Veröffentlicht: 15.08.2021. Rubrik: Menschliches
All Kinds of Everything
Sofort am Anfang ihrer Beziehung hatte Dana Riediger ihrem Partner Torben Breitfeld gesagt, dass sie keine Kinder bekommen könne. Zu ihrer Erleichterung hatte er geantwortet, dass ihm das nichts ausmache: „Es gibt sowieso schon zu viele Menschen auf der Welt.“
Torben zog zu ihr, und Dana war glücklich. Sie war so verliebt, dass sie bei allem, was sie sah und hörte, an ihn dachte – ganz wie es in dem Song heißt, mit dem Dana Rosemary Scallon 1970 den Eurovision Song Contest für Irland gewann: All kinds of everything remind me of you. Er war das Lieblingslied ihrer irischen Großmutter gewesen, und Dana verdankte dieser Tatsache ihren Vornamen.
Ein wenig betrübte es sie zwar, dass Torben von Ehe nichts wissen wollte, aber sie akzeptierte seine Begründung: „Ist doch heute nicht mehr nötig, zumal wir keine Kinder haben.“
Anderthalb Jahre später kam dann der Schock. „Dana“, sagte Torben eines Abends, „wir müssen uns leider trennen. Meine Kollegin Fabienne ist von mir schwanger. Ich möchte sie heiraten.“
Dana sank auf einen Stuhl. Ihr war, als müsse sie sterben. Dann jedoch brach ihr irisches Temperament durch. „Geh!“ schrie sie. „Raus! Geh zu der anderen und komm mir nie wieder unter die Augen! Ich gebe dir eine Stunde Zeit, deinen Kram zu packen! Wenn du danach immer noch hier bist, rufe ich die Polizei!“
*
Sechs Monate waren seitdem vergangen. Dana lebte wieder allein in ihrer Wohnung. Zuerst hatte sie umziehen wollen, da alles darin – all kinds of everything – sie an Torben erinnerte. Dann begnügte sie sich jedoch damit, einige Möbel umzustellen und andere kleinere Veränderungen vorzunehmen.
Sie wusste, dass Torben und Fabienne inzwischen geheiratet hatten, und suchte jeden Morgen in der Lokalzeitung nach einer Geburtsanzeige, denn sie sagte sich: „Da der Mistkerl sich entgegen seiner früheren Äußerung unbedingt fortpflanzen wollte, wird er bestimmt die ganze Stadt von dem Ergebnis in Kenntnis setzen.“
Doch als dann die Nachricht erschien, war es keine Geburts-, sondern eine Todesanzeige.
Bei der Geburt unseres Töchterchens Pia verstarb meine liebe Frau Fabienne Breitfeld …
Dana war sich im Klaren, dass es verwerflich war, aber im Augenblick verspürte sie nichts als überbordende Schadenfreude. „Das haben die beiden nun davon, dass sie mir das angetan haben! Das geschieht ihnen recht! Sie tot, er mit Kind allein. Ha! Das Kind kann einem ja leidtun, aber sowas passiert nun mal. Ausgerechnet Pia heißt sie, lateinisch für ‚die Fromme‘! Wo ihre Eltern alles andere als fromm waren!“
Zufrieden sah sie, dass oben auf der Anzeige stand „Statt Karten“. Das bedeutete, dass sie keinen persönlichen Trauerbrief bekäme, auf den sie hätte reagieren müssen. Der Termin für die Beisetzung war zwar angegeben, aber selbstverständlich würde sie nicht hingehen.
*
Fünf Jahre später saß Dana mit einem Kaffee in der Empfangshalle ihres Urlaubshotels im Alpenvorland, als eine schwangere Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand die Rezeptionsdame etwas fragte. Schon vorher hatte sie die beiden mehrmals gesehen. Da es in der Halle ziemlich laut war, verstand Dana nur Bruchstücke des Gesprächs, aber deutlich vernahm sie „Frau Breitfeld“ und „Pia“. Auch die Heimatstadt der beiden wurde erwähnt: es war Danas eigene.
In ihrem Kopf drehte sich alles. Dann zwang sie sich zur Vernunft. „Es ist doch völlig normal“, sagte sie sich, „dass Torben wieder geheiratet hat und mit der neuen Frau erneut Vater wird. Und offenbar kümmert sich die Stiefmutter gut um Pia. Besser kann es doch gar nicht sein.“
Sie trank ihren Kaffee aus und verließ das Hotel zu einem kleinen Spaziergang. Doch sie konnte sich nicht ablenken. Was sie auch sah – alles erinnerte sie an Torben. All kinds of everything…
Warum hatte er, als er nach Fabiennes Tod wieder heiraten wollte, nicht zuerst sie, Dana, gefragt? Natürlich hätte sie ihn abgewiesen, aber hätte er es nicht zumindest gemusst? Hatte er unbedingt ein zweites Mal zur Überbevölkerung der Erde beitragen wollen?
Sie ging zum Hotel zurück und hörte beim Gang zum Aufzug gerade noch, wie die kleine Pia zu der Rezeptionsdame sagte: „Papa holt uns in einer Stunde mit dem Auto ab.“
*
Torben Breitfeld fuhr mit seinem Wagen bis zum Haupteingang des Hotels. Er dachte an Ilka und Pia. Dann hätten sie nicht so einen weiten Weg. Waren sie schon da? Nein, er war ja auch etwas zu früh. Aber jemand anderes stand an der Tür…
„Guten Tag, Torben“, sagte Dana.
Er konnte es nicht fassen. „Dana! Wo kommst du her?“
„Ich bin hier im Urlaub und hörte deine kleine Tochter sagen, dass du kämest. Ein nettes Kind übrigens, deine Pia.“
„Ja, danke … du weißt, dass ihre Mutter gestorben ist?“
Dana nickte nur, und Torben fuhr fort: „Es hat mir damals leidgetan, das mit uns beiden. Sicher, wir waren nicht verheiratet, aber trotzdem war es nicht anständig von Fabienne und mir.“
„Es hat mir sehr weh getan“, sagte Dana, „aber es ist nun mal passiert, und… ich freue mich, dass es Pia gibt. Jetzt bekommt sie ja auch bald ein Geschwisterchen.“
Torben guckte völlig verdutzt. „Wovon redest du?“
Jetzt war auch Dana verwirrt. „Na, man sieht doch… deine neue Frau…“
Endlich begriff er und lachte lauthals. „Ach, du meinst Ilka! Sie ist nicht meine Frau! Sie ist meine Schwägerin! Die Frau meines jüngeren Bruders. Ich bin ihr dankbar, dass sie sich so um Pia kümmert. Demnächst, wenn sie ihr eigenes Kind hat, wird sie das nicht mehr so können, aber zum Glück kommt Pia bald in die Schule. Irgendwie wird es schon weitergehen.“
„Torben“, sagte Dana, „nächstes Wochenende bin ich wieder zu Hause, und wenn Ilka keine Zeit mehr hat, kann ich mich sehr gern um Pia kümmern!“
„Tätest du das?“, fragte er erstaunt und dankbar.
„Natürlich! Vielleicht können wir auch alle drei mal etwas zusammen unternehmen…“
„Ist deine Telefonnummer noch dieselbe?“, fragte Torben, und als Dana bejahte, schmunzelte er: „Ich erinnere mich noch an deinen Klingelton: All Kinds of Everything…“