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geschrieben 2022 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 04.05.2022. Rubrik: Grusel und Horror


Die Frau, die ihr Spiegelbild nicht sehen durfte

„Wie nett, Nancy, dass du uns dieses Wochenende besuchst!“, sagte meine Kollegin Rita, mit der ich mich angefreundet hatte. „Ulrich und ich freuen uns. Ich muss dir nur vorher etwas sagen. Bei uns lebt meine Mutter. Sie ist nach einem schweren Unfall vor vielen Jahren bettlägerig und darf sich nicht im Spiegel sehen. Sollte sie dich um einen Spiegel bitten, gib ihr bitte keinen!“

Ich versprach dies und fragte mich, wie die arme Frau wohl aussah. Insgeheim hoffte ich, sie nicht begrüßen zu müssen. Leider bin ich nämlich ziemlich schreckhaft und kann mein Entsetzen über ein entstelltes Gesicht kaum verbergen.

Zum Glück schlief sie, als ich angekommen war und mit Rita und Ulrich an ihrem Raum vorbeiging, dessen Tür offenstand. Rita bedeutete mir zu schweigen und wies ins Zimmer. Ich war auf den schlimmstmöglichen Anblick gefasst und daher umso überraschter, als ich ihre Mutter sah. Zwar zeugten einige Narben in ihrem Gesicht von dem Unfall, aber sie fielen kaum auf. Im Ganzen sah die alte Dame, Frau Kerst, mit ihren grauen Locken sogar noch relativ gut aus.

Beim Kaffeetrinken im Garten wurde nicht über Frau Kerst gesprochen, und ich wagte nicht, das Thema von mir aus anzuschneiden. Als jedoch Ulrich kurz ins Haus ging und ich mit Rita allein war, sagte ich: „So entstellt ist deine Mutter doch gar nicht. Aber wenn du meinst, sie solle sich nicht im Spiegel sehen… ein Cousin von mir ist plastischer Chirurg. Vielleicht könnte er –“

Mit ungewohnt scharfer Stimme unterbrach Rita mich: „Nein!“ Ich war froh, dass direkt danach Ulrich zurückkam und mit uns über etwas anderes sprach.

Schließlich gingen wir ins Haus zurück. Ich verabschiedete mich, und Rita begleitete mich zum Ausgang. Beim Vorbeigehen an Frau Kersts Zimmer, dessen Tür nach wie vor offenstand, sah ich, dass sie auch jetzt fest schlief. In diesem Augenblick hörten wir Ulrich aus der Küche rufen: „Rita, komm schnell, hier ist was kaputt!“

Rita hastete zurück. Mir kam ein Geistesblitz. In Windeseile ergriff ich mein Smartphone, fotografierte vom Flur aus die schlafende Frau Kerst und steckte das Handy eilig in die Tasche zurück, damit meine Freundin, wenn sie wiederkam, nichts merkte. Natürlich wusste ich, dass man niemanden ohne seine Einwilligung fotografieren darf. Aber ich wollte das Foto meinem Cousin zeigen und der alten Dame damit etwas Gutes tun.

Wieder zu Hause, ruhte ich mich von dem schönen, aber auch etwas anstrengenden Nachmittag aus. Erst jetzt fiel mir das Foto wieder ein. Ich hatte es noch gar nicht angeschaut. Neugierig holte ich mein Handy hervor.

In den nächsten Sekunden erlebte ich den größten Schreck meines bisherigen Lebens. Das von mir aufgenommene Bild zeigte Frau Kersts Bett, so wie ich es in Erinnerung hatte. Doch auf dem Kissen sah ich nicht das lockenumkränzte Gesicht mit seinen Narben, sondern… einen Totenkopf!

*

„Hallo Gunnar, erinnerst du dich an mich, Nancy Waldbach? Wir waren auf der Goetheschule in derselben Klasse…“

„Ja natürlich, Nancy. Wie geht’s dir denn?“

„Schlecht, ehrlich gesagt. Deshalb rufe ich dich an. Deine Telefonnummer steht ja auf deiner Homepage. Du bist doch ein bekannter Parapsychologe geworden und kannst mir vielleicht helfen.“ Ich erzählte die Geschichte, die mich seit drei Tagen fast um den Verstand brachte, und schloss mit den Worten:

„Ich habe mich krankschreiben lassen, um Rita nicht in der Firma begegnen zu müssen. Mein Hausarzt hatte zum Glück Verständnis, nachdem er das Totenkopf-Foto auf meinem Handy gesehen hatte. Allerdings bat er mich, es der Polizei zu zeigen. Das habe ich bisher nicht getan. Die alte Dame lebte doch! Sie schlief zwar, aber ich hörte sie atmen!“

„Ja“, sagte Gunnar, „und ihre Tochter rechnete ja sogar damit, dass sie dich um einen Spiegel bitten könnte. Im Übrigen hast du ja auch ihr Gesicht und ihre Haare gesehen. Das Foto zeigt dagegen einen Totenkopf. Wahrscheinlich durfte sie aus dem gleichen Grund nicht ihr Spiegelbild sehen.“

„Meinst du damit“, fragte ich entsetzt, „auch der Spiegel hätte einen Totenkopf gezeigt?“

„Genau. Solche mechanischen Wiedergabegeräte bilden die Realität ab. Die Frau ist tot, und zwar schon seit langem!“

Ich war fassungslos. „Gunnar! Wie kann es denn sein, dass ich sie als lebenden Menschen wahrgenommen habe?“

Mein alter Schulfreund seufzte. „Nach allem, was du mir erzählt hast, vermute ich, dass Ulrich ein Hexer ist. Als seine Schwiegermutter tödlich verunglückt war, beschloss er, sie mittels seiner Illusions- und Hexkünste scheinbar am Leben zu erhalten, um ihre Rente weiter kassieren zu können. Inwieweit Rita eingeweiht war, weiß ich nicht. Sie muss gewusst haben, dass ihre Mutter im Spiegel einen Totenkopf sehen würde, und wollte ihr dies ersparen. Jedoch hat sie möglicherweise nicht den Grund dafür gekannt, sondern glaubte, die Mutter lebe.“

„Ich kann es noch nicht fassen. Was soll ich denn jetzt tun, Gunnar? Zur Polizei gehen, wie mein Arzt meinte?“

„Das musst du selber entscheiden, Nancy. Ein Tötungsdelikt liegt ja offenbar nicht vor. Vermutlich aber Betrug wegen der jahrelang zu Unrecht bezogenen Rente.“

„Schwierig für mich, schließlich arbeite ich mit Rita zusammen. Obwohl, vielleicht ahnte sie ja wirklich nichts… Eins verstehe ich nicht, Gunnar. Wenn Ulrich so ein grandioser Hexenmeister ist – wieso rief er dann in Panik nach Rita, als in der Küche was kaputtging?“

Der Parapsychologe lachte laut am Telefon. „Da ist er wohl so wie ich! Haushalt ist für mich die größte Hexerei, und deshalb überlasse ich ihn immer meiner Frau!“

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Christelle am 04.05.2022:
Kommentar gern gelesen.
Sehr spannend bis zum Schluss! Außerdem klingt es beinahe wissenschaftlich, obwohl es ja nur „Grusel und Horror“ ist.




geschrieben von Weißehex am 05.05.2022:
Kommentar gern gelesen.
Klasse, originelle Auflösung und sehr spannend geschrieben!

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