Veröffentlicht: 26.07.2015. Rubrik: Persönliches
Kindheitserinnerung
Am Teich 13, das ist die Hausnummer, wo wir damals wohnten, wo wir nach der Evakuierung aus Dessau einquartiert wurden. Nicht immer zur Freude der ansässigen Dorfbevölkerung und Hofbesitzer - aber davon zu einem späteren Zeitpunkt mehr. Es ist der Mittelpunkt des Ortes, wo sich ein kleiner Teich befindet, der Pferdeteich. In diesem Teich liessen die Bauern ihren Pferden nach dem schweren Tagwerk eine verdiente Abkühlung zukommen. Die Pferde wurden von der Deichsel gelöst und an den Zügeln gehalten, durch das Wasser geführt. Es ist das Jahr 1947, ich war gerade im Alter von 5 Jahren und die Rückbesinnung an diese Zeit ist mir heute noch sehr gegenwärtig. Es sind nicht nur wohltuende, angenehme Erlebnisse aus dem täglichen Geschehen. Es soll angemerkt sein, dass uns Kindern zu dieser Zeit keinesfalls Erziehung und Wohlgesinnung von einem Hauslehrer angediehen war. Würde man unsere damalige Situation mit den "Heiden von Kummerow" vergleichen, deren Treiben und Spässe in erzählerischer Form allgemein bekannt sein dürften, dann würde ich diese Kinder als wahre Engelsgeschöpfe bezeichnen. Hätte man uns Kinder in dieser Art benannt, so wäre es mit Sicherheit eine Versündigung vor dem Herrn gewesen. Es war keine Seltenheit, dass mitunter mal Neid und Sympathie untereinader an der Tagesordnung waren. Zeigte eines der Kinder mal mit Freude sein neues Schuhwerk, welches die Eltern über einen Berechtigungsschein erstanden hatten, sogleich schlugen ihm Missgunst und Abneigung entgegen. Dabei war es absolut nicht angebracht, solch einem Schuhwerk besondere Beachtung zukommen zu lassen. Solche Schuhe bestanden aus einer derben Holzsohle, während der Rest aus steifem Textilgewebe auf der Holzsohle aufgenagelt war. Der Leser soll bedenken, dass man sich zu dieser Zeit in der wirtschaftlich benachteiligten russischen Zone befand. Die Öffnungen für das Schnürband waren nach kurzer Zeit ausgefranst und unbrauchbar. Es war jedoch Sommer, und somit nervte man die Eltern nicht, dass man selber auch solche Schuhe besitzen wollte. Danach kam eine andere Neuheit in den einzigen Kolonialwarenladen des Dorfes, es waren Igelitschuhe. Es war ein gummiähnliches Material mit einem chemischen Zusatz. Wenn man die nassen Füsse mal ausser acht lässt, die man beim tragen bekam - im Winter war es die reine Freude, mit diesen Schuhen über die angelegte Schlitterbahn zu rutschen. Wer im Besitz solcher Schuhe war, der wurde beneidet, denn er wurde immer Sieger, wenn es um die Wette ging, wer am weitesten schlittern konnte. Die Füsse selber spürte man kaum noch, es waren Eisklötze, denn wärmen konnten diese Schuhe nicht. Man befindet sich jedoch jetzt noch im Sommer. Unser Tag begann amTeich und endete abends auch dort, bis nach und nach einer der Rabauken ins Haus gerufen wurde. Der Sommer am Teich war unser Leben, wir liefen barfuss, und es bot sich an, dass man vom Rand so weit wie möglich ins Wasser hinein watete. Wer sich dann sehr weit vorgewagt hatte, der rief dann... "wer kann auch bis hier? Die Grösseren waren den Kleineren gegenüber im Vorteil, denn sie konnten immer bis zu den tieferen Stellen gehen. Wer von einem anderen angerempelt wurde, sodass man kein Gleichgewicht mehr halten konnte, der ging mit nassen Hosen nach hause und was es dann gab, das lässt sich wohl gut denken. War