Veröffentlicht: 18.12.2021. Rubrik: Spannung
Neuschnee
„Ich kann ihn riechen“, sagte S.
„Dass du immer behaupten musst, ihn riechen zu können“, antwortete H.
„Doch, es stimmt aber. Ich kann den Schnee riechen“, verteidigte sich S.
„Wir stehen bis zu den Waden im Schnee und meiner Meinung nach hat er keinen Geruch“, sagte H. genervt.
„Ich meine nicht diesen Schnee. Ich rede von dem da oben“, sagte S. und zeigte zum Himmel, wo bis auf ein paar kleine Wölkchen nur strahlendes Blau zu sehen war.
„Heute kommt kein Neuschnee mehr. Da wette ich um alles“, sagte H.
Der Weg wurde auf einmal steil. Die Gefahr, mit den Skiern an den Füßen abzurutschen, war groß. H. schnallte seine Ski ab und legte sie über die Schulter.
„Beeil dich bitte, sonst wird es dunkel bevor wir oben ankommen“, sagte er und nahm das steile Stück in Angriff.
Sie versuchte mit ihm Schritt zu halten doch er hatte es plötzlich furchtbar eilig und rannte regelrecht bergauf. Es dauerte nicht lange, bis ihre Waden sich verkrampften und der Schweiß in ihren Augen brannte.
Neben ihr tauchte plötzlich ein Schneehuhn auf, das so unscheinbar war, dass sie zweimal hinsehen musste, um es als Huhn zu erkennen. Mit kleinen knallgelben Beinen lief es neben ihr her. Die Federn waren so weiß wie die Winterlandschaft, sogar der Schnabel schien durchsichtig zu sein. Im nächsten Augenblick verschwand es genauso schnell wie es gekommen war. Der Schnee hatte es wieder verschluckt.
Als S. nach H. Ausschau hielt, war dieser auch weg. Angestrengt schaute sie in alle Richtungen doch er war nirgends zu sehen. Der Schnee glitzerte aufdringlich in der Sonne. Sie kniff die Augen zusammen und rief seinen Namen, wartete einen Moment und rief ihn wieder. Es kam keine Antwort. Wut kroch in ihr hoch. Es war immer das Gleiche. Er wartete nie auf sie, rannte immer voraus. Stehen, schauen und rufen brachten sie nicht weiter. Rechts von ihr konnte sie H.’s Spuren im Schnee erkennen und folgte ihnen. Schritt für Schritt ging sie bergauf. Ein stechender Schmerz machte sich in der Schulter bemerkbar. Lange konnte sie die Ski nicht mehr tragen.
Auf einmal tauchte das Schneehuhn wieder vor ihr auf. Sie machte einen Schritt darauf zu – das Huhn hüpfte zur Seite und S. starrte in eine tiefe Gletscherspalte im Boden.