Veröffentlicht: 12.08.2022. Rubrik: Fantastisches
Falscher Zauber
Die Tür schlug auf und ein Mann trat in die Halle. Seine Schritte klangen hohl von den Wänden wieder.
Bis auf zwei Throne war die Halle leer. Auf dem einen davon saß ein Mann, auf dem anderen eine Frau. Beide von ihnen trugen lange rote Umhänge und ihre Gesichter waren bunt geschminkt. Sie schenkten dem Neuankömmling keine Aufmerksamkeit. Erst als er vorgetreten war und sich verneigte, hob der Mann auf dem Thron eine Augenbraue.
»Eine wundervolle Nacht, die Herrschaften«, sagte der Fremde. »Mein Name ist Midan Redanis. Ich bin …«
»Der Entertainer! Das wurde aber auch Zeit.«
»Er sieht nicht sehr entertainend aus«, murmelte die Frau. Ihr Gesicht war so ausdruckslos wie eine Maske.
Der Mann schmunzelte. »Wir können ihm doch zumindest eine Chance geben, nicht wahr, Liebling?«
Sie seufzte.
»Dann fang an, wie-auch-immer-dein-Name-war.« Der Herr klatschte in die Hände.
»Oh, äh, ja, natürlich. Für den Anfang hätte ich ein Rätsel für euch.«
Die Frau knurrte. »Ist das sein Ernst?«
»Vielleicht wird es besser, als es klingt. Fang an.«
»N-natürlich.« Midan räusperte sich. »Also, aus wie vielen Tropfen Wasser besteht das Meer?«
Der Mann runzelte die Stirn. »Es ist Wasser, aber mir wäre neu, dass das Meer die Form von einem Tropfen hat.«
»Es hat überhaupt keine Form«, murmelte die Frau.
»Genau. Es ist unendlich groß, also ist es höchstens eine … verbeulte Ebene. Das ist unsere Antwort. Null.« Der Mann sah Midan erwartungsvoll an.
»Ich … also, äh, ja, das ist richtig.«
»Perfekt. Nächste Frage.«
»… Wie lange ist die Ewigkeit?«
Der Mann grinste. »Na, in den meisten Fällen ist der Tod eine Ewigkeit.«
»Oder unsere Liebe«, fügte die Frau an.
»Oder wir.«
»Oder sie ist acht Buchstaben lang.«
»Ich nehme an, das ist sie, Liebling. Hast du noch ein schwereres Rätsel, Rätseltyp?«
»Muss das sein?«, fragte die Frau.
»Hmm … tja.« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Sag mal, kannst du auch noch etwas Anderes, als dir dumme Rätsel ausdenken? Singen vielleicht? Tanzen?«
»Oh, bitte nicht.« Die Frau schlug sich die Hände vors Gesicht und sank tiefer in ihrem Thron.
Midan lief bei dem Blick, den sie ihm zwischen ihren Händen zuwarf, ein kalter Schauer den Nacken hinab.
Doch der Mann lächelte. »Eine Antwort, wenn ich bitten darf.«
Midan schluckte seine Sorgen zusammen mit dem Kloß in seinem Hals herunter. »I-ich schätze, ich bin in der Kunst bewandert, aber …«
»Ausgezeichnet!« Der Mann klatschte in die Hände.
Eine Tür rechts von den Thronen öffnete sich und ein alter Mann humpelte aus ihr hervor. Er wurde gefolgt von einem anderen, jüngeren Mann, der eine Holzkiste trug.
Der Junge stellte die Kiste zu Boden ab, drehte sich um und verschwand wieder, während der Alte darauf Platz nahm.
Unter seiner Robe zog der Alte ein Akkordeon hervor.
Noch einmal klatschte der Mann auf dem Thron in die Hände. »Los!«
»I-in einem Land, vor gar nicht allzu langer Zeit, da herrschte Harmonie und Einigkeit und an der Spitze dieses Reiches war, eine tolle Frau mit noch viel tollerem Haar.«
Er konnte sehen, wie die Frau unter ihrem Umhang langsam ein Messer hervorzog. Der Mann hatte lächelnd den Kopf auf eine Hand gestützt und sah Midan zu.
Dicke Schweißtropfen liefen über Midans Stirn. »Wie die Illiakos, blüht auch sie so wunderschön, diesen Anblick hat man gern gese… äh, h-hohe Lady?«
Ohne ein Wort zu sagen, stand die Frau auf und stampfte zu dem Akkordeonspieler hinüber. Sie trat die Kiste unter ihm weg und der Alte krachte mit einem Quietschen auf die Erde. Mit Schwung schleuderte sie das Instrument durch die Halle.