die Hose am nächsten Tag noch nicht getrocknet, so hatte man das Nachsehen, denn eine zweite Hose gab es nicht. An besonders warmen Sommertagen trugen einige einen Waschtrog zum Teich, um darin auf dem Teich zu paddeln. Es war eine wackelige Angelegenheit in solch einem Gefährt die Balance zu behalten, sodass die übrigen Jungen am Geländer dem Treiben zusahen, und insgeheim nur darauf warteten, dass solch ein Waschzuber seinen Kapitän ins Wasser entliess. An einem schönen Vormittag wartete ich schon darauf, dass sich bald jemand zu mir gesellte. Einstweilen balancierte ich innerhalb des eisernen Geländers entlang, verlor den Halt und fiel mit fürchterlichem Schrecken ins Wasser. Ich brüllte so laut wie ich konnte, strampelte mit Armen und Beinen wild umher und gelangte so zu einer flachen Stelle im Teich, sodass ich Boden unter den Füssen spürte. Ich krabbelte auf die angrenzende Wiese und und blieb erst mal still sitzen. Schon gingen mir die Gedanken durch den Kopf, was es nun im Anschluss geben würde. Ich trottete mit den nassen Sachen nach Hause. Vor einem Wirtschaftsgebäude auf dem Hof gab es eine Steintreppe, da wollte ich erst mal meine Sachen von der Sonne trocknen lassen, doch das ging nicht so schnell. Meine Mutter entdeckte mich, und ich bekam obendrein noch eine heftige Tracht Prügel. Ausserdem wusste ich jetzt, wie das Wasser vom Teich mit seinen grünen Algen schmeckt. Seit diesem Tag hatte ich keine Lust mehr auf Mutproben am Teichgeländer. In einem anderen Haus am Teich wohnten ebenfalls Leute, die dort eine spartanische Unterkunft hatten und deren Leben wirklich in ärmlichen Verhältnissen verlief. Mit den beiden Mädchen dieser Familie spielte ich recht gerne - sie hatten auch einen Namen, den ich an dieser Stelle aber nicht erwähnen möchte. So lernte ich auch deren Räumlichkeiten kennen, wobei man leicht den Unterschied sehen konnte. Ich hörte von meinen Eltern immer wieder, dass ich keinen Kontakt mit diesen Leuten halten sollte. Ein paar Tage später musste ich wahrhaben, warum ich diese Leute meiden sollte. Wir hatten mal wieder in dieser Wohnung herumgetollt, und als ich nach Hause kam, da bemerkte meine Mutter, dass ich mich sehr oft am Kopf kratzte - ich hatte Läuse. Ich erwähnte schon, dass unsere Familie evakuiert wurde, weil in Dessau die Junkers Flugzeugwerke ansässig waren, und deshalb die Stadt ein Ziel der Bomben war. Wir wurden also auf diesen ehemaligen Bauernhof am Teich 13 eingewiesen. Die Stallgebäude waren wohl längst nicht mehr in Gebrauch, von denen es zahlreiche auf diesem Anwesen gab. Die Dächer hatten bereits unübersehbare Schäden vorzuweisen, welche die Folge von Wind und Wetter waren.Das Wohnhaus bot jedoch einen sehr passablen Anblick - ja man konnte es schon herrschaftlich nennen. Die Eigentümer waren zwei Schwestern im vorgerückten Alter, die nicht verheiratet waren. Eine der beiden Damen war mir persönlich sehr angenehm in ihrer Art. Es war eine schlanke Frau mit einem freundlichen Gesicht das eine lustige Brille zierte. Sie war in ihrem Wesen sehr scheu und zurückhaltend, und sie ging jeder Begegnung aus dem Wege. Dennoch ging ich immer zum Monatsbeginn gerne die Treppen hinunter, mit dem Mietquittungsbuch in der Hand, um Fräulein Schiele zu begegnen. Ich klopfte an die Tür, hinter der sich eine riesengrosse Küche befand. Die Tür wurde zu meinem Leidwesen immer nur einen
