Veröffentlicht: 16.09.2022. Rubrik: Lustiges
Gedichtinterpretation: „Alle meine Entchen“
Da Gedichtinterpretationen der Schrecken vieler Schüler*innen sind, soll hier anhand eines Beispiels aufgezeigt werden, worauf dabei zu achten ist (auch hinsichtlich des Stils – nicht „ich meine, dass“, sondern „es wird vermutet, dass“). Aus Platzgründen beschränkt sich dieser Aufsatz größtenteils auf den Inhalt, jedoch sei darauf hingewiesen, dass bei vielen Interpretationen auch eine Betrachtung der Form verlangt wird.
Alle meine Entchen
|: schwimmen auf dem See, :|
Köpfchen in das Wasser,
Schwänzchen in die Höh.
Dieses alte Kinderlied, von dem weder der Verfasser noch der Komponist bekannt sind, besteht aus einem einzigen Satz. Er wird von einem Sprecher geäußert, mit dem sich das Kind, welches das Lied singt, identifiziert.
Das Pronomen meine dient hier nicht zur Angabe eines Besitzverhältnisses (die Wasservögel gehören dem Kind nicht), sondern drückt die emotionale Beziehung des Kindes zu den Enten aus. Das Gleiche gilt für die Diminutivformen Entchen, Köpfchen, Schwänzchen. Sie beziehen sich nicht auf Kleinheit; diese wäre bei Enten nicht erwähnenswert, da die meisten von Natur aus klein sind. Vielmehr signalisieren sie Zärtlichkeit.
Nachdem die zweite Zeile das Schwimmen der Enten erwähnt hat, wäre zu erwarten gewesen, dass die letzten beiden Zeilen näher darauf eingehen. Jedoch beschreiben diese genaugenommen nicht das Schwimmen, sondern das Gründeln.
Der Aufbau der vierzeiligen Strophe ist daher ambivalent. Je nachdem, ob das Gründeln als eine Variante des Schwimmens oder als eigenständiges Verhalten aufgefasst wird, handelt es sich bei Zeile 3-4 entweder um eine Erweiterung der Aussage in Zeile 2 oder um eine neue, an Zeile 2 anschließende Thematik (um gründeln zu können, müssen die Enten zuerst auf den See hinausschwimmen).
Obwohl die Melodie des Liedes hier nicht Thema ist, sei abschließend auf eine Problematik im Zusammenhang mit dieser verwiesen. Der Ton der letzten Silbe, Höh, liegt tiefer als die vorhergehenden. Hierbei handelt es sich um einen Widerspruch zwischen Text und Melodie, der die Beliebtheit des Kinderliedes jedoch nicht hat schmälern können, zumal er kaum einem Kind jemals aufgefallen sein dürfte.