Der Mann sah ihr lächelnd dabei zu.
Ihr Gesicht war noch immer ausdruckslos, doch in ihren Augen konnte Midan einen ungebändigten Hass ausmachen. Und mit diesem Hass wandte sie sich ihm zu.
Er schluckte Speichel herunter und schielte in Richtung Ausgang, während die Frau sich ihm näherte. In ihrer Hand hielt sie das Messer.
»Hast du deinen Spaß, Liebling?«
Sie drehte sich zu dem Mann um. Von einem auf den nächsten Moment verschwand der Hass aus ihrem Blick und etwas Anderes funkelte in ihren Augen auf. Dann sah sie zu Midan zurück. »Nicht wirklich«, murmelte sie und ließ das Messer verschwinden. »Aber jetzt ist es immerhin wieder erträglich.«
Der Mann nickte. »Und was denkst du, was wir jetzt mit ihm anstellen sollen?«
»W-was?« Seine Worte trafen Midan wie ein Backstein ins Gesicht.
Sie setzte sich auf den Thron zurück und seufzte. »Er ist so fade, dass ich mir nicht denken kann, dass er nach irgendetwas schmeckt.«
»Köpfen, Aufknöpfen, Pfählen, Filetieren, Steinigen, ich bin mir nicht sicher, ob irgendetwas davon diesem Trauerspiel gerecht werden würde.«
»Aber irgendeine Strafe hat er verdient.«
»Da bin ich ganz bei dir.« Der Mann kratzte sich sein Kinn und tippte mit der anderen Hand auf seiner Thronlehne herum. »Wie wäre es, wenn ich dir ein Rätsel stelle? Ja, ich denke, das klingt in Ordnung.«
»A-aber …«
Die Frau stöhnte und hob sich erneut aus ihrem Thron – Midan zuckte zusammen. »Gut, Liebling«, murmelte sie. »Tu das. Aber ich denke, ich werde mich für heute zurückziehen.«
»Jetzt schon?« Er lächelte. »Na, dann. Wir sehen uns dann später, mein Schatz.«
»Dir noch viel Spaß.« Sie trottete an Midan vorbei und verschwand durch eine Tür im Rest des Schlosses.
»Wir waren bei der Frage stehen geblieben«, sagte der Mann. »Also gut. Hier kommt sie. Wie spät ist es gerade?«
Midan schluckte. »M-meint Ihr das ernst, mein Herr?«
»Ja. Örtliche Uhrzeit, dieser Augenblick. Auf die Minute. Brauchst du eine Uhr?« Er kramte in seinem Umhang herum und warf Midan eine Taschenuhr hinüber. Es war eine golden verzierte Uhr, aber die Zeiger …
… die drehten sich so schnell, dass er die Augen zusammenkneifen musste, um den schnellsten davon überhaupt wahrnehmen zu können.
Er sah vom Zifferblatt auf in das schmunzelnde Gesicht des Mannes und wieder zurück.
»V-v-vierundzwanzig Uhr dreißig? Ich habe keine Ahnung … Ich gebe auf! E-es tut mir leid! Bitte vergebt mir, mein Herr!«
»Hm.« Der Mann auf dem Thron sah ein wenig enttäuscht aus. »Das ist falsch.« Er zog noch eine Uhr aus seinem Umhang hervor. »Es ist dreiundsiebzig Uhr und vierzehn … neunzehn … vierundzwanzig Minuten. Du brauchst wohl noch etwas Übung. Du kannst die Uhr behalten.« Als Nächstes zog der Mann einen Notizblock und Stift unter seinem Umhang hervor und schrieb etwas auf.
»U-und was habt Ihr jetzt mit mir vor?«, fragte Midan nach einem Moment der Stille.
Der Mann sah von seinem Block auf. »Was? Du kannst gehen. Habe ich das nicht gesagt?«
»Aber…?«
»Du hast deine Bestrafung bekommen. Nutzerrezension. Schön zu sehen, dass mein Zeitsystem so gut ankommt. Oder …« – er tippte mit dem Stift an seine Wange – »… willst du, dass meine Gemahlin sich noch eine Strafe für dich aussucht? Sie ist wirklich gut darin.«
»Nein!«
»Gut. Dann auf Wiedersehen.« Er hob eine Hand und winkte, ohne dabei von dem Block aufzusehen.
»I-ich glaube, ich passe da lieber«, flüsterte Midan in sich hinein, als er die Tür hinter sich schloss.