Spalt weit geöffnet, wo ich doch so gerne mal einen Blick hineingeworfen hätte. Durch diesen schmalen Spalt kam mir immer ein Duft entgegen, dass ich dachte, hier wird immer gutes Essen zubereitet. Da man auch in diesem Haus zwangsläufig zusammenrücken musste, wird diese Küche wohl auch Wohnraum der beiden Schwestern gewesen sein. Ob Fräulein Schiele mich kleinen Knirps vielleicht gut leiden konnte? In dieser Eingangshalle, die mit rotem Sandstein ausgelegt war, stand ein kleiner Tisch mit sehr schönen Intarsien. Auf diesem Tisch war jedes mal das Quittungsbuch abgelegt und darauf lag ein Apfel. Bald darauf hatte ich wieder mal eine Begegnung mit Fräulein Schiele. Ich hatte den Auftrag bekommen, unseren Karnickeln, die in einem der Stallgebäude
im hinteren Teil des Anwesens untergebracht waren, mit Futter zu versorgen. Hier gab es eine Rasenfläche, wo Fräulein Schiele eine Gänseschaar hielt, mit zahlreichen kleinen putzigen Gösseln im gelben Flaum. Ich machte mich am Vorhängeschloss der Stalltür zu schaffen, als plötzlich der Ganter, der Gänsevater, mit aufgestellten Flügeln und fürchterlichem Geräuschen auf mich zugestürtzt kam. Das Geschrei der aufgebrachten Gänseltern sowie mein verzweifeltes rufen... "geh weg, geh weg! ...hatte Fräulein Schiele alarmiert. Diese kam schnellen Schrittes aus dem hinteren Ausgang zu dem Geschehen hinzu und verwies ihre Gänse hinter den Zaun. Sie muss wohl mitbekommen haben, dass ich mit dem Mechanismus des Vorhängeschlosses nicht zurecht kam und sagte... "na lass mich das mal machen." Sie war mit verschlossenen Türen offenbar vertraut, ich wusste auch, dass sie immer einen grossen Schlüsselbund mit sich führte. Im oberen Stockwerk des Hause war noch eine weitere Familie etabliert worden, die aus dem Sudetenland kamen. Was ursprünglich eine Wohnung war, musste jetzt zwei Mietparteien dienen. Diese Familie brachte selbstverständlich ihre Essgwohnheiten aus der Tschechoslowakei mit und je nach Verfügbarkeit, meistens aber nicht, roch es schon mal bis auf den Flur nach gefüllten Pflaumentatschkerln. Das war ein herrlicher Duft, der mir bis zum heutigen Tag noch gut erinnerlich ist. Eines Tages hatte diese
Frau wieder einmal dieses Gericht zubereitet, und hatte den Topf mit dem herrlichen Inhalt zum abkühlen hinaus auf den Flur gestellt. Der kalte Steinboden sollte den Vorgang beschleunigen. Ich schlich mehrmals an diesem Topf vorbei, und horchte im Haus ob es Geräusche in der Nähe gab. Es waren keine Geräusche zu vernehmen und es war jetzt ein Powideltatschkerl weniger in dem Topf. Es wurde Winter, das Dorf war verschneit, der Teich war zugefroren. Wer Schlittschuhe hatte, der schraubte sie unter die Schuhe und ging auf das Eis. Ich hatte so etwas leider nicht. Irgendwie wollte ich aber auch dabei sein, und kam auf die Idee mit den Fassbrettern, die mir als Ski dienen sollten. Obwohl ich
wusste, dass die Dauben eines Fasses gewölbt sind, hat es mich nicht abgehalten. Irgendwo musste doch ein altes Holzfass zu finden sein. Ich suchte sämtliche Gebäude an den Regenrinnen danach ab und fand auch was ich suchte. Es gelang mir auch diese Bretter an einem Ende in eine spitze Form zu bringen, sodass es schon mit Skiern etwas gemein hatte, bis auf die Wölbung. Zwei Lederriemen waren schnell zugeschnitten und in der Mitte der Fassbretter befestigt, sodass ich mit dem Schuh darin Halt bekam. Auf