Veröffentlicht: 22.08.2022. Rubrik: Menschliches
Merles Albtraum
Schon seit Monaten fürchtete die zehnjährige Merle sich vor dem Zubettgehen, denn mindestens zweimal wöchentlich durchlebte sie kurz nach dem Einschlafen einen Albtraum. Es war immer derselbe. Wenn sie daraus hochgeschreckt war, konnte sie anschließend zwar schnell wieder ein- und gut durchschlafen. Es gelang ihr jedoch nicht, den Albtraum als solchen zu erkennen oder ihn gar von vornherein zu vermeiden. Ihre Eltern und der Hausarzt waren ratlos.
Schließlich erfuhr Merles Mutter, dass sich in der Nachbarstadt eine Psychologin niedergelassen hatte, Frau Dr. Bergmann, die auf Albträume spezialisiert war. Ihre Arbeitsweise bestand darin, deren Ursprung herauszufinden. War dies gelungen, verschwanden sie in der Regel.
Schon jetzt sei verraten, dass auch Merle geheilt wurde, nachdem Frau Dr. Bergmann ihr gesagt hatte, was sie für den Grund der Träume hielt.
Zunächst aber hatte Merles Mutter die Psychologin allein aufgesucht und ihr von dem Albtraum berichtet, der ihre Tochter immer wieder quälte:
„Merle sagt, dass eine riesige Katze – dreimal so groß wie sie – auf sie zuspringt und sie fressen will. Wenn sie den ersten Biss der Katze spürt, wacht sie schweißgebadet auf.“
„Hat sie diesen Traum seit einem bestimmten Erlebnis?“, fragte Frau Dr. Bergmann.
Merles Mutter überlegte. „Nicht dass ich wüsste. Irgendwann begann es einfach. Ich glaube, nachdem wir aus den Sommerferien zurückgekehrt waren. Die waren aber ganz harmonisch verlaufen.“
Frau Dr. Bergmann wusste bereits, dass Merle ein Einzelkind war. „Sie und Ihr Mann waren mit Merle in den Sommerferien? Wo?“
„In Frankreich. Auf einem Bauernhof. Schon zum dritten Mal.“
Die Psychologin horchte auf. „Kann Merle Französisch?“, fragte sie.
„In der Schule hatte sie es noch nicht. Aber die Leute auf dem Bauernhof versteht sie gut und kann auch selber schon mit ihnen reden.“
„Auf einem Bauernhof“, sagte Frau Dr. Bergmann, „gibt es Katzen. Und Katzen fressen unter anderem auch Vögel –“
„Jetzt fällt mir etwas ein!“, rief Merles Mutter. „Als wir da waren, erzählte uns die Bauersfrau, dass eine ihrer Katzen zwei junge Amseln gefressen hatte. Wir haben Merle erklärt, dass dies in der Natur nun einmal so ist und dass die Katze es nicht aus Bosheit getan hat, sondern weil sie Hunger hatte. Das schien Merle auch verstanden zu haben.“
„Der Verstand“, erwiderte die Psychologin, „ist das eine. Das Unterbewusstsein das andere. Ich bin sicher, dass diese Sache mit den Amseln die Ursache für den immer wiederkehrenden Albtraum ist. Zwar ist es Ihnen und Ihrem Mann wahrscheinlich nicht aufgefallen, als Sie der Bauersfrau zuhörten – aber das französische Wort für Amsel ist merle.“
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