Veröffentlicht: 26.07.2015. Rubrik: Persönliches
Die Kinder vom Herrn Pastor.
Diese Episode aus Kindertagen spielt sich ab, um die Dorfkirche herum, dem alten Kirchhof sowie in Herrn Pastors Pfarrhaus und dessen verwunschenem Garten. Stutchen, Ditta und Gudrun hiessen die drei Pfarrerstöchter, mit denen ich immer sehr gerne spielte. Wir waren etwa im gleichen Alter, nur Stutchen, die Älteste von den Dreien, ging schon in die zweite Klasse der Grundschule. Stutchen war vom Wuchs her vielleicht etwas zu gross geraten für ihr Alter. Sie trug ihr langes helles Haar gescheitelt und zu Zöpfen geflochten, die sie ständig mit der Hand zurück über die Schultern warf. Ditta war die Mittlere, etwas pummelig von Gestalt. Manchmal wurde sie auch Schnutchen gerufen, denn sie war immer wieder damit beschäftigt, mit ihrem Mund lustige Grimassen auf ihr Gesicht zu legen. Gudrun war die jüngste und sie gefiel mir einfach am besten. Diese drei Mädchen waren immer richtig schön anzusehen. Sie trugen ausgewählte Kleider, weisse Söckchen und auch immer schönes Schuhwerk. Der Kirchhof, ein grösserer Rasenplatz unmittelbar neben der Kirche gelegen, war für jedermann zugänglich. Es gab dort einige wenige sehr alte Grabsteine aus längst vergangenen Tagen. Efeuranken hatten diese altehrwürdigen Relikte erobert, sodass kaum etwas von den Inschriften oder Verzierungen zu sehen war. Die Mitte dieses Platzes zierte ein Monument aus hellem Sandstein, auf dem ein Engel mit gesenktem Haupt kniete. Das Fundament bildeten zwei stufenförmig gesetzte Steinplatten, eine willkommene Sitzgelegenheit.
Hier sass ich sehr oft, mit dem Gedanken, dass endlich die Pastormädchen aus dem Haus kämen. Meistens hatten sie dann einen schönen Ball bei sich oder gar ein Springseil. Die Rückseite des Engelsmonumentes diente als Wand, an der wir immer gerne die "Zehnerprobe" machten. Ein Ballspiel, bei dem man seine Kunst der schnellen Körperbewegungen beweisen sollte. Während der Ball an die Wand geworfen wurde, musste man sich um die eigene Achse drehen, um dann den Ball wieder fangen zu können. Diese kleinen Kunststücke mussten aber jedes weitere Mal mit einer Steigerung absolviert werden. Wer den Ball dabei nicht mehr auffangen konnte, war raus aus der Runde und musste warten. Wer erst mal aus der Runde ausgeschieden war, dem wurde es schnell langweilig. Herr Pastor hielt sich auch ein Schwein auf seinem Anwesen. Zur Fütterung wurden in einem Waschkessel minderwertige Kartoffeln gedämpft, die dann mit anderen Zusätzen dem Tier in den Futtertrog gegeben wurden. Wenn der Duft von diesen gedämpften Kartoffeln in der Luft lag, dann war ich es, der liebend gerne auf dem Pfarrhof verstecken spielen wollte. Ja, ja, riefen alle wie im Chor, und wir rannten zum Hof. Einer wurde ausgewählt, und musste mit dem Gesicht zur Wand laut einen Zählreim aufsagen, während die anderen sich eiligst ein Versteck suchen mussten. Ich hatte mein Versteck immer schon ausgemacht, es war die Waschküche, aus der dieser verführerische Duft kam. Die Kartoffeln waren noch warm und die Schale störte mich nicht. Es war etwas ganz anderes, als wenn es zu hause eine Scheibe Brot mit Rübensaft gab. Diesen Brotaufstrich hatten wir reichlich in Steintöpfen, aber trotzdem musste ich ständig darauf aufpassen, denn sonst lief das klebrige Zeug an den Händen herunter bis in den Ärmel. Das Versteckspiel auf dem Pfarrhof war mir gar nicht so wichtig, es waren vielmehr die duftenden Schweinekartoffeln.
