Veröffentlicht: 06.10.2021. Rubrik: Grusel und Horror
Dämon
KAPITEL 1
„Angst, mein Junge, ist etwas was du nie jemandem zeigen darfst! Du schluckst sie runter und vergräbst sie ganz tief in dir drin. Wenn du das nicht machst, wird aus dir nie ein echter Mann!“
Die Worte meines Vaters hallen mir wie so oft durch den Kopf, als ich in meinem Bett liege und direkt in die großen Augen blicke, die mich unentwegt anstarren. Sie geben ein fahles, blaues Licht ab, leider nicht stark genug um die Fratze zu erleuchten, in die sie eingefasst sind. Es ist wieder genau so, wie ich mich daran erinnere. Genau so wie beinahe jede Nacht in den letzten zwanzig Jahren.
Eigentlich war ich nie der ängstliche Typ. Ja, mein Vater war recht altmodisch in der Erziehung, solche „weisen Worte“ hatte er zuhauf für mich parat in meiner Kindheit. Er stammte eben aus einer anderen Generation, musste schnell erwachsen werden und die Verantwortung übernehmen, als mein Großvater nicht lebend vom Krieg zurückkehrte. Ein „Mann“ zu sein war damals von höchster Wichtigkeit.
Ich dagegen wuchs wohl-behütet auf, mit einer liebevollen Mutter und einem Vater, der trotz dem Festhalten an Werten vergangener Tage immer ein offenes Ohr für mich hatte. Es gab hier und da natürlich Meinungsverschiedenheiten, insbesondere in Sachen Religion, aber er akzeptierte, dass ich ein eher rational denkender Mensch bin. Ich glaubte nie an die ewige Verdammnis und ging auch nicht auf Zehenspitzen, aus Furcht den weisen Gott im Himmel irgendwie zu verärgern. Richtige Angst war mir quasi fremd.
Nun zitterte mein ganzer Körper. Das Gefühl unendlicher Verzweiflung und Sorge packte mein Herz, ich spürte deutlich, wie mir das Blut immer schneller durch die Adern pumpte. Wird heute die Nacht sein, in der das Wesen zuschlägt? Nicht dass ich was dagegen machen könnte, denn bewegen kann ich mich kein Stück. Schlaf-Paralyse hat der Arzt es genannt, ein Zustand, der beinahe jeden zehnten Menschen auf der Welt betreffen soll.
Am häufigsten kommt es direkt vor dem Einnicken oder während des Aufwachens vor. Durch eine Störung der Tiefschlaf-Phase ist man sich auf einmal seiner Umgebung bewußt, hat aber keine Kontrolle über seinen Körper. Dadurch können Halluzinationen auftreten, luzides Träumen ist möglich, Wahnvorstellung wirken beinahe real. Es ist eine der Erklärungen dafür, dass manche Leute glauben, sie wären von Aliens entführt worden.
Das hier ist aber komplett anders, ich bin in keiner Trance und Herr meiner Sinne. Meiner Lider sind sperrangelweit offen, ich halte direkten Augenkontakt mit dem Wesen, dass über mir in der Luft zu schweben scheint. Es ist so nahe vor mir, dass ich kaum erkennen kann, wo der Rest seines Körpers beginnt oder aufhört. Auf meinem Gesicht spüre ich seinen heißen, keuchenden Atem, es liegt ein Geruch wie in einem Schlachthaus in der Luft, so beißend, dass ich ihn beinahe schmecken kann. Und dann wäre dieses sonore Grollen, wie von einem gefährlichen Raubtier, nur dass es einfach nicht aufhören will.
In der Panik bewegen sich meine Gedanken immer wieder im Kreis. Was will die Kreatur von mir, worauf wartet sie nur? Und was ist sie eigentlich? Ein Dämon? Ein Außerirdischer? Oder was ganz anderes? Obwohl ich diese Situation schon tausende Mal durchgemacht haben muss, ist die Angst genau so stark wie beim allerersten Mal. Wenn doch nur mein Körper funktionieren würde, dann könnte ich was tun, schreien, versuchen zu entkommen, es schlagen…
Dann packen mich aber wieder die Zweifel. Was ist, wenn meine Unfähigkeit das Einzige ist, dass die Kreatur davon abhält mich in Stücke zu reissen? Würde es helfen, wenn ich mit ihr sprechen kann? Aber was nur würde ich dann fragen? Und will ich die Antwort überhaupt wissen? So oder so, dafür wäre es in dieser Nacht zu spät gewesen, ich spüre, wie ich langsam in Ohnmacht falle und nach einer gefühlten Ewigkeit meine Lider sich für den Bruchteil einer Sekunde schliessen. Als sie im beinahe gleichen Moment wieder aufgehen, ist alles vorbei.
