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8xhab ich gern gelesen
geschrieben 2021 von Christine Todsen.
Veröffentlicht: 19.10.2021. Rubrik: Spannung


Der Geldschein

Schon den ganzen Tag über hatte die Sekretärin Kira sich darauf gefreut, den Roman zu lesen, den sie morgens vor Arbeitsbeginn in der Stadtbücherei entliehen hatte.

Endlich hatte sie Feierabend und machte es sich in ihrer kleinen Single-Wohnung bequem. Sie setzte sich in ihren Sessel und schlug das Buch auf. Doch was war das? Zwischen zwei Seiten lag ein 50-Euro-Schein!

Kira vermutete, dass jemand ihn als Lesezeichen benutzt und bei der Rückgabe des Buches vergessen hatte. Sie wusste, dass sie verpflichtet war, den Fund bei der Bibliothek abzuliefern. Andererseits… „Wenn ich ihn behalte, könnte mir das niemand nachweisen!“

Der Roman, auf den sie sich so gefreut hatte, interessierte sie jetzt nicht mehr. Alle ihre Gedanken galten der Frage, was sie mit dem Geldschein tun sollte: abliefern oder behalten?

Schließlich sagte sie sich, dass sie mit der Entscheidung noch bis zum nächsten Morgen um acht Uhr Zeit hätte, wenn die Bücherei öffnete. Sie machte sich eine Notiz und versuchte, die Frage bis dann zu verdrängen. Doch es gelang ihr nicht, und sie schlief schlecht.

Als der Morgen angebrochen war, hatte Kira sich entschieden. Schweren Herzens betrat sie um Punkt acht die Bibliothek, nahm den 50-Euro-Schein aus ihrer Tasche und sagte zu einer Mitarbeiterin: „Der lag in einem Buch, das ich gestern entliehen habe.“

Die Frau war offensichtlich überrascht von dieser Ehrlichkeit. Sie nahm den Schein mit großem Dank entgegen, notierte Kiras Namen und Adresse und sagte: „Wenn das Geld in sechs Monaten nicht abgeholt worden ist, gehört es Ihnen. Bisher hat sich noch niemand gemeldet, der es vermisst hätte. Hoffentlich haben Sie Glück!“

*

Als Kira in der folgenden Woche eines Nachmittags erneut in die Bücherei kam, winkte die Angestellte sie zu sich. „Es tut mir so leid für Sie – die Besitzerin des Geldes war vor einer Stunde tatsächlich hier. Eine ältere Dame. Wir mussten ihr die 50 Euro aushändigen. Immerhin gab sie uns 5 Euro als Finderlohn für Sie. Hier sind sie! Rein rechtlich hätte sie nur 2,50 Euro zahlen müssen. “

Kira konnte ihre Enttäuschung trotzdem nicht verbergen und fragte: „Wie hat sie denn bewiesen, dass das Geld ihr gehörte?“

„Das war merkwürdig. Auf dem Schein war eine ganz kleine Kritzelei. Ein senkrechter Strich mit etwas Rundem drüber. Sie hat uns die Scheine in ihrem Portemonnaie gezeigt: alle waren mit demselben Gekrakel markiert. Das sei ihr Zeichen. Solle einen Baum darstellen. Tja…“

Seufzend sagte Kira: „Schade. Na ja, wenigstens habe ich ein reines Gewissen. Und fünf Euro.“

*

Ein Jahr später erhielt Kira Post von einer Anwaltskanzlei. Erschrocken dachte sie nach, ob sie irgendetwas angestellt hatte. Doch ihr fiel nichts ein. Jetzt war sie nur noch neugierig und öffnete den Brief.

Sie musste das Schreiben dreimal lesen, um es zu verstehen. Nicht nur wegen der komplizierten Juristensprache, sondern auch, weil der Inhalt ihr zu unglaublich schien, um wahr sein zu können:

Eine exzentrische Millionärin mit dem Nachnamen Baum, die kürzlich verstorben war, hatte sie zu ihrer Alleinerbin bestimmt!

Als die unverheiratete, kinderlose Frau von den Ärzten erfahren hatte, dass sie nur noch höchstens ein Jahr leben würde, hatte sie sich auf die Suche nach einem Erben gemacht, indem sie in der Stadtbibliothek 50-Euro-Scheine in Büchern versteckte. Diejenige Person, die den Schein als Fundsache abliefern würde, sollte ihr Vermögen erben. Elf Scheine hatte sie auf diese Weise schon unwiederbringlich verloren, doch dann kam Kira…

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