Mitunter spielten wir auch mal auf der zum Garten hin offenen Veranda. Hier war eine Schaukel angebracht, mit der man wahrhaftige Höhenflüge machen konnte, es war für mich wie ein Paradies. Irgendjemand versuchte sich immer an dem Klavier, was dort stand. Es war hier zweifelsfrei nicht der richtige Standort für dieses Instrument, denn die Witterungseinflüsse hatten sich im laufe der Zeit nachteilig ausgewirkt. Schon damals konnte ich hören, dass die vergilbten Tasten nicht mehr die richtigen Töne auslösten. Ich überredete die Mädchen gerne dazu, im Garten etwas die Pflanzen, das gesamte Grün, mit dem angesammelten Wasser in den Regentonnen zu giessen. In diesem Garten konnte man vom Rhabarber ein Stück abbrechen und herzhaft hineinbeissen, Sauerkirschen und restliche Erdbeeren pflücken. Hier war es etwas ganz anderes,... als mit den Eltern auf dem eigenen Stück Erwerbsland Unkraut jäten zu müssen. Wie gerne hätte ich mal ein Lob erfahren, wenn ich als Knirps über den Boden kroch, um zwischen den Rüben das unerwünschte Grünzeug zu entfernen. Zu bestimmter Zeit stand die Pfarrersfrau auf der Steintreppe vor dem Haus und rief über den Hof, dass die Mädchen ins Haus kommen sollten, es war Kaffeezeit. Ich hörte es mit Freude, als Frau Pastor noch hinzu fügte, ...und der Junge soll auch mitkommen. Obwohl ich mich im Moment gefreut hatte, so beschlich mich gleichzeitig ein leichtes Unbehagen. Was wäre wohl, ...wenn jetzt der Herr Pastor selber auch anwesend sein würde?
Ich kannte ihn ja nur vom Ansehen, wenn er in seinem schwarzen Talar am Sonntag in der Kirche die Predigt hielt. Sollte ich jetzt mit zerschundenen Knien, mit ramponierten Schuhen, die auch noch mit verschiedenfarbigen Schnürbändern versehen waren,...in solch einem Aufzug vor den Herrn Pastor treten? Ich trottete den Mädchen hinterher. Beim Betreten der gräumigen Diele schlug mir sogleich ein ganz anderer Geruch entgegen, als ich es von unserem Treppenhaus gewohnt war. Hier roch es nicht nach Scheuerlappen und Schmierseife. Komm nur herein und setz dich, sagte die Frau Pastor in einem sehr freundlichen Tonfall, ...und sie hatte ein so schönes Lächeln im Gesicht. Ich machte einen Diener und sagte ordentlich Guten Tag. Ich spürte förmlich, wie ich von den Mädchen beobachtet wurde, ich sah, wie sie sich mit dem Ellenbogen anstupsten. Allmählich verlor ich meine Scheu, denn Herr Pastor trat nicht in Erscheinung. Dennoch war ich nur in der Lage, wenn Frau Pastor mich etwas fragte, meine Antworten lediglich mit bejahenden oder verneindenden Kopfbewegungen zu gestalten.
Jedes der Kinder hatte eine Tasse Kakao vor sich stehen. So etwas gab es wohl nur im Pastorenhaus, dachte ich mir. Irgendwann trug es sich zu, dass ich wieder auf den Stufen des Monumentes vom Kirchhof saß, aber die Pastorenkinder kamen nicht zum spielen. Auch der Duft von frisch gedämpften Kartoffeln verbreitete sich nicht mehr.
Von meinen Eltern hörte ich, dass der Pfarrer mit seiner Familie für immer verreist war. So etwas verstand ich erst viele Jahre später, wenn Familien die russisch besetzte Zone verliessen, und in den freien Westen gegangen waren.