Ich liege in unserem Schlafzimmer, der Raum ist taghell erleuchtet und meine Frau liegt neben mir, sie döst vor sich hin. Von der Kreatur ist nichts mehr zu sehen, das Einzige, was von ihr übrig bleibt, ist das beklemmende Gefühl in meiner Brust und der kalte Schweiss auf meiner Stirn. Ich spüre wie meine Frau sich zu mir hindreht und einen guten Morgen wünscht, doch die Panik und die Angst haben mich noch nicht ganz verlassen, so dass ich ihr nur stumm ins Gesicht schauen kann. In ihrem Ausdruck ist nun deutlicher Kummer zu sehen und sie fragt:
„Hast du schon wieder diesen Traum gehabt?“
…
Genau, der Traum.
KAPITEL 2
Seit diesem Morgen sind einige Stunden vergangen, es ist bereits später Nachmittag. Ich sitze im Auto und bin gerade auf dem Weg in die Schule, um meinen Sohn vom Unterricht abzuholen. Eigentlich habe ich mich mit meiner Situation irgendwie arrangiert und einen Weg gefunden, halbwegs damit umzugehen. So real mir das Wesen in der Nacht erscheinen mag, nachdem ich aufgewacht bin, verblassen die starken Gefühle zum Glück nach und nach. So wie es eben bei einem ganz normalen Traum auch sein sollte. Habe ich mir zumindest sagen lassen, denn ich habe noch nie von was anderem geträumt, als von der Kreatur.
Träume waren tatsächlich etwas, was ich als Jugendlicher nicht wirklich hatte. Für mich bestand jede Nachtruhe aus dem Schliessen der Augen am Abend und Öffnen am Morgen. Ich war sogar richtig neidisch auf meine Freunde und Schulkameraden, die anscheinend die wildesten Sachen im Schlaf erlebten. Hätte ich doch nur geahnt, was mich erwartet.
Als ich meine Frau kennenlernte, war die Kreatur schon seit Langem in mein Leben getreten. Erst habe ich mich nicht getraut mit ihr darüber zu sprechen. Immerhin gab es öfters noch Nächte, die so verliefen wie früher und der Schlaf nur aus einem Schlag der Lider bestand. Nach der Hochzeit und der Geburt unseres Kindes wurde es aber immer intensiver, so dass meine „Ruhephasen“ beinahe komplett verschwunden sind und ich somit kaum noch einen Ausgleich habe.
Ich wollte eigentlich vermeiden mich ihr gegenüber zu öffnen, damit sie sich keine Sorgen macht oder mich womöglich für Verrückt hält. Was wäre das nur für eine Situation, erfahren zu müssen, dass der Vater des eigenen Kindes einen Sprung an der Schüssel hat? Nach einer besonders harten Nacht konnte ich es aber nicht mehr verschweigen und beichtete alles. Wann das Wesen mich heimsucht, wie es dann riecht oder schmeckt und natürlich die Spirale der Angst, in die ich immer wieder falle.
Zum Glück zeigte sie sich Verständnisvoll und versuchte mir sogar zu helfen, der Sache auf den Grund zu gehen… doch es half alles nichts. Es war egal in welchen Raum ich schlief, ob sie dabei war oder nicht, es machte keinen Unterschied. Einmal ist sie komplett wach geblieben und hat mich durchweg beobachtet, doch laut ihr ist nichts passiert. Auch eine Videokamera haben wir mitlaufen lassen, selbst da habe mich augenscheinlich kein Stück gerührt. Ich weiss aber, was ich gesehen und gespürt habe. Immer und immer wieder.
