Veröffentlicht: 07.06.2022. Rubrik: Menschliches
Das Vorspielen
Tess hatte sich zum Vorspielen beworben, ohne damit zu rechnen, dass sie wirklich eine Chance haben würde. Wieder erwarten hatte sie eine Einladung erhalten. Und nun saß sie mit ihrer Geige im Vorraum und wartete darauf, aufgerufen zu werden. Mit ihr saß noch ein junger Mann im Raum. Eben war schon eine Frau rein gerufen worden mit der selbstbewussten Ausstrahlung, einer erfahrenen Violinistin. Wahrscheinlich hatte sie schon in diversen Orchestern gespielt. Anders als Tess, die vor allem im örtlichen Jugendorchester gespielt hatte. Ihr Lehrer hatte sie immer als besonders Talentiert bezeichnet. Ihre Eltern waren immer stolz, sie auf der Bühne spielen zu sehen. In einem Anflug, von Größenwahn und völliger Überschätzung, hatte sie sich dann hier beworben. Bei dem Komponisten. Er war als schwierig und unzugänglich bekannt. Andere Künstler redeten von Wutausbrüchen, nur dadurch ausgelöst, das jemand einen Ton nicht getroffen hatte, oder zwei Minuten zu spät gekommen war. Tess hatte sich das nicht vorstellen können. Sie hatte sich einfach mal beworben, in dem Glauben, dass es sicher nicht so schlimm sein würde. Ein bisschen cholerisch, ein bisschen perfektionistisch, das machte doch einen guten Künstler aus, oder nicht? Jetzt wo sie hier saß und wartete, war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie für so jemanden arbeiten wollte. Sie war sich sicher gewesen, gut spielen zu können, aber woher sollte sie das wissen? Weil ihre Eltern das sagten? Weil der Musiklehrer das sagte, wo er doch sonst nur Kinder unterrichtete, die ambitionierte Eltern ihm anschleppten? Das hier waren echte Profis. Was hatte sie hier verloren? Ihr war vor Nervosität ganz schlecht. Die Tür öffnete sich und die Violinistin kam heraus. Energischen Schrittes und mit zornesroten Wangen marschierte sie, ohne ein Wort zu sagen, nach draußen. Tess sah ihr noch hinterher als die Tür zu schwang, als jemand ihren Namen aufrief. Jetzt, oder nie. Was gab es schon zu verlieren? Als sie aufstand, fühlten sich ihre Beine wie Wackelpudding an. Sie holte tief Luft und trat in den Vorspielraum.