Veröffentlicht: 19.04.2022. Rubrik: Spannung
Kommissar Kuhlmann und das vermisste Tantchen
Eigentlich war Kommissar Kuhlmann nicht für Vermissten-, sondern nur für Kriminalfälle zuständig. Hier hatte der Ermittler es zu internationalem Ruhm gebracht, was er sowohl seiner langjährigen Berufserfahrung als auch seiner breiten Allgemeinbildung verdankte.
Hin und wieder geschah es dennoch, dass er auch bei Vermisstenfällen um Hilfe gebeten wurde. So auch jetzt am Osterdienstag. Als er nach den Feiertagen wieder sein Büro betrat, merkte er sofort, dass seine Sekretärin Merle ein Problem hatte.
„Chef, wir machen uns Sorgen um meine Großtante Hedwig. Sie wollte am Ostersamstag von einer Reise wiederkommen und ist spurlos verschwunden.“
Kuhlmann wusste, um wen es sich handelte. „Tantchen“, wie die alleinstehende alte Dame von allen in Merles Familie genannt wurde, war trotz ihrer 80 Jahre noch so fit, dass sie allein verreiste und dann auch wirklich ungestört sein wollte. Keine Telefonate oder sonstigen Kontakte während der Reise! „Für den Fall, dass mir etwas zustößt“, hatte Hedwig ihren Angehörigen gesagt, „liegen in meinem Portemonnaie die Telefonnummern meines Anwalts sowie des Bestattungsinstituts, mit dem ich einen Vorsorgevertrag geschlossen habe. Mein Anwalt würde euch benachrichtigen. Solange er das nicht tut, könnt ihr davon ausgehen, dass alles in Ordnung ist!“
Jetzt also, so berichtete Merle, hatten sie zwar keine Nachricht des Anwalts bekommen, machten sich aber trotzdem Sorgen. „Es könnte doch sein, dass Tantchen irgendwo verunglückt ist und noch nicht gefunden wurde!“
„Wo wollte sie denn hin?“, fragte Kuhlmann.
„Das sagt sie uns nie!“, seufzte seine Sekretärin. „Sie ist mehrsprachig und kann praktisch überall auf der Welt sein. Am ehesten aber vielleicht in Frankreich oder Spanien. Sie liebt die dortigen Kathedralen.“
„Hm…“ Dem Kommissar kam ein Verdacht. „Liebt sie die Bauwerke? Oder ist sie religiös?“
„Beides, würde ich sagen. Warum, was hätte das mit ihrem Verschwinden zu tun?“
Kuhlmann schmunzelte. „Wenn Ihre Tante tatsächlich religiös ist, dann besteht Hoffnung, dass sie diesen Samstag wiederkommt! Und zwar deswegen, weil gläubige Christen mit dem Wort ‚Ostersamstag‘ den Samstag nach Ostern meinen. Der Samstag vor Ostern, der im allgemeinen Sprachgebrauch häufig ‚Ostersamstag‘ genannt wird, heißt bei ihnen ‚Karsamstag‘!“
*
Tatsächlich erhielt der Kommissar am Samstag nach Ostern einen Anruf seiner erleichterten Sekretärin: „Tantchen ist wieder da! Munter und fidel!“
„Gratuliere, Merle. Eins verstehe ich ja nicht. Wenn die alte Dame tatsächlich so religiös ist, dann sollte sie doch auch das Gebot der Nächstenliebe kennen und sich wenigstens zweimal wöchentlich ganz kurz bei ihrer Familie melden, damit diese nicht vor Sorge vergeht…“