Veröffentlicht: 21.12.2021. Rubrik: Spannung
Kommissar Kuhlmann und der Zettel der verschwundenen Marta
Kommissar Kuhlmann, der berühmte Ermittler, hatte Mitleid mit Frauke Rehfeld. Beide standen im Zimmer der 16-jährigen Marta, und sie zeigte ihm weinend den Zettel, der auf dem Tisch ihrer Tochter gelegen hatte. Marta war am Morgen ganz normal zur Schule gegangen, doch als die Mutter wegen irgendeiner Bagatelle ihr Zimmer betreten musste, hatte sie ihn gefunden:
SUCH NICHT NACH MIR
ICH BRINGE MICH UM
Weder Anrede noch Unterschrift. Sofort hatte sie versucht, ihre Tochter zu kontaktieren, aber deren Handy war abgeschaltet. Ein Anruf bei Martas Schule ergab, dass sie dort nicht angekommen war.
„Sind Sie sicher, dass es die Schrift Ihrer Tochter ist?“, fragte Kuhlmann.
Frauke Rehfeld nickte. Mit tränenerstickter Stimme sagte sie dann: „Martas Schrift ist es auf jeden Fall. Aber eventuell hat sie es nach Diktat geschrieben. Sie ist nämlich einem Mann hörig.“
Konzentriert lauschte der Kommissar dem folgenden Bericht. Diesem zufolge hatte das Mädchen sich vor einigen Monaten in einen 30-jährigen Vorbestraften verliebt. Ihre Mutter hatte ihr den Umgang verboten, was aber nichts genutzt hatte.
„Wenn das so ist“, sagte Kuhlmann, „dann glaube ich kaum, dass sie sich tatsächlich umbringt. Sie wird mit dem Mann zusammen sein wollen. Das ist schlimm genug, und wir werden sofort eine Fahndung einleiten – aber ich bin ziemlich sicher, dass sie lebt.“
„Wirklich?“ Hoffnungsvoll schaute die Mutter ihn an. Dann berichtete sie ihm noch etwas anderes:
„Marta hatte in letzter Zeit auch Probleme mit meinen eigenen Plänen. Sie ist ohne Vater aufgewachsen – ihr Erzeuger hat mich schon vor der Geburt verlassen und sich nie um sie gekümmert. Aber jetzt kenne ich einen Mann, der mich heiraten will. Damit kommt sie nicht so gut zurecht. Obwohl sie sich bemüht, mich zu verstehen und fair zu Michael zu sein. Er ist recht wohlhabend – ihm gehört die Firma Michael Sommer, die Sie bestimmt kennen –, und daher hat er vorgeschlagen, Marta bis zum Abitur auf ein Internat am Bodensee zu schicken. Dagegen sträubt sie sich.“
Interessiert fragte der Kommissar: „Nur wegen ihres vorbestraften Freundes, den sie dann nicht mehr sähe? Oder auch, weil sie sich abgeschoben fühlen würde?“
Nach kurzem Nachdenken antwortete die Mutter: „Wahrscheinlich wegen beidem.“
„Noch eine Frage: Wie heißt ihr Freund?“ Er notierte den Namen, den Frauke Rehfeld ihm nannte, und versprach, sie bei Neuigkeiten sofort zu benachrichtigen.
*
Kommissar Kuhlmann saß in seinem Büro und runzelte die Stirn. Seine Nachprüfungen hatten ergeben, dass der 30-Jährige, dem Marta offenbar verfallen war, schon mehrmals wegen Eigentumsdelikten im Gefängnis gesessen hatte. Einmal war er sogar des versuchten Mordes im Zusammenhang mit einem Einbruch angeklagt gewesen, doch mangels Beweisen freigesprochen worden.
Der Kommissar betrachtete den Zettel, den Marta geschrieben hatte. Plötzlich fiel ihm etwas auf. Er kniff die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können. Dann rief er seine Mitarbeiter zusammen.
„Erstens: Wir müssen schnellstmöglich den 30-jährigen Alexander Schmidt finden, der vermutlich von der 16-jährigen Marta Rehfeld begleitet wird. Und zweitens: Wir müssen den Firmeninhaber Michael Sommer und sein Grundstück vor Alexander Schmidt schützen.“
*
„Gute Nachrichten, Frau Rehfeld!“ Kommissar Kuhlmann freute sich immer, wenn er einen Anruf auf diese Weise beginnen konnte. „Wir haben Ihre Tochter gefunden. Nur rund zwanzig Kilometer von hier entfernt. In guter gesundheitlicher Verfassung.“
„Oh, Gott sei Dank!“ Wieder weinte Martas Mutter, aber diesmal vor Erleichterung. Der Kommissar fuhr fort:
„Sie war erwartungsgemäß mit diesem Alexander Schmidt zusammen. Er wird jetzt dem Haftrichter vorgeführt, und ich hoffe, dass Ihre Tochter sich aus der Abhängigkeit von ihm befreien kann. Tatsächlich hatte er ihr den Zettel diktiert und ihr außerdem gesagt, dass er Herrn Michael Sommer ausrauben und umbringen wolle.“
„Was???“, schrie Frauke Rehfeld voller Entsetzen.
„Ja, und da muss ich Ihrer Tochter ein Lob aussprechen. In ihrer Hörigkeit wagte sie zwar nicht, ihrem Begleiter dies auszureden oder ihn gar anzuzeigen. Außerdem hatte sie ja selber gewisse Schwierigkeiten mit Herrn Sommer. Aber den Tod wünschte sie ihm nicht. Daher hinterließ sie auf dem Zettel eine Warnung, dass Herr Sommer in Lebensgefahr schwebe. Dieser kann allerdings froh sein, dass ich den Zettel sah. Meinen Mitarbeitern wäre wohl nichts aufgefallen, und wenn doch, hätten sie es nicht deuten können.“ Kommissar Kuhlmann hielt nichts von falscher Bescheidenheit.
„Wovon reden Sie?“, fragte Martas Mutter verwirrt.
„Bei ICH BRINGE MICH UM hat sie nach dem Wort MICH einen winzigen Punkt gesetzt, so dass es aussieht wie eine Abkürzung von MICHAEL…“