geschrieben 2021 von Folais.
Veröffentlicht: 21.02.2021. Rubrik: Nachdenkliches
Fixpunkt
Emils Schaufel biss in den wie zu Stein gefrorenen Boden. Das Erdreich schien sich dagegen zu sträuben, doch Emil hatte es fast geschafft ihm ein flaches, rechteckiges Loch abzuringen. Eine kleine Unregelmäßigkeit im ansonsten doch so flachen, kahlen Land. Die Schaufel biss erneut und traf diesmal auf einen Stein. Dieser Stein war so verwittert, dass er fast schwarz wirkte. Wenn man es nicht wusste konnte man ihn nicht einmal erkennen, zwischen dem harten, erbarmungslosen Boden. Emil bückte sich und versuchte den Stein aus der vereisten Erde zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Er arbeitete mit der Schaufel mühsam um den Stein herum