Veröffentlicht: 05.04.2021. Rubrik: Fantastisches
Pendler
Meine Geschichte ist unglaublich, aber ich muss sie aufschreiben. Vielleicht um mir selbst zu beweisen, dass sie tatsächlich so passiert ist. Ich weiß immer noch nicht, was ich damit anfangen soll. Ich glaube nicht, dass ich das je wissen werde.
Vorgestern Abend saß ich im Zug von Nürnberg nach Würzburg, wie jeden Tag. Es war Freitag und ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir. Die Coachings mit den Mitarbeitern waren nicht wie geplant gelaufen. Ständig hatten wir technische Probleme. Ich hatte in dieser Woche viel weniger erreicht, als ich wollte. Nun hatte ich vor, dass alles erst einmal hinter mir zu lassen. Ich freute mich auf ein ruhiges Wochenende, gutes Essen und keinen Zeitplan, dem ich hinterherhinken könnte.
Wie jeden Abend spielte ich an meinem Handy ein Puzzlespiel um die Zeit tot zu schlagen und mich abzulenken. Es hilft mir immer, um mit dem Tag abzuschließen und alles noch einmal einzuordnen, während meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet ist.
Ich hatte mich in ein Vierer-Abteil gesetzt. Wie immer, war der Zug um diese Zeit voll mit vielen anderen Pendlern und jetzt in der Vorweihnachtszeit auch mit Ausflüglern, die den Nürnberger Christikindlesmarkt besucht hatten und nun auf dem Nachhauseweg waren.
Während ich auf mein Display starrte und versuchte die einzelnen Teile zu einem Bild zu verbinden, blendete ich langsam die Gespräche und das sinnlose Gemurmel aus. Schon nach einigen Minuten hatten wir Nürnberg hinter uns gelassen und damit auch die Lichter der Stadt. Es war stockdunkel und nur der Regen, der gegen die Scheibe prasselte und das Surren der Zugmaschine zusammen mit einem leichten Ruckeln ließ vermuten, dass wir uns überhaupt bewegten. Herausgelöst aus Zeit und Raum, starrte ich durch das Fenster in die Dunkelheit.
Kennen sie dieses nagende Gefühl beobachtet zu werden? Ich hatte es schon erlebt, allerdings war es noch nie so intensiv gewesen. Ich hatte mein Puzzle zur Hälfte zusammengesetzt und versuchte nun angestrengt das Gefühl zu ignorieren. Aber dieses Gefühl nagte weiter an mir.
Wie in jeder größeren Gesellschaft, gab es auch hier im Zug nur wenige direkte Blicke zwischen Unbekannten und wenn dann nur kurz. Selbst wenn wir alle so dicht zusammensaßen, gingen wir uns doch aus dem Weg. Ich konnte das Gefühl nicht mehr ignorieren und ließ meinen Blick über die anderen Fahrgäste schweifen. Nichts auffälliges, keiner starrte mich an. Schon komisch, diese Gefühle. Es war 18:21 Uhr. Also hatte ich schon die Hälfte meines Weges hinter mir.
Ich versuchte mich wieder auf mein Spiel zu konzentrieren, doch das Gefühl war immer noch da. Ich spürte ein Kribbeln an meinen Hinterkopf. Meine Nackenhaare stellten sich auf und irgendwie war mir plötzlich kalt.
Auf einmal war ich draußen auf den dunklen Gleisen, der kalte Regen schlug mir ins Gesicht. Vor mir war ein Streckensignal. Ich spürte einen plötzlichen Druck. Das Signal war grün, das ist falsch, es müsste rot sein, warum ist es nicht rot? Sei rot. Sei Rot! Trotzdem spürte ich gleichzeitig, dass ich in der Wärme des Zuges saß. Die leicht abgestandene Luft, der Dampf nasser, langsam trocknender Kleidung, der etwas unbequeme Sitz unter mir.
Werde rot. Sei rot. Als würde jemand mit meinen Gedanken Amok laufen. Rot! Du bist rot. Eine große Leere breitete sich vor mir aus. Das wichtigste in meinem ganzen Leben stand mir bevor und dazu musste das Signal umschalten, als hätte sich das ganze Universum nur auf dieses Ziel zubewegt. SEI ROT! schrie ich still.
