Veröffentlicht: 06.04.2021. Rubrik: Nachdenkliches
Befreiung
März 2020
Heute war er da, der große Tag. Nach vielen Jahren der Unsicherheit und des Kampfes würde Louise heute endlich ihre neue Anstellung in einem renommierten Unternehmen antreten. Würde sie es ohne Probleme und düstere Gedanken durch den Tag schaffen?
Seit Jahren litt Louise an einer schweren Angststörung, die es ihr über viele Monate praktisch fast unmöglich machte ihren Lebensalltag ohne Hilfe zu bestreiten.
Panikattacken, Ängste, Sorgen, Gewichtsverlust, Nervosität, Herzrasen, Übelkeit, Magenbeschwerden, Ohrensausen, Depressionen, Einsamkeit, Misstrauen und Hoffnungslosigkeit waren ihre ständigen Begleiter.
Doch all die Kraft, die sie in den letzten Jahren investiert hatte, um gesund zu werden und sich mühsam Stück für Stück zurück ins Leben zu kämpfen, sollte sich heute bezahlt machen. Es war ein langer, harter Weg den sie zurückgelegt hatte. Doch Louise wusste ganz tief in ihrem Inneren immer, dass sich der Kampf lohnen würde. Eines Tages würde sie wieder ganz gesund sein und ihr Leben genießen können.
Tatsächlich lief der erste Tag in der neuen Firma sehr gut und Louise hatte ihre Emotionen gut im Griff. Die Kollegen nahmen sie herzlich und offen auf, erklärten ihr alles und der neue Arbeitsplatz gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. In der Mittagspause jedoch, entschied sie sich lieber an der frischen Luft spazieren zu gehen, als mit all den fremden Menschen in einer stickigen Kantine an einem Tisch zu sitzen. Dies war eine der vielen Situationen, die ihr ein ungutes Gefühl gaben. Vermeidung wirkte manchmal besser als volle Konfrontation. Um die Krankheit im Griff zu behalten, musste sie taktisch klug vorgehen.
Auch der Rest der Woche verlief glücklicherweise problemlos. Sollte es nun wirklich endlich soweit sein? Hatte sie die Krankheit endlich überwunden? Endlich eine sichere und gute Anstellung gefunden nach der sie jahrelang gesucht hatte?
Ein vorsichtiges Gefühl des Glücks und der Zufriedenheit regte sich in ihr.
Doch unterschwellig im Hintergrund bahnte sich die wahre Katastrophe an. In den Nachrichten gab es vermehrt Meldungen von einem unbekannten Virus, das in Wuhan am Ende des Vorjahres ausgebrochen war. Doch wen interessierte schon Wuhan? Louise lebte schließlich im Norden Europas.Wuhan liegt viele tausende Kilometer entfernt auf einem anderen Kontinent.
Sie versuchte somit die Nachrichten auszublenden, um ihrer Angst keinen Nährboden zu geben. Immerhin hatte sie es gerade so weit geschafft. Ein tödliches Virus sollte die Menschheit bedrohen? Wie geschaffen für Ängste und Panikattacken.
Doch die Nachrichten häuften sich und in ihrer erst zweiten Arbeitswoche erhielt das gesamte Team eine E-Mail der Geschäftsleitung mit der Information, den Firmenlaptop nach Feierabend immer mit nach Hause zu nehmen, für den Fall das aufgrund erhöhter Ansteckungsgefahr das Büro nicht mehr betreten werden darf. Ebenso kam die Nachricht, dass mit sofortiger Wirkung alle Kindergärten und Schulen auf unbestimmte Zeit geschlossen werden. Louise traute ihren Ohren kaum.
Und lautlos bahnte sich die Angst langsam wieder ihren Weg an die Oberfläche.
Drei Tage später erhielt Louise die Anweisung, von zu Hause zu arbeiten. Die Geschäftsleitung sprach das Betretungsverbot für das Bürogebäude aus, sämtliche Kommunikation verlagerte sich auf Telefonkonferenzen und Online-Meetings.
Die Welt geriet völlig aus den Fugen!
Alles, was seit Jahrzehnten selbstverständlich erschien, wurde verboten. Die größte Gefahr ging davon aus Menschen zu treffen. Ihnen nahezukommen und so selber Träger des tödlichen Virus zu werden und zu erkranken. Oder das Virus unwissentlich weiterzugeben und somit andere Menschen zu gefährden.
Freunde, Familie, Partner, selbst die eigenen Kinder wurden zu einer potenziellen Gefahrenquelle.
Die Welt wusste so gut wie nichts über das Coronavirus und die daraus resultierende Lungenerkrankung COVID-19, die hauptsächlich die Älteren und Menschen mit schwachem Immunsystem dahinraffte.
Quarantäne, Infektionsrate, exponentielles Wachstum, Inzidenzwert, Ausgangsbeschränkung, Reiseverbot, Hochrisikogebiet, Pandemie, größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg, Masken, Spuckschutz, Kontaktverfolgung, Corona-Gipfel, AHA-L Regeln, Flugverbot, Lockdown! Eine neue Welt!
Das gesamte Leben wurde heruntergefahren. Zuhause bleiben und Kontakte vermeiden wurden die Gebote der Stunde.
Ein gefundenes Fressen für Louise Angst, die sich nun, da sie allein in ihrem heimischen Wohnzimmer saß, morgens bei einer Tasse Tee mit voller Wucht zurückmeldete.
Und Louise spürte, wenn sie nicht sofort mit allen verfügbaren Mitteln dagegen ankämpfte würde die Angst endgültig gewinnen.
Ihre Seele und ihr Körper würden es nicht nochmal schaffen. Wenn die Angst diesmal siegte, würde sie sich ganz sicher für den Tod entscheiden.
Sie stand schon einmal vor dieser Entscheidung. Leben oder Tod! Wie lebenswert war das Leben, wenn sie nicht daran teilnehmen konnte? Wenn sie dazu verdammt war bis an ihr Lebensende in ihrer Wohnung festzusitzen?
Das gesellschaftliche Leben funktionierte nach einem gewissen Schema. Wer nicht in dieses Schema passte, wurde zum Außenseiter. Passte nicht dazu. Für den gab es keinen Platz.
Sie wollte nicht so enden und sie wollte auch nicht sterben. Die Angst durfte nicht siegen. Louise würde ein letztes Mal all ihre Kräfte zusammenraffen und kämpfen. Den ultimativen Befreiungsschlag ausführen, um zu siegen und die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerlangen.
Und das war es, was sie tat.
Im tiefen, dunklen Abgrund voller Angst, ein Ort ohne Hoffnung und Glück nahm Louise all ihren Mut zusammen, überwand all die unsichtbaren Hindernisse und blickte der Angst direkt ins Gesicht.
Louise starrte sie stundenlang an! Sie brüllte sie an! Schrie sie an! Sie lachte sie aus! Louise lachte ihre Angst so lange aus bis von ihr nichts mehr übrig blieb. Bis sie aufgab und wie ein verkümmertes Wesen auf dem eiskalten Boden lag. Denn die Angst verstand genau, Louise hatte sie durchschaut! Sie hatte das Spiel verloren.
Louise war frei!