Veröffentlicht: 21.06.2021. Rubrik: Fantastisches
Die Kinder des Schlafes
Ein Windhauch zog durch die Dunkelheit der Nacht, über eine Wiese, auf welcher nie die Sonne schien. Der Windhauch schien besorgt, blickte um sich, bis er zwei Gestalten fand; ein Mann und ein Hund, die über die Wiese spazierten.
Rasch gesellte er sich zu ihnen.
»Brüder!«, rief der Windhauch, welcher den Namen Phantasos trug. »Sagt mir, habt ihr gehört, was mit dem Tod geschah?«
»Ich hörte, er sei nicht mehr dort, wo er sein sollte«, sagte der Hund. Sie alle waren formlos und wechselhaft, und egal wie lange man sie ansah, konnte man in diesem Moment doch keine geringere Beschreibung über sie abliefern, als das, was sie waren: ein Mann, ein Hund und ein Windhauch.
»Nein, das ist er mit Sicherheit nicht«, sagte der Windhauch. »Er wurde eingesperrt!«
Der Hund setzte sich ins verdorrte Gras. »Ob uns das wohl zu denken geben sollte?«, fragte er.
Der Windhauch stieß ein Zischen aus, wie ein Blitz, aus dem tiefsten seines innersten. »Wenn man ihn gefangen hat, was ist dann mit uns? Was ist mit Vater?«
»Unser werter Onkel hat es doch geradezu herausgefordert, eingekerkert zu werden«, sagte der Hund, welcher Phobetor hieß. »Meint ihr wirklich, dass Vater so einen Fehler machen würde?«
»Wer weiß«, sagte der Mann, namens Morpheus.
»Es sind neue Zeiten angebrochen«, zischte Phantasos. »Und wisst ihr was: aus irgendeinem Grund macht es mir ungeheure Sorgen.«
»Was erwartet ihr denn zu tun, Brüder?«, knurrte der Hund. »Sollen wir etwa Rebellieren?«
Die Blitze in Phantasos inneren verstummten. Stattdessen begann er zu grollen, wie ein Erdrutsch. »Rebellieren?«, rief er. »Was für ein dummer Plan. Wir reden davon, was mit Onkel geschehen ist, und du redest davon, wie wir ihm am ehesten in die Verdammung folgen? Denkst du wirklich, dass es uns etwas bringen würde, wenn wir Rebellieren würden?«
»Nicht jetzt. Wir sollten warten, geduldig, nur für ein paar hundert Jahre. Nur, bis Onkel Tod die Freiheit zurückerlangt hat. Was hätten wir ohne ihn für eine Chance?«
Morpheus seufzte. »Die einzige Chance, die wir haben, ist es, mit Geduld zu warten, so wie es immer war und immer sein wird.«
»Ich finde es wahrlich albern, dass wir, die hohen Könige und Prinzen, uns dem Willen irgendwelcher falschen Götter neigen müssen. Denkt doch zurück, wie es früher war.«
Die Stimme Morpheus’ erhob sich über sie, wie eine Axt. »Früher war früher«, sagte er scharf, »doch die Zeit gibt nichts auf die Vergangenheit. Was macht es für einen Unterschied, wer wir sind? Wir sind alt, die Nachfahren der Nacht selbst, und wir folgen veralteten Sitten. Vielleicht sind wir größer als sie. Aber auch eine Schar aus Ameisen ist irgendwann in der Lage einen Menschen zu töten, solange sich ihr Gegner nicht weiterentwickelt.«
»Vergleichst du uns etwa mit Menschen?«, murmelten beide, Hund und Windhauch.
»Ich vergleiche sie mit Ameisen«, stellte Morpheus klar. »Wenn sich eine niedere Kreatur weiterentwickelt und lernt, mit dem Feuer umzugehen, Blitze zu fangen und ganze Welten zu nichts als Staub zu verwandeln … was sollen wir da noch machen? Auch wir sind an gewisse Regeln gebunden, meine Brüder. Wir und Vater und selbst unser törichter Onkel. Was bleibt uns da?«
»Ich finde es einfach nur albern«, murmelte Phobetor.
Morpheus lächelte. »Doch so ist nun einmal der Lauf der Dinge. Irgendwann werden sie fallen und dann kommen die Nächsten. Uns bleibt nur, geduldig zu warten und jede Möglichkeit zu nutzen, die uns bleibt.«