Veröffentlicht: 26.04.2021. Rubrik: Grusel und Horror
Die rote Seele
Die Straße war abgelegen, fern von jeglicher Zivilisation, irgendwo in Texas. Die Sterne standen am Himmel, der Mond war voll und rund und rot wie Blut. Ein Blutmond.
Und die Straße war eine Kreuzung bei Nacht.
Er putzte seine Nase mit einem Taschentuch, knurrte laut, klapperte mit den Zähnen – es war unheimlich und unheimlich kalt. Sebastian, so hieß er, trug einen dicken Mantel und einen Zylinder und er war nicht an solche Temperaturen gewohnt.
Aus der Tasche seines Mantels zog er ein Buch hervor. Es war ein altes Buch, mit vergilbten Seiten und einem dicken ledernen Einband. Und es war nicht nur irgendein einfaches Buch, wie man es in jedem x-beliebigen Buchladen in Massen fand, nein, dieses Buch war einzigartig. Es war ein Zauberbuch. Das ›Magikó vivlío‹, wie es mit alten silbernen Lettern auf den Einband gepresst war.
Er schlug das Buch auf und blickte auf die Seite, die er seit Wochen studierte. Immer diese eine Seite – ehrlich gesagt hatte er sich nicht einmal die Mühe gemacht, die anderen Seiten aus dem Griechischen zu übersetzen. Er starrte auf die Formel, zog die Zutaten aus seiner Tasche; ein Stück Kohle, die Knochen eines Raben (oder ersatzweise einer Taube), der Zahn eines Kindes und eine Prise Salz.
Er sprach die Formel, flüsterte sie voller Ehrfurcht und als er gesprochen hatte, brach der Boden unter ihm, Schwefel stieg auf, eine Hand zog sich aus der Erde hinauf, dann ein Arm und eine Schulter, die in einem Kopf endete, und dann stand ihm ein Mann gegenüber. Auch er trug einen Mantel und einen Zylinder, und selbst sein Gesicht war dasselbe … er war eine perfekte Kopie von Sebastian, nur die Farbe war anders, Mantel und Zylinder, bis hin zur Haut waren eingetaucht in tiefes scharlachrot.
»Guten Abend.« Flüsterte der Ankömmling. Selbst seine Stimme stimmte mit der von Sebastian überein, nur verdreht und verzehrt, wie die Aufnahme von einem Grammofon.
»G-guten Abend«, antwortete Sebastian. »I-ich m-m-möchte …«
»Ich denke, ich weiß bestens, was du von mir möchtest. Natürlich weiß ich das, warum sollte man auch aus irgendeinem anderen Grund zu mir kommen? Also, mein bester, du willst einen Handel mit mir abschließen, einen Pakt, einen Deal. Darum sag mir einfach, was willst du?«
Sebastian schluckte den Kloß in seinem Hals herunter, packte neuen Mut, und sagte frei heraus: »Ich will, das du mich unsterblich machst!«
»Oh ja, das wollen viele, so viele. Ich schätze, es ist nicht das Schlechteste, was man sich wünschen kann. Aber sag mir, was bist du bereit, dafür herzugeben?«
»Ich dachte«, er schluckte. »Bitte, es ist sehr irritierend, mit sich selbst zu sprechen, wärt ihr wohl so freundlich …«
»Wie schade«, der Dämon seufzte auf »Dabei habe ich mich gerade erst richtig in der Haut eingefunden. Tja, aber wie sagt man, der Kunde ist König.«
Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde fuhr der Dämon aus seinem Körper hervor und nahm eine andere Gestalt an, die Form einer jungen Frau. Haut, Haar und Kleid waren in einem einzigen scharlachrot.
»Nun, wo waren wir stehengeblieben?« Sagte die ›Frau‹.
»Ja, ich würde euch meine Seele anbieten!«
»Der Klassiker, eine Welt für eine Ewigkeit in den Flammen.« Der Dämon lachte »Aber du kannst mich nicht für dumm verkaufen. Nicht mich. Wie soll ich deine Seele nehmen, wenn du ewig lebst? Wenn kein Tod sie dir entreißen kann, abgeschirmt von der kalten Hand des Sensenmannes. Wie stellst du dir das vor?«
»Ich kann etwas anderes anbieten!« Sagte Sebastian schnell. »Eine, nein, zwei andere Seelen. Zwei Leben für mein eigenes, ist das nicht fair?«
»Zwei Seelen?« Die Frau, nein, der Dämon schmunzelte »Das klingt angebracht.«
»Dann abgemacht?« Sebastian streckte seine Hand zum Handschlag aus.
»Natürlich.« Er, oder sie, schlug ein.
Sebastian klapperte vor Aufregung mit den Zähnen, ließ das Grimoire fallen, es war ihm, als würde ein Blitz durch seine Knochen fahren. Er ließ die Hand los. Der Dämon lächelte.
»Nicht das es mich etwas anginge, aber was sind das für zwei Seelen? Wen gehören sie?«
»Ich … ich habe eine Frau … und einen kleinen Sohn.«
Schnatzend schüttelte der Dämon mit dem Kopf. »Oh Mannomann, das wird dem Mann dort oben aber sicher nicht gefallen. Nun … Ich für meinen Teil werde einfach ruhig und brav auf die mir versprochenen Seelen warten.«
Mit einem Lachen verschwand der Dämon wieder, der Spalt in der Erde zog sich zusammen und ruhe kehrte auf der Kreuzung ein. Eine stinkende, lang anhaltende ruhe.