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7xhab ich gern gelesen
geschrieben 2022 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 06.06.2022. Rubrik: Menschliches


Helga

Die rüstige Endsechzigerin Helga genoss ihr Leben als Rentnerin. Da sie unverheiratet und kinderlos war und keine Angehörigen zu betreuen hatte, konnte sie guten Gewissens nur an sich selbst denken. Nach einigen Jahren des Herumreisens und Faulenzens wuchs in ihr jedoch der Wunsch, auch etwas für andere zu tun. Sie begann, sich in ihrer Stadt ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren. Die Schicksale der Menschen, die vor Putins Krieg aus der Ukraine fliehen mussten, gingen ihr sehr nahe.

Helgas Bemühungen, den Flüchtlingen so gut wie nur irgend möglich zu helfen, waren durchaus erfolgreich und fanden auch in der Lokalzeitung Erwähnung.

Eines Tages wollte Helga zum Supermarkt am anderen Ende der Straße gehen. Ihre Augen waren noch immer so gut, dass sie – wenngleich mit Brille – von der Haustür aus die ganze Strecke bis hin zum Geschäft deutlich sah. So erblickte sie in der Ferne auch Nadeschda, die die Straße heraufkam. Sie war eine jener ganz flüchtigen Bekannten, die man im Vorbeigehen lächelnd grüßt, auch wenn man fast nie ein Wort mit ihnen wechselt. Helga hatte sie und ihren Mann vor Jahren einmal bei Freunden getroffen und wusste, dass der Mann von hier stammte, Nadeschda aber aus … Moskau.

Eine Russin! Wie sollte sie, Helga, sich ihr gegenüber verhalten? Sollte sie lieber hinter der Tür warten, bis Nadeschda vorübergegangen war? Aber das konnte noch Minuten dauern…

„Los jetzt!“, schalt Helga sich selbst. „Und wenn du an Nadeschda vorbeigehst, dann lächle sie genauso an wie sonst! Sie ist nicht schuld an dem Krieg und auch nicht daran beteiligt, sonst wäre sie in der Ukraine und nicht hier. Und solange du nicht hundertprozentig weißt, dass sie Putins Politik gut findet, gilt die Unschuldsvermutung! Sehr viele Russen sind gegen den Krieg!“

Helga trat aus der Tür und ging die Straße hinunter. Am liebsten hätte sie die Begegnung mit der Moskauerin vermieden, aber das war nun nicht mehr möglich. „Unschuldsvermutung!“, hämmerte Helga sich ins Gehirn und bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck.

Jetzt war der Abstand zwischen ihr und Nadeschda so klein geworden, dass beide sich in die Augen sahen. Helga verzog die Lippen zu einem Lächeln und wollte schnellstmöglich weitergehen, so wie sie es schließlich immer getan hatte.

Nadeschda jedoch beließ es diesmal nicht bei einem Lächeln. „Danke!“, sagte sie. „Danke, dass Sie mich gegrüßt haben, obwohl Sie – wie ich aus der Zeitung weiß – den Ukrainern helfen und wissen, dass ich Russin bin. Ich kann Ihnen nur versichern, dass auch ich Putins Politik hasse!“

Helga wies auf ein Straßencafé. Mit einem Lächeln, das diesmal echt war, fragte sie: „Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Christelle am 08.06.2022:
Kommentar gern gelesen.
Man sollte nie voreilig urteilen !

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