Vom Arzt gab es die plausibel klingende Diagnose der Schlaf-Paralyse, was natürlich nicht auszuschliessen ist, doch die Intensität und Häufigkeit liessen mich am Ende doch daran zweifeln. Aus diesem Grund gehe ich auch seit Kurzem zu einem Therapeuten, vielleicht liegt die Lösung des Problems darin, die Ursache herauszufinden. Und Tatsache, ich scheine zum Ersten mal einen Schritt in die richtige Richtung gemacht zu haben.
Während es langsam dunkel wird und ein starker Regen anfängt auf dem Autodach zu prasseln, gerate ich mitten in den Feierabend-Verkehr. Verdammt, ich werde dadurch zu spät in der Schule ankommen! Damit mein Sohn nicht umsonst draußen wartet und naß wird, schicke ich ihm kurz eine Sprachnachricht auf’s Handy. Wir haben ihm speziell für solche Fälle ein Modell für Grundschüler geschenkt, ins Internet alleine darf er zwar noch nicht, aber wir überlegen, diese Regel in der Zukunft etwas zu lockern.
Jedenfalls, das gibt mir etwas Zeit, die letzte Sitzung beim Therapeuten Revue passieren zu lassen, welche mir einfach nicht aus dem Kopf gehen will. Das Thema war ausgerechnet mein Vater. Auch wenn wir nicht immer auf Augenhöhe waren bei bestimmten Dingen, war er doch mein „Fels in der Brandung“ und durch seine Stärke mein Vorbild. Dann wurde der Krebs bei ihm entdeckt und ich konnte erstmals hinter die Fassade blicken.
Ich weiss nicht ob nur sein nahender Tod der Auslöser war oder auch die Tatsache, dass ich gerade meinen ersten Job angefangen hatte. Unsere Gespräche verliefen darauf nicht mehr wie zwischen Vater und Sohn, sondern zwischen zwei „Männern“. Er erzählte mir endlich über seine Sorgen und Ängste, die ihn seit jeher fest im Griff hatten. Da mein Großvater im Krieg fiel, schulterte er die gesamte Verantwortung für meine Großmutter und seine fünf Geschwister. Schwäche zeigen durfte er nicht, komme was wolle, sein Seelenheil suchte er in der Religion.
Es war tragisch, dass ich meinen Vater erst richtig kennenlernen konnte, als es eigentlich zu spät war. Je stärker der Krebs streute, umso mehr sprach er in Metaphern. In seinen Erzählungen kam sehr häufig der Teufel vor, zu dem er eine besondere Beziehung pflegte. Mein Vater beschrieb ihn als Prüfung Gottes, um ihm die nötige Kraft zu verleihen, jede Situation meistern zu können. Egal wie viel Angst der Teufel in ihm auslöste, er durfte es nie zeigen und schluckte alles runter. All diese unterdrückten Gefühle sprudelten jetzt nur so aus ihm heraus.
Ich gebe zu, irgendwann war es mir eigentlich zu viel, aber er war mein Vater, und ich hatte für ihn da zu sein, so wie er es für mich früher gewesen ist. Sein Tod war am Ende sicher auch eine Erlösung, aber ich spürte lange Zeit nur eine tiefe Trauer. Er war oft das Letzte woran ich vor dem Einschlafen dachte und das Erste nach dem Aufwachen. Doch dann war die Kreatur auf einmal da, ich „träumte“ das erste Mal in meinem Leben und mein eigenes Martyrium begann.
In der Therapie-Stunde kam nun die Frage auf, ob die intensive Zeit mit meinem Vater nicht vielleicht einen Einfluß auf meine Situation hatte. Ich wette selbst bei einer Ausbildung zum Priester hätte ich nie so viel über den Teufel erfahren, wie aus dem Munde meines Vaters. Seine akribischen Beschreibungen könnten mir sein Bildnis des Teufels ins Unterbewusstsein gehämmert und damit meinen nächtlichen Kompagnon geschaffen haben. Daran ist vielleicht was dran, auch wenn sich die Details nicht zu 100% decken. Laut meinem Vater hatte der Teufel Augen, die im fahlen Rot leuchten. Bei „meiner“ Kreatur waren sie Blau.