Schweiß tropfte von meiner Stirn oder war es Regen? Das Signal sprang auf Rot. Gleichzeitig spürte ich einen Ruck, als wäre ein Teil der Realität nach links verschoben worden.
Plötzlich war ich wieder im Zug. Das helle Licht blendete mich und ich schloss die Augen. Die Gespräche der anderen Fahrgäste erschienen mir unglaublich laut. Während ich versuchte meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen und meinen keuchenden Atem zu verlangsamen, schossen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Was ist hier passiert? Eine Halluzination? Zittrig schob ich mein Handy in die Jackentasche. Eine ältere Dame, die mir direkt gegenübersaß, sah mich kritisch an. Sie schnaubte leise und senkte den Blick wieder auf ihr Buch. Der Herr neben mir war leicht von mir abgerückt und saß soweit es der Sitz erlaubte ganz außen, sodass er mich nicht berührte.
Ich faltete die Hände und schloss erneut die Augen, um mich weiter zu beruhigen. In diesem Moment bremste der Zug. Es war eine Vollbremsung, als hätte jemand die Notbremse gezogen. Bevor ich genau wusste war geschah, landete ich an der Schulter der alten Dame. Während ich mich noch etwas an der Kopfstütze ihres Sitzes abfangen konnte, knallte der Herr neben mir in den gegenüberliegenden leeren Sitz. Die Räder quietschten schrill. Ein Koffer flog an unserem Abteil vorbei, weiter den Gang entlang Richtung Führerhaus. Leute schrien.
Es dauerte ewig, bis der Zug stand. Eng an die Schulter der älteren Dame gerückt, roch ich ihr schweres Parfüm und etwas klinisches. Sagrotanreiniger? Halb stehend, halb knieend, versuchte ich die ganze Zeit nicht komplett auf ihr zu landen. Endlich standen wir. Das Quietschen verstummte und ich richtete mich auf.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich die Dame besorgt. Sie sah so klein und zerbrechlich aus. Sie nickte nur stumm und nahm ihr Buch von der Brust.
Der Herr neben mir sank dankbar auch wieder in seinen Sitz. Er rieb sich das Handgelenk, schien aber auch unverletzt zu sein. Lautes Gerede erhob sich. Ich sah mich um, aber tatsächlich schien niemand verletzt zu sein.
Schnelle Schritte kamen von hinten auf uns zu.
„Alles in Ordnung?“, fragte der Schaffner. „Ist jemand verletzt?“
Anscheinend ging es allen gut. Doch sofort wurden rufe laut: „Was ist passiert?“, „Sowas kann man doch nicht machen.“ „Warum gab es eine Notbremsung?“
Der Schaffner war erstaunlich ruhig, doch die aufgerissenen Augen verrieten mir, dass er nur so tat.
Er würde es herausfinden und uns gleich Bescheid geben, sagte er, dann marschierte er weiter Richtung Triebwagen.
Durch den Lautsprecher erklang eine leicht blecherne Stimme: „Hier spricht ihr Lokführer. Durch eine unerwartete Signalstörung mussten wir auf der Strecke eine Notbremsung durchführen. Wir klären die Situation mit der Leitstelle und werden unsere Fahrt danach fortsetzen. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten. Sollte sich jemand verletzt haben, melden Sie sich bitte über den Notrufknopf bei mir. Wir werden dann weitere Maßnahmen einleiten.“
Kaum war diese Durchsage beendet, begannen die Leute wie auf Knopfdruck zu diskutieren.
„Eine Unverschämtheit!“, murmelte der Mann neben mir. „Saftladen, alles kaputtgespart, Weichenstörung, Signalstörung…“
Ich hörte nicht mehr zu. Eine Signalstörung, ein Signal, das auf rot ist, obwohl es grün sein sollte. Kalte Schauer liefen mir über den Rücken. Das kann nicht sein, das kann nicht sein! Ich legte mir die Hand vor den Mund und sah nach draußen.
Der Schaffner befand sich wieder auf dem Rückweg und fragt die Fahrgäste erneut, ob ihnen etwas fehlte. Er stand im Gang kurz vor uns als er angerufen wurde. Er drückte sein Handy an sein Ohr.
