Veröffentlicht: 05.01.2022. Rubrik: Persönliches
Als ich in der Schule sitzenblieb….
Am 1. April 1954, also vor beinahe 70 Jahren, wurde ich eingeschult. Ich war eine der Jüngsten in der Klasse, denn ich wurde erst Ende April sechs Jahre alt. Ich hatte mich auf die Schule gefreut, denn ich wollte endlich Lesen und Schreiben lernen.
Auf die Schule wurde ich auf eine Art und Weise vorbereitet, die heutzutage glücklicherweise nicht mehr üblich ist. In den Fünfziger Jahren war es insbesondre bei älteren Erwachsenen gang und gäbe, den zukünftigen Schulkindern zu raten, sie sollten schön aufpassen, dass sie ja nicht sitzenblieben. Diesen Rat hörte ich oft und von verschiedenen Leuten, so dass ich ihn völlig verinnerlichte. Ich wusste: Das Schlimmste, was in der Schule passieren konnte, war das Sitzenbleiben!
Ich war eine interessierte und aufmerksame Schülerin und beobachtete alles ganz genau. Ich konnte die Kleidung unserer Lehrerin beschreiben, ich wusste auch, was meine Mitschülerinnen und Mitschüler anhatten!
Die Schulbänke waren in der Mitte durch einen Gang geteilt. Links saßen die Mädchen und rechts die Jungen. Von meinem Platz aus schaute ich immer wieder nach rechts auf Bernis Schuhe, die aussahen, als habe er sie von seiner Mutter geerbt.
Ich schaute mir aber auch das Klassenzimmer genau an. In einer Ecke stand ein großer Ofen, der mit Kohle befeuert wurde. In einer anderen Ecke hing eine Weltkarte. Der Raum hatte riesige Fenster, so dass man die Wipfel der Bäume sehen konnte, die auf dem Schulhof standen. Ab und zu ließ sich auch ein Vogel auf den Ästen nieder.
Es gab eine riesige Schiefertafel vorne an der Wand, die die gleichen Linien aufwies wie unsere kleinen Schiefertafeln, die wir im Tornister jeden Tag zur Schule transportierten. Ich hörte, dass unsere Lehrerin diese Linien mit einer Straße verglich, die an jeder Seite einen Bürgersteig hatte. Tatsächlich war der Zwischenraum in der Mitte etwas größer als der der Seitenlinien, die sie „Bürgersteige“ nannte.
Ich hatte in diesen ersten Schultagen so viele Dinge, die meine Aufmerksamkeit beanspruchten, da fand ich diesen Vergleich nicht ganz so spannend. Ich hörte nur die Worte der Lehrerin, dass man auf der Straße keinen Fußball spielen dürfe.
Unsere erste Hausaufgabe bestand darin, mit dem Kreidestift lauter Fußbälle in die Linien unserer Schiefertafel zu malen. Diese Übung diente dazu, später aus den Fußbällen die Buchstaben a und o zu kreieren, aber das wusste ich an diesem Tag noch nicht.
Voller Eifer machte ich mich zu Hause an die Arbeit. Da man auf der Straße keinen Fußball spielen sollte, quetschte ich viele kleine Bälle in die schmalen Linien der „Bürgersteige“. Meine Mutter vermutete von vornherein, dass das falsch sei, aber ich bestand darauf, dass die Lehrerin das so erklärt habe. Ich machte mir sogar doppelte Arbeit, da jede Straße zwei Bürgersteige hatte, die ich voll mit kleinen Kreisen beschrieb.
Am nächsten Tag in der Schule begriff ich, dass ich auf meine Mutter hätte hören sollen, denn tatsächlich gehörten die Bälle in die mittlere Linie. Meine Fleißarbeit war völlig daneben!
Und dann geschah das Schreckliche!
Die Lehrerin ließ mich nachsitzen. Nach Schulschluss musste ich dableiben und die Hausaufgaben vom Vortag wiederholen, diesmal aber richtig.
Ich malte meine Bälle und schluchzte dabei herzzerreißend.
Ich konnte mich einfach nicht beruhigen. Hatten mich vor der Einschulung nicht alle gewarnt, ich solle aufpassen, dass ich nicht sitzenbliebe? Jetzt war ich nur wenige Tage in der Schule und schon war es passiert. Ich war sitzengeblieben!
Ich weinte auf dem Nachhauseweg und kam schluchzend zu Hause an. Meine Mutter schaute erschrocken aus dem Fenster und noch draußen rief ich ihr weinend zu:“Mama, Mama, ich bin sitzengeblieben.“
Meine Mutter erklärte mir dann den Unterschied zwischen Sitzenbleiben und Nachsitzen. So war die Welt wieder in Ordnung. Von da an hatte ich ausgeträumt. Ich passte von nun an im Unterricht auf.
Dieser Augenblick, in dem ich glaubte, nach ein paar Tagen in der Schule sitzengeblieben zu sein, war für mich so schrecklich, dass er sich fest in mein Gedächtnis verankert hat. Heute kann ich aber darüber lachen.