Sollte dies nun wirklich der Fall sein, dann ist es vielleicht der Durchbruch, auf den ich so lange gehofft habe. Egal aber was nun passiert, einen wichtigen Entschluss für die Zukunft habe ich gefasst: Meinem Sohn werde ich unter keinen Umständen jemals was von der Kreatur erzählen! Er ist zwar noch sehr Jung, hat aber jetzt schon eine gigantische Vorstellungskraft. Jedes mal beim Frühstück berichtet er von den fantastischen Geschichten, die er im Schlaf erlebt hat. Ich würde es nicht ertragen, wenn er durch meine Ausführungen auf den gleichen Weg gerät, von dem ich nicht mehr runterkommen kann.
Gedankenverloren starre ich auf die leere Kreuzung, die vor mir liegt. Ein lautes Hupen reisst mich aus meiner Welt und ich drücke instinktiv auf’s Gaspedal. Als ich gerade merke, dass ich tatsächlich bei Rot losgefahren bin, ist es schon zu spät. Ein Laster kracht mit Vollgas auf die Fahrerseite und ich spüre, wie sich der Metallrahmen des Autos durch meinen Körper schiebt. Mein letzter Gedanke auf dieser Welt gilt meinem Sohn und dann verliere ich das Bewusstsein…
KAPITEL 3
Nach langer Stille und einem schier-unendlichen Meer des Nichts öffne ich langsam die Augen. Es ist sehr dunkel und ich kann kaum was sehen, doch ich erkenne die Umrisse eines Körpers vor mir. Ich war wohl so lange ausgeknockt, dass ich noch Probleme habe, mich zu fokussieren. Aber was ist eigentlich überhaupt los? Ich strenge meinen Kopf an und langsam kommt die Erinnerung zurück. Ich denke an die lange Fahrt im Auto, den starken Regen, wie ich auf die Kreuzung gefahren bin. Und den Laster, der mein Auto komplett zerstört hat.
Könnte ich tatsächlich überlebt haben? Der unglaubliche Schmerz, den ich in meinen letzten wachen Momenten spürte, ist jedenfalls komplett verschwunden. Liege ich im Krankenhaus und bin voll mit Schmerzmitteln? So oder so, ich bin mir sicher, dass meine Verletzungen nicht gerade einfacher Natur sind. Wenn mich die Ärzte aber aufgeweckt haben, dann gibt es immerhin Grund zur Hoffnung. Ich versuche etwas zu sagen, auf mich aufmerksam zu machen, doch statt meiner Stimme vernehme ich nur ein schwaches Grummeln.
In dem Moment wird mein Blick langsam klarer und ich merke, dass ich gar nicht in einem Krankenhaus bin. Allerdings kommt mir der Raum auch irgendwie vertraut vor, als ob ich mich hier heimisch fühle. Nach und nach erkenne ich immer mehr Details, wie die Vorhänge mit dem bunten Karo-Muster und das kleine Nachtlicht, welches auf der gegenüberliegenden Seite nahe der Zimmertür durch das Dunkel schneidet. Ich kann alles gleichzeitig sehen, ohne die Augen bewegen zu müssen. Dann fällt mein Blick auf den Körper vor mir und das Blut gefriert in meinen Adern.
Ich sehe meinen Sohn, seine Augen weit aufgerissen, wie er starr in seinem Kinderbett liegt. Er schaut mich direkt an, doch sagen tut er nichts,. Er sieht fast wie eine Puppe aus, eine ohne Gelenke, die nur in ihrer festen Pose verweilen kann. Auf seinem Gesicht erkenne ich zwei schwache, kreisrunde Lichter, die im fahlen Grün leuchten. Dann meine ich das Pochen seines Herzes zu hören. Erst ist es kaum zu vernehmen, dann wird es immer lauter und schneller, bis es fast wie ein Presslufthammer in meinem Schädel dröhnt. Ich versuche mich zu bewegen, will ihn in den Arm nehmen und sagen, dass alles Gut ist. Doch ich kann es nicht.
Mich übermannt eine panische Angst und tiefe Trauer, ich fange an zu weinen, aber aus meinen Augen kommen keine Tränen. Stattdessen spüre ich, wie kochend-heiße Luft aus meinem Mund weicht. Aus meinem Schluchzen wird ein tiefes, sonores Grollen.
Es tut mir leid, mein Junge.
Es tut mir so leid…
ENDE