsourcing
Frau Dr. Christine Maiden trat aus dem Aufzug, der sie von den Konferenzräumen des Hotels zu ihrem Zimmer gebracht hatte. Ein tolles Hotel hatte Grossberger ausgesucht. Man musste ihm das schon lassen. Bestimmt nicht nur, um die Leute von der US- Niederlassung zufrieden zu stellen. Die Amerikaner spotteten immer über die altbackenen europäischen Ziegelsteingebäude. Sie behaupteten diese seien fast physische Bremsen für neue Ideen und flexibles Denken.
Frau Dr. Maiden schloss ihr Zimmer auf und genoss einen Moment die eindrucksvolle Aussicht auf das Meer von Cancún in dem die letzten Abendsonnenstrahlen glitzerten.
Sie setzte sich auf das Ledersofa und schloss die Augen. Ihr Beitrag hatte eine lange Frage- und Antwortsession ausgelöst.
Das war die 15 Stundenreise doch wert. Outsourcing, ja Outsourcing war das Mittel, um die Kosten zu senken, zum mindesten den Headcount, um die Aktionäre zu beruhigen. Sie hatte Erfolg mit ihren Argumenten gehabt. Sie glaubte, dass das Umfeld wesentlich dazu beigetragen hatte. Sie war jetzt davon überzeugt, wie nie zuvor, dass Grossberger das Richtige getan hatte, als er forderte die Tagung nicht in Darmstadt abzuhalten, dem Sitz des Konzerns, wie das Fossil von Hansen und der geizige Dinosaurier Altmann das vorgehabt hatten. Die durch Outsourcing ersparten Personalkosten würden den internen Finanzcontrollern die Mehrkosten dieser Tagung durchaus verständlich machen.
Sie beschloss nicht zum gemeinsamen Dinner zu erscheinen. Morgen würde sie ihren kollegialen Verpflichtungen nachkommen. Für heute hatte sie genug von ihren Kollegen. Sie würden sie kaum vermissen. Bei ihnen galt Frau Dr. Maiden als unnahbar kalt, autark, eine Margaret Thatcher, nur jünger und mit dem Aussehen einer Jamie Lee Curtis.
Gedankenverloren spielte sie mit den Werbebroschüren, die auf dem Tischchen vor dem Sofa fächerförmig ausgelegt waren.
Wahllos griff sie ein einzelnes Blatt heraus, auf das in Riesenziffern diagonal über die ganze Seite eine Telefonnummer aufgedruckt war. Eine "Begleiterfirma" bot ihre Dienste an. Kleingedruckt stand darunter:
"Nur für Damen, die sich verwöhnen lassen wollen."
Und noch kleiner:"Ganzkörpermassagen"
Frau Dr. Maiden fühlte plötzlich, dass sie immer noch verkrampft war. Ein bischen Entspannung mit einer Massage würde ihr bestimmt guttun. Aber je länger sie das Blatt betrachtete, umso mehr kam sie zu der Überzeugung, dass hier keine medizinische Massage angeboten wurde. Ein prickelndes Gefühl der Erwartung durchdrang ihren Körper. Fast konnte sie fühlen, wie die sehnigen Hände eines dunkelhäutigen Latinos ihre Nackenwirbel massierten und von dort Stück für Stück immer weiter nach unten glitten. Kurz dachte sie an ihren Mann. Seit Jahren war Sex mit ihm nichts weiter als eine Pflichtübung, wahrscheinlich für beide.
Sicher ergänzte ihr Gatte sein sexuelles Menu ausser Haus. Gelegenheit dazu hatte er ja reichlich. Sie war oft auf Reisen, er übrigens auch. Früher hatte er noch versucht sie zum Sex zu animieren, aber sie war in Gedanken immer bei der Firma gewesen. Er war sogar so weit gegangen von ihr ein Kind zu fordern. Das hatte einen scheidungswürdigen Streit ausgelöst, aber die gemeinsame luxuriöse Eigentumswohnung, die Strandvilla in Spanien und viele andere geteilte Interessen hatten bis jetzt verhindert die logische Konsequenz zu ziehen. Ausserdem, zugegeben, ihr Mann sah sehr gut aus und er war ein standesgemässer Begleiter auf Firmenparties. Die oft nur mühsam verhehlten, neidischen Blicke ihrer, zum Teil jüngeren Kolleginnen, pflegte sie mit einem spöttischem Lächeln zu quitttieren.
Sie stand auf, ging zum edelholzverkleideten Kühlschrank und schenkte sich einen Cognac ein.
Das Blatt in ihrer Hand zuckte im Takt ihres Herzschlags. Outsourcing, dachte sie, gab sich einen Ruck, nahm den Telefonhörer und wählte mit schweissnassen Fingern.
"Bueno!" antwortete fast augenblicklich eine tiefe Männerstimme, genau wie sie es sich vorgestellt hatte.
"Sprechen sie englisch"
"Ja. Was kann ich für sie tun?"
"Ich möchte eine Massage."
"Aha".
"Ja, und ein bischen mehr. Um es genauer zu sagen, ich brauche einen Mann. Verstehen Sie? Ich möchte Sex. Ich brauche einen feurigen jungen Mann, gross, dunkelhäutig, kräftig und gut aussehend," keuchte Frau Dr. Maiden erregt und zugleich erschrocken über ihre deutliche Ausdrucksweise.
"Klingt fantastisch, aber..."
"Aber was?"
"Da wäre noch etwas zu klären, Sie...."
"Keine Sorge...! "
"Ich mache mir keine Sorgen. Ich wollte Ihnen nur..."
"Ok, ich weiss schon. Was verlangen Sie für eine Session?"
"Señora, ich wollte ihnen nur erklären, dass Sie eine Null voraus wählen müssen, wenn Sie einen Anruf ausserhalb des Hotels tätigen wollen".