Nach einem kurzen Gruß sagte er lange nichts. Langsam wich die Farbe aus seinem Gesicht. „Und das ist ganz sicher?“, fragte er. „Aber wie konnte das Signal umspringen, wenn noch niemand davon wusste?“, „Ja, ja, ich bin unterwegs.“ Schon rannte er wieder Richtung Triebwagen.
Es dauerte fast 15 Minuten, bis eine Durchsage kam. Die Mitfahrer hatten sich wieder beruhigt. Einige hatten Freunde und Verwandte angerufen, um ihnen die Geschichte zu erzählen, oder einfach nur um zu sagen, dass sie später kommen würden.
Meine Gedanken kreisten immer noch um den Moment, als ich auf der Strecke stand, um das Signal zu ändern. Waren es Sekunden, Minuten? Ich wusste es nicht, ich wusste gar nichts. Wie kann das passieren? Warum mir?
„Sehr geehrte Damen und Herren. Wir setzen unsere Fahrt in ca. 10 min fort.“ Mehr nicht, das wars?
Tatsächlich setzte sich der Zug kurz danach wieder in Bewegung. Obwohl es ein Regionalzug war, fuhr er normalerweise auf offener Stecke zwischen 100 und 150 km/h. Die Geschwindigkeit ließ sich in der Dunkelheit nicht einschätzen, aber gefühlt krochen wir nur langsam voran. Kurz darauf wechselten wir auf das Gegengleis. Das Quietschen und Rumpeln des Zuges schreckte viele der Mitfahrer erneut auf.
Der Lautsprecher knackte, erst Sekunden später meldete sich die Stimme des Lokführers.
„Wir fahren heute außerplanmäßig in Emskirchen auf Gleis 3 ein.“
Plötzlich sah ich Lichter aus meinem Fenster. Im Schritttempo fuhren wir an einer hell erleuchteten Stelle vorbei. Gleich zwei Baume waren auf das Gleis gefallen, auf dem wir normalerweise fuhren. Die Feuerwehr war gerade dabei die Äste und dem Stamm zu zerteilen und von der Stecke zu räumen. Wie durch ein Wunder war die Oberleitung nicht betroffen, aber allein die Größe der Holzstücke machte mir Angst. Unser Zug wäre entgleist. Wären wir weitergefahren, wäre unser Zug entgleist! Ohne diese Signalstörung hätte es einen schlimmen Unfall gegeben mit meinem Zug. Mit MIR!
Mir wurde schwarz vor Augen und Übelkeit stieg in mir auf. Die nächsten Minuten konzentrierte ich mich nur auf das Atmen. Wie meine New-Age Freundin immer behauptete, half es mir tatsächlich.
Viele der Pendler stiegen in Emskirchen aus und die verbliebenen Menschen im Zug waren ungewöhnlich still. Als ich meine Haltestelle erreichte war ich immer noch, wie in Trance. Ich funktionierte einfach. Neben mir stand eine Dame im mittleren Alter. Der Geruch von Patschuli und Räucherstäbchen stieg mir in die Nase. Sie hatte eine Schiene am rechten Fuß und hielt eine Krücke in der Hand. Als sich die Türen öffneten und ich ausgestiegen war, drehte ich mich automatisch um und half ihr auf den Bahnsteig.
„Vielen Dank.“, sagte sie, „Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.“
Mein Lächeln erstarrte, als ich sie ansah. Sie blickte mir direkt in die Augen, als würde sie gleichzeitig in mich hineinsehen und durch mich hindurch in die Ferne. Für einen Moment war ich wieder auf der Strecke und sah das grüne Signal vor mir. Dann war der Augenblick vorüber. Sie lächelte wissend und nickte kurz, dann humpelte sie davon und ließ mich zurück. Erst als der Zug abgefahren war, bemerkte ich, dass mir kalt war, ich immer noch im Regen stand und überhaupt was machte ich hier?
Das ist meine Geschichte. Ich kann nichts davon beweisen, aber sie ist genauso passiert. Die umgestürzten Bäume waren kaum einen Artikel in den regionalen Nachrichten wert. Dass unser Zug zum Stehen kam wurde gar nicht geschrieben. Warum auch? Es ist nichts passiert und Verspätungen bei der Bahn sind so gewöhnlich wie Marmelade zum Frühstück.
Ich habe mich die letzten beiden Tage gefragt, was ich damit anfangen soll. Ich weiß es nicht. Zumindest habe ich die Geschichte aufgeschrieben.