Veröffentlicht: 09.06.2022. Rubrik: Menschliches
Das Vorspielen - Teil 2
Tess kam in den abgedunkelten Raum. Es waren verschiedene Menschen anwesend, die sich ihr vorstellten, doch sie war viel zu aufgeregt, um sich zu merken, wer die waren. Der Komponist stellte sich nicht vor. Aber das war auch nicht nötig. Er war ihr schließlich bekannt und sah mit den schwarzen Haaren, der dunklen Sonnenbrille - selbst im abgedunkelten Raum- und der schwarzen Kleidung genau so aus, wie er in den Medien immer zu sehen war.
Sie setzte sich auf den Stuhl in der Mitte. Einer der Anwesenden deutete auf die Noten im Notenständer vor ihr und forderte sie auf dieses Stück zu spielen. Sie warf einen Blick darauf und war erleichtert, dass es ein ihr bekanntes Stück war. Mit leicht zitternden Fingern holte sie ihre Geige aus dem Kasten. Sie legte sie sich auf die Schulter und hätte vor Nervosität fast den Notenständer mit dem Bogen umgehauen. Sie musste sich dringend wieder beruhigen. Sie holte tief Luft und zwang sich ruhig weiter zu Atmen. Sie konzentrierte sich auf das Stück, welches sie spielen sollte und versuchte das Gefühl aufzurufen, dass sie mit diesem Lied verband.
Langsam setzte sie den Bogen an und begann zu spielen. Augenblicklich verschwand die Welt um sie herum. Sie vergaß ihre Aufregung und dass sie einem weltberühmten Komponisten gegenüber saß. Sie spielte das Stück und tauchte erst nach der letzten Note wieder auf.
Die Zuhörer schauten sie ruhig an und die Unsicherheit kam schlagartig zurück. Der Komponist nickte ihr zu und meinte kurz, dass es in Ordnung war und dass sie sich bei ihr melden würden. Einer der Anwesenden geleitete sie nach draußen bis ins Foyer. Tess wusste nicht, was sie davon halten sollte. Der Mann, von dem sie absolut nicht mehr wusste, wie er hieß, schien das zu merken. Er sah sie an und meinte: "Das war gut. Und vor allem war es das erste Mal, dass er, ohne zu unterbrechen, von Anfang bis Ende zugehört hat." "Danke", sagte Tess. Sie wusste nicht was sie da noch drauf antworten sollte. Er hielt ihr die Tür auf und sie verabschiedete sich.
Zwei Wochen hatte Tess nichts mehr von dem Vorspielen gehört. Sie glaubte schon nicht mehr daran, dass sie eine Rückmeldung erhalten würde. Dann lag ein Brief in der Post. Nachdem sie den Brief mehrere Male gelesen hatte, starrte sie ihn noch einen Moment an, dann sprang sie laut jubelnd durch ihre Wohnung. Sie hatte den Job.