Veröffentlicht: 03.09.2021. Rubrik: Unsortiert
Unübersetzbar(?)
Dieser Text ist keine Kurzgeschichte, sondern eher eine Art Essay. Ich hoffe, dass er trotzdem stehenbleiben darf. Danke!
Das eingeklammerte Fragezeichen im Titel will ich sofort erklären. In der Tat gibt es Unübersetzbares, wie ich – inzwischen im Ruhestand – während meiner Tätigkeit als Übersetzerin zur Genüge erfahren habe. Manchmal allerdings kann man schwierig erscheinende Textstellen dennoch in eine andere Sprache übertragen.
*
PROBLEME AUFGRUND VON WÖRTERN
Wenn von Unübersetzbarkeit die Rede ist, handelt es sich oft um einzelne Wörter. Als Beispiel diene das deutsche Wort Gemütlichkeit, welches als unübersetzbar gilt. Seltsamerweise wird dasselbe vom dänischen Wort hygge gesagt, das in Wörterbüchern meist als Übersetzung von Gemütlichkeit angegeben wird. Wir haben Verwandte in Dänemark, und ich persönlich habe bei Besuchen eigentlich nie einen Unterschied zwischen der „Gemütlichkeit“ bei unseren deutschen und der „hygge“ bei unseren dänischen Familienmitgliedern festgestellt. Wenn überhaupt, geht das Adjektiv „hyggelig“ eher in Richtung „heimelig“; ein lautstarkes deutsches Bierfest kann „gemütlich“ sein, aber kaum „hyggelig“. Fazit: in einigen Zusammenhängen sind „Gemütlichkeit“ und „hygge“ meiner Meinung nach durchaus als gegenseitige Übersetzung verwendbar, in anderen sollte man nach Alternativen suchen.
Unübersetzbar sind meist Wortspiele. Auch Bezeichnungen für etwas, was es nur im jeweiligen Sprachgebiet gibt, können lediglich durch Umschreibungen oder Erklärungen wiedergegeben werden.
*
PROBLEME AUFGRUND DER GRAMMATIK
An dieser Stelle bitte ich die geneigten Lesenden (hoffentlich ist das gendergerecht), zunächst meine Geschichte „Schrumpeligkeit“ zu lesen, sofern sie sie nicht schon kennen: https://www.kurzgeschichten-stories.de/t_3007.aspx.
Fertig? Diese Geschichte könnte aus grammatischen Gründen weder ins Dänische noch ins Englische übersetzt werden, vielleicht sogar in überhaupt keine andere Sprache. Die Pointe ist ja, dass die Protagonistin Dagmar die zufällig aufgeschnappten Worte „ihre Schrumpeligkeit“ auf sich bezieht, während in Wirklichkeit Äpfel bzw. eine Apfelsorte gemeint sind. Sowohl Dänisch als auch Englisch würden hier drei verschiedene Wörter für „ihre“ benutzen: „hendes / her“ in Bezug auf Dagmar, „deres / their“ in Bezug auf Äpfel und „dens / its“ in Bezug auf eine Apfelsorte.
Falls die dänisch- und englischsprachige Leserschaft allerdings unbedingt in den Genuss dieser Story kommen soll, ginge zur Not, statt „ihre“ das Wort „diese“ zu verwenden und zu übersetzen. Da unmittelbar danach der Name Michelle fällt und Dagmar dabei automatisch an die junge Nachbarin denkt, kann vermutet werden, dass sie „diese Schrumpeligkeit“ dann im Nachhinein auf sich selbst bezieht. Wie gesagt, manchmal helfen beim Übersetzen kleine Tricks.
Für das folgende Grammatikproblem habe allerdings auch ich keinen Rat. Zum Glück betraf es mich selber nie, aber ich las als Jugendliche ein Buch, von dem ich heute weiß: In z.B. romanische oder slawische Sprachen wäre es nicht übersetzbar! Die Pointe war, dass eine Person aus Norwegen, die aufgrund ihres Vornamens Inge von ihrer deutschen Brieffreundin für ein Mädchen gehalten wurde, sich nach Monaten als Junge herausstellte – Inge ist in Norwegen ein Männername.
In z.B. romanischen und noch mehr in slawischen Sprachen kann man kaum einen einzigen Satz schreiben, ohne sein Geschlecht erkennen zu lassen, siehe folgende Beispiele (bei Unterschieden steht zuerst die männliche und dann die weibliche Form).
Deutsch (germanische Sprache): Ich bin glücklich. Ich habe dieses Buch gekauft. (kein Unterschied)
Französisch (romanische Sprache): Je suis heureux / heureuse. J’ai acheté ce livre.
Kroatisch (slawische Sprache): Sretan / Sretna sam. Kupio / Kupila sam ovu knjigu.
(Ich frage mich, wie nichtbinäre Personen mit einer solchen Muttersprache denken und sprechen! Aber das ist ein anderes Thema.)
*
PROBLEME AUFGRUND DES KENNTNISSTANDES DER LESER
Noch einmal zurück zum Inge-Buch, von dem ich ja schrieb, es könne nicht in z.B. romanische oder slawische Sprachen übersetzt werden. Rein theoretisch wäre das durchaus möglich, denn Inges Briefe waren nie zu lesen, nur die der deutschen Brieffreundin. Jedoch sind romanisch- oder slawischsprachige Lesende vermutlich so daran gewöhnt, dass man das Geschlecht der schreibenden Person erkennen kann, dass sie die Auflösung nicht recht nachvollziehen könnten und sich „veräppelt“ fühlen würden.
So ging es jedenfalls mir in einem anderen Fall. Vor langer Zeit las ich einen aus dem Englischen übersetzten Krimi, dessen Pointe darin bestand, dass jemand namens Evelyn keine Frau, sondern ein Mann war. Im Englischen ist der Name Evelyn in sehr seltenen Fällen männlich, im Deutschen dagegen überhaupt nicht. Den Lesern des englischen Originals konnte der Autor zutrauen, selber die Lösung zu finden. Von deutschsprachigen Lesern konnte dies zumindest damals nicht erwartet werden, und auch heute denken hier in Mitteleuropa wohl nur wenige an den Schriftsteller Evelyn Waugh, wenn sie den Namen Evelyn lesen. Ich selbst hatte damals zwar schon von ihm gehört, aber zu meiner Schande muss ich gestehen, dass auch ich beim Lesen des Krimis nicht an ihn gedacht hatte und mich „veräppelt“ fühlte.
Was hätte ich getan, hätte ich dieses Buch übersetzen sollen? Hätte ich dem Verlag vorgeschlagen, "Evelyn" durch einen anderen Namen zu ersetzen, der im deutschen Sprachraum hauptsächlich weiblich, in seltenen Fällen aber auch männlich ist und zudem englisch klingt? Leider fällt mir keiner ein…
*
Man muss sich damit abfinden: Nicht alles ist übersetzbar. Hin und wieder lassen sich Schwierigkeiten jedoch lösen. Und manchmal finde ich Übersetzungen sogar besser als das Original. Auf Französisch sagt Obelix: „Ils sont fous, ces Romains.“ Die wörtliche Übersetzung „Sie sind verrückt, diese Römer“ klingt etwas langweilig, aber zum Glück steht in den deutschen Asterix-Bänden stattdessen der Satz der genialen Übersetzerin Gudrun Penndorf: „Die spinnen, die Römer!“