Veröffentlicht: 24.04.2022. Rubrik: Nachdenkliches
Pfade des Schicksals
Alle Namen in diesem Text sind geändert.
Ein entfernter Verwandter von mir, Hans, fiel im Zweiten Weltkrieg. Seine Frau Erika erwartete gerade das erste Kind und erlitt durch den Schock der Todesnachricht eine Fehlgeburt.
Später heiratete Erika erneut. Ich weiß nicht, was dann aus ihr geworden ist, habe aber gehört, dass sie mit ihrem zweiten Mann eine Tochter bekam. Diese Tochter – nennen wir sie Irene – kann heute noch leben und selber Mutter und Großmutter sein.
Nun könnte man philosophieren: „Verdanken“ Irene und ihre etwaigen Nachkommen ihr Leben der Tatsache, dass Hans im Krieg fiel?
Dass ich das Wort „verdanken“ in Anführungszeichen gesetzt habe, zeigt bereits, dass von „Dank“ in diesem Zusammenhang keine Rede sein kann. Vielmehr hat der Krieg sowohl Hans als auch seinem ungeborenen Kind den Tod gebracht, und Millionen anderen ebenfalls.
Wäre das Kind von Hans und Erika geboren worden und am Leben geblieben, dann hätte dieser Mensch – und nicht Irene, die es ja nicht gäbe – heute wahrscheinlich Kinder und Enkel.
Vermeiden wir jedoch das unpassende Wort „verdanken“, dann kann man tatsächlich sagen, dass Irene nur geboren werden konnte, weil Hans im Krieg gefallen war und Erika daraufhin einen neuen Mann gefunden hatte.
Mir fällt dabei ein anderes Schicksal ein. Ein inzwischen verstorbener Bekannter war als Kind mit seiner Familie aus Ostpreußen vertrieben worden. Er fand in Westfalen eine neue Heimat und eine Frau, mit der er eine inzwischen sehr große Familie gründete. In Ostpreußen hätte er diese Frau nie getroffen. (Aber wahrscheinlich eine andere.)
Gläubige Menschen sehen hinter solchen Lebensgeschichten Gottes Fügung, Nichtglaubende wohl nur eine Kette seltsamer Zufälle. Nachdenkens- und staunenswert sind die verschlungenen Pfade des Schicksals auf jeden Fall!