Skistöcke wollte ich gerne verzichten, denn ausser einer Zaunlatte hätte ich keine Auswahl gehabt. Das wiederum hat mich schon gedanklich davon abgehalten, weil es ganz sicher kein schönes Bild abgeben würde. Also musste ich es im Freistil packen. So stackste ich dann wie der Rabe Knickebein mit meinen Fassbrettern über den Hof, hinaus ins Freie zum Teichplatz. Unterhalb der Kirche war eine kurze Anhöhe, wo wir unsere Schlitterbahn angelegt hatten. Die anderen Kinder fuhren mit ihren Schlitten die kurze Strecke, und alle anderen Herumstehenden lenkten ihre Blicke auf mich und die Fassbretter. Voller Gewissheit dass es klappen würde, begab ich mich in Startposition und stolperte dann mehr oder weniger den kleinen Hügel hinunter. Von einem gleiten der Bretter im Schnee unter meinen Füssen, war nichts zu spüren. Das Ende war eine glatte Bauchlandung wobei meine
Eigenkonstruktion sich selbstständig machte. Es gab ein schallendes Gelächter der Umstehenden, worauf ich meine Bretter einsammelte
und unspektakulär und ausgelacht den Ort des Geschehens verliess.
Die kalten Wintertage waren eigentlich nie ein grosser Anlass, sich draussen im Freien aufzuhalten. In der Wohnküche war es mollig warm, so stand ich oft lange am Fenster um draussen den Spatzen zuzusehen, wie sie mühsam nach Futter suchten. Eine gern gesehene Abwechslung war es dann an solchen Tagen, wenn meine Mutter mir den Auftrag gab, zum Krämerladen zu gehen. Sie drückte mir einen kleinen Zettel in die Hand, worauf geschrieben stand, was ich zu besorgen hatte. Beim öffnen der Ladentür erklang ein ungestümes Glockenschellen, ein Zeichen für die Krämersfrau - es ist Kundschaft im Laden. Dann konnte man derbe Schritte auf den Holzdielen vernehmen, und ein überfreundliches "schönen guten Tag" flötete mir entgegen. Ich reichte meinen Zettel zusammen mit der Einkaufstasche über den hohen Ladentisch und eifrig wurden meine Kommissionen hergerichtet. Es war immer wieder interessant, zuzusehen, wie die Butter sehr sorgfältig aus einem grossen Behälter entnommen wurde, um dann sehr genau auf der Waage das Gewicht einzupendeln. Es kam die Zeit der Einschulung. Die Kinder wurden der Rektorin vorgestellt, die dann prüfen sollte, ob eine Schulreife vorhanden ist. Meine Mutter hatte mich herausgeputzt, die Haare wurden nass gemacht und ein sehr korrekter Scheitel wurde gezogen. Da sassen wir alle wieder auf dem Flur der Schule, der eine wurde vom Vater begleitet, der andere wiederum von der Mutter oder beide Eltern waren mit dabei. Die Reihe war an mir, wir traten in das Rektorenzimmer ein. Am Schreibtisch sass eine Dame mit strenger Frisur und mit fast steinernem Gesicht. Es wurden ein paar Würfel auf dem Tisch ausgebreitet und die Befragung begann. Die Rektorin deutete mit der Hand auf einen der Würfel mit zwei Punkten hin und die Frage war... "wieviele Punkte siehst du hier? Ich antwortete,... zwei. Ein knappes Lächeln huschte über das Gesicht und der Würfel wurde gedreht. Nun lag eine andere Seite obenauf, die mir jedoch völlig unbekannt war. Es war die Fünf. Leider konnte ich die Zahl nicht nennen und das Gesicht der Rektorin versteinerte sich wieder. Sie fragte mich, ob ich denn lieber noch zu Hause bleiben möchte, wobei sie auch meine Mutter ansah. Ich klammerte mich an meine Mutter und nickte verängstlicht mit dem Kopf. So konnte ich noch ein weiteres Jahr am Teich spielen.