Veröffentlicht: 26.07.2021. Rubrik: Total Verrücktes
Der Verein der ungünstigen Vornamen
VORWORT: Dies ist eine – von Winterrose vorgeschlagene – Fortsetzung der Geschichte „Der Verein der ungünstigen Geburtstage“: https://www.kurzgeschichten-stories.de/t_208.aspx#kommentare
Als im September 2019 die „Bielefeldverschwörung“ offiziell beendet worden war, da niemand die Richtigkeit der Behauptung beweisen konnte, war June niedergeschlagen. Nun konnte sie nicht mehr behaupten, ihre Geburtsstadt existiere gar nicht und sie sei in Wirklichkeit an einem 30. Juni auf einem Schiff geboren worden, das über die Datumsgrenze gefahren sei, weswegen auf ihrer Geburtsurkunde der 1. Juli stehe.
Diese Ausrede hatte Ronja vom „Verein der ungünstigen Geburtstage“ ihr empfohlen. June hatte diesem beitreten wollen, weil sie sich darüber ärgerte, dass sie June hieß, aber im Juli geboren war. Doch die Satzung des Vereins sah solche Fälle nicht als ungünstige Geburtstage an.
Plötzlich dachte June an ihre frühere Mitschülerin Alice. Im Internet fand sie heraus, dass diese noch immer in der Nähe wohnte. Auch ihre E-Mail-Adresse stand im Netz. Noch am selben Tag mailte June wie folgt an sie:
Hallo Alice,
du bist sicher überrascht, wieder mal von mir zu hören. Wir waren ja in derselben Klasse und hatten beide Probleme mit unseren Vornamen. Deiner wurde ja auf die unterschiedlichste Weise ausgesprochen: Ällis, Aliis, Aliiße…
Hättest du Lust, mit mir zusammen einen „Verein der ungünstigen Vornamen“ zu gründen? Dann melde dich bitte mal (meine Kontaktdaten: siehe unten)!
Liebe Grüße, June
Schon am nächsten Morgen kam eine Antwort. Alice war begeistert von der Idee, und so trafen sich die beiden Leidensgenossinnen einige Tage später in der Wohnung von June, um die Gründung des Vereins zu planen. Dies erwies sich als schwieriger als gedacht, denn was genau war ein ungünstiger Vorname?
„Wir können nicht jede Chantal und jeden Kevin aufnehmen, nur weil diese Namen inzwischen als problematisch gelten.“
„Nein, und ebenso können wir keine 75-jährige Waltraud aufnehmen, die sich über ihren unmodernen Vornamen ärgert.“
„Eine 25-jährige Waltraud aber vielleicht doch? Sollen wir sagen: Wenn der Name bei der Geburt der betreffenden Person schon seit mehr als 20 Jahren veraltet war, nehmen wir sie auf?“
„Ja, das ginge. Aber wenn der Name dann auf einmal wieder modern wird? So wie es bei Emma oder Frieda war?“
„Wir könnten eine Klausel einbauen, die es den Mitgliedern nahelegt, den Verein in diesem Fall freiwillig wieder zu verlassen. Dann wären ihre Namen ja nicht mehr ungünstig.“
„Die Schwierigkeit hier in Deutschland ist ja, dass man Vornamen nicht so einfach ändern kann. Andere Staaten sind da liberaler. Hierzulande müssen schon wirklich triftige Gründe vorliegen. Unser Verein könnte Leute aufnehmen, die Ärger mit ihren Namen haben, aber deren Problem nicht schwer genug ist, um von den Behörden anerkannt zu werden.“
Der Verein wurde gegründet und wuchs schnell. Bald war er in jedem Bundesland vertreten. Die Motive der Beitrittsinteressenten waren vielfältig und reichten von Ausspracheproblemen („Ich heiße Roger, und niemand weiß, ob er den Namen deutsch, englisch oder französisch aussprechen soll“) bis hin zu Vorname-Nachname-Konflikten („Wenn ich mich vorstelle, lacht jeder – ich heiße Claire Grube“).
June und Alice sowie von ihnen geschulte Berater betreuten die Mitglieder. Manchmal war ein Problem so groß, dass sie dem Mitglied rieten, es doch einmal mit einem Namensänderungs-Antrag beim Standesamt zu versuchen – so auch bei Claire Grube, die sich schließlich Clarissa Grube nennen durfte.
In den meisten Fällen allerdings fand man ohne Namensänderung eine Lösung. Für Roger zum Beispiel hatte Alice folgenden Rat: „Mir ging es genauso. Ich habe dann schließlich allen mitgeteilt, dass ich die englische Aussprache wünsche. Auch du solltest dich für eine der drei Versionen entscheiden und darauf bestehen, nur noch so genannt zu werden.“
June wiederum wurde von einem Mädchen angeschrieben, das genau dasselbe Problem hatte wie sie, nur mit umgekehrtem Vorzeichen: „Ich heiße Juli, obwohl ich gar nicht im Juli geboren bin. Kann ich bei euch Mitglied werden?“ Nach einigem Nachdenken antwortete June: „Kannst du, aber vielleicht ist das gar nicht nötig. Vor kurzem las ich nämlich, dass die berühmte Juli Zeh, die eigentlich Julia heißt, an einem 30. Juni geboren wurde. Sie nennt sich also trotzdem freiwillig Juli! Das kannst du allen sagen, die über deinen Namen dummes Zeug reden.“
Nur einmal, im Sommer 2020, wusste niemand im Verein einen guten Rat. Man nahm die Antragstellerin zwar auf, bedeutete ihr aber, dass man möglicherweise keine Lösung für ihr Problem finden würde. „Als wir unseren Verein gründeten, konnten wir nicht voraussehen, dass so etwas passieren würde. Vielleicht kannst du es ja doch mal beim Standesamt probieren. Dort müsste man eigentlich Verständnis für dich haben und eine Namensänderung genehmigen. Versuch’s einfach mal, Corona.“