Veröffentlicht: 02.03.2021. Rubrik: Nachdenkliches
Zeit schenken
Jeden Tag sitzt ein alter Mann in seinem Schaukelstuhl am Fenster und schaut in den Garten. Er ist hochbetagt und lebt noch immer allein in seinem kleinen Häuschen an einer belebten Straße. An manchen Tagen gibt es dort für ihn viel Interessantes zu sehen und zu beobachten. Täglich gehen viele Menschen an seinem Haus vorbei, Kinder spielen auf dem Gehweg und Dutzende von Autos fahren die Straße hinauf und wieder hinunter. Diese lebhafte Geschäftigkeit dort draußen verfolgt der alte Mann gespannt, denn es lenkt ihn ein wenig von seiner Einsamkeit und Langeweile ab, die ihn die meiste Zeit des Tages umgibt.
Deshalb freut er sich jedes Mal wie ein kleines Kind, wenn er an einem Tag in der Woche Besuch bekommt. So ist es auch heute. Als ich bei ihm die Tür öffne und hineingehe , lächelt er mich an und streckt mir zur Begrüßung die Hände entgegen.
„Schön, dass du da bist“, gibt er mir mit leiser Stimme zu verstehen, „ Komm, setz dich doch zu mir und leiste mir ein wenig Gesellschaft!“
Schon beginnt er eifrig über Dies und Das zu erzählen - über Geschehnisse aus der Tageszeitung, die ihn zu beschäftigen scheinen. Kurz darauf fängt er an, ein wenig nachdenklich über Erlebtes aus früheren Zeiten zu berichten und er weiß, dass er in mir eine aufmerksame Zuhörerin gefunden hat.
Während des Erzählens beginnen seine Augen immer mehr zu strahlen, seine Stimme wird klarer und energischer und manchmal kann ich ein verschmitztes Grinsen auf seinen Lippen erkennen. Sein Oberkörper bewegt sich rhythmisch hin und her und seine Hände fuchteln aufgeregt herum. Ich freue mich darüber, wie er diese Zeit des Erzählens mit allen Sinnen genießt und wie er dabei körperlich und geistig aufblüht.
Doch irgendwann am Ende des Nachmittags scheint er müde zu werden, denn er lehnt sich entspannt und zufrieden in seinen Sessel zurück und strahlt mich dankbar an: „Danke, dass du dir heute wieder für mich Zeit genommen hast und mir zugehört hast. Es war ein wunderschöner Nachmittag.“
Ich verabschiede mich herzlich von ihm, glücklich darüber, wieder einem Menschen eine Freude gemacht zu haben, indem ich ihm durch Zuhören meine Zeit schenkte.