Veröffentlicht: 29.05.2022. Rubrik: Unsortiert
Der Eselstreik zu Haran
Erschienen in: AUFBRUCH, Kurzgeschichten-Wettbewerb 2016, Literareon. Die untenstehende Version ist das Original. Im Buch hat man eine (zum Glück nur minimale) Änderung vorgenommen, ohne mich zu fragen – so ist das leider meistens!
Sara war verärgert. Sicher, das Reisen war für sie eigentlich nichts Neues. Schließlich waren Abraham und sie damals mit Abrahams Vater Terach und dessen Enkel Lot von Ur in Chaldäa hierhin nach Haran gezogen. Aber damals waren sie jünger gewesen! Jetzt war sie 65 und ihr Mann 75. Ein Alter, in dem man den wohlverdienten Ruhestand genießen sollte.
Aber nein, Abraham wollte wieder weiter. Gott habe ihn dazu aufgefordert. „Geh in ein Land, das ich dir zeigen will“, habe Gott ihm gesagt. Er wolle ihn zum großen Volk machen, und in ihm würden alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Zum großen Volk? Sara runzelte die Stirn. Sie selber war kinderlos, und angesichts ihres Alters würde sich das auch nicht mehr ändern. Wie viele Nebenfrauen würde Abraham sich denn dann nehmen müssen?! Ein Wahnsinn, das Ganze!
Auch Lot, dem Neffen Abrahams, fehlte das Verständnis für den Entschluss des 75-Jährigen. Lot war seinerzeit aus Ur in Chaldäa mitgekommen und sollte jetzt ebenfalls mit ins Gelobte Land. Außerdem wünschte Abraham die Begleitung seiner Knechte und Mägde aus Haran sowie die Mitnahme aller Habe, die er, Sara und Lot dort erworben hatten.
Daher war es eine ziemlich große Menschenmenge mit einer beträchtlichen Anzahl an Gepäckstücken, die am Abreisetag vor Abrahams Zelt stand, um auf die Ankunft ihrer Esel zu warten. Abraham hatte Knechte losgeschickt, die die Reit- und Lasttiere herbeibringen sollten. Er selbst stand am Eingang seines Zeltes und wunderte sich nach einer Weile, dass die Männer nicht zurückkamen.
Da vernahmen er und alle anderen die Stimme Gottes. „Abraham, es gibt da leider ein Problem. Eure Esel sind in den Streik getreten. Sie weigern sich, Haran zu verlassen. Hier sei ihre Heimat, und Futter und Wasser seien ihnen wichtiger als irgendein unbekanntes Land.“
Auf diese Nachricht reagierten die Menschen erst einmal mit Schweigen. Gott, der die Gedanken seiner Geschöpfe mühelos lesen kann, wusste natürlich, was in ihren Köpfen vor sich ging. Außer Abraham sowie ein paar jungen Knechten und Mägden, die sich auf das Abenteuer gefreut hatten, dachten alle und insbesondere Sara: „Vernünftige Esel! Hoffentlich halten sie durch, damit auch uns das Ganze erspart bleibt!“
Abraham dagegen sagte schließlich: „Gott, du bist doch allmächtig. Verwandle doch einfach die Gedanken der Esel, sodass sie ihren Widerstand aufgeben.“
„So geht das nicht. Natürlich könnte ich das. Aber wenn ich ein Geschöpf mit einem Willen ausgestattet habe, gebe ich ihm auch die zumindest theoretische Möglichkeit, diesen Willen durchzusetzen. Und Esel sind nun einmal sehr störrisch.“
„Ja, aber was soll denn jetzt aus unserem Aufbruch ins Land der Verheißung werden?“
„Keine Sorge, ich werde die Esel schon dazu bringen, ihren Streik zu beenden. Warte nur, in ungefähr einer halben Stunde habe ich sie umgestimmt.“
Und tatsächlich kamen bald alle Grautiere einträchtig angetrottet, zur Freude Abrahams und zur maßlosen Enttäuschung der meisten seiner Begleiter.
„Was hast du den Eseln denn gesagt, Gott?“, wollte Abraham wissen, während die Tiere gesattelt und bepackt wurden.
„Zunächst habe ich ihnen zugesagt, dass sie stets genügend Futter und Wasser sowie ausreichende Ruhepausen haben sollten. Als ihnen das nicht genügte, habe ich ihnen versprochen: ‚Wenn ihr euch jetzt mit Abraham auf den Weg macht, dann wird einer eurer Nachkommen einst das Reittier eines Königs sein‘."
Abraham staunte über Gottes Weisheit. Für die Langohren, die meistens als Lasttiere verachtet wurden, musste das Versprechen, einer der Ihren werde einst einen König tragen, eine große Genugtuung darstellen, die jegliche Streiklust beendete. Dass Gott sein Versprechen halten würde, daran zweifelte Abraham keinen Augenblick. Deshalb fragte er auch nicht, wann dies geschehen solle und welcher König es sei. Er war sicher, dass Gott es schon richtig machen würde. Jetzt galten seine Gedanken nur noch der Reise ins Gelobte Land.
Und dann brachen sie auf.
Gott hielt sein Versprechen. Da allerdings tausend Jahre bei ihm wie ein Tag sind, dauerte es nach menschlichen und tierischen Maßstäben etwas lange, bis dies feststand. Immerhin bewiesen in der Zwischenzeit die Worte des Propheten Sacharja an die Stadt Jerusalem, dass Gott seine Zusage nicht vergessen hatte: „Siehe, dein König kommt zu dir … und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin.“ Und um das Jahr 30 der neuen Zeitrechnung herum war es dann soweit. Der König, der auf dem Rücken eines Eselfohlens in Jerusalem einzog und dort mit Palmzweigen empfangen wurde, war Gottes eigener Sohn.