Veröffentlicht: 01.09.2021. Rubrik: Unsortiert
Schrumpeligkeit
Als Dagmar vom Einkaufen zurückkam, hörte sie ihren Mann Dieter im Wohnzimmer mit jemandem telefonieren. Er schien ihr Kommen nicht bemerkt zu haben. Sie blieb in der Diele stehen und vernahm seine Worte:
„…gerade gestern ist mir ihre Schrumpeligkeit besonders aufgefallen. Michelle wäre mir lieber.“
Zuerst war Dagmar fassungslos, dann überwältigte sie eine unbändige Wut. Michelle, die neue Nachbarin! Gerade mal zwanzig, daher auch noch nicht schrumpelig. Sie, Dagmar, dagegen: seit über dreißig Jahren mit ihm verheiratet, Oma seiner drei Enkelkinder. Natürlich nicht mehr faltenfrei. Was im Übrigen auch er nicht mehr war. Aber leider, dachte Dagmar, wirken Falten bei Männern oft attraktiv, bei Frauen einfach nur alt.
(Schon früher hatte sie über dieses Phänomen nachgedacht und vermutet, dass es an der Evolution lag: optimal für die Arterhaltung waren Frauen im gebärfähigen Alter und reife Männer, die sie und den Nachwuchs beschützten.)
Zu schrumpelig, dessen war Dagmar sich sicher, durften allerdings auch Männer nicht sein, wenn sie Chancen bei jungen Mädels haben wollten. Ob Michelle überhaupt an Dieter interessiert war? Bestimmt nicht! Das würde sie, Dagmar, ihm gleich sagen, sobald er sein unsägliches Telefonat beendet hatte!
Jetzt hatte der Gesprächspartner offenbar aufgehört zu reden, und Dieter ergriff von neuem das Wort, gespannt belauscht von seiner in der Diele stehenden Frau:
„Gut, dann komme ich also morgen bei Ihnen vorbei und kaufe eine Kiste der neuen, festeren Apfelsorte ‚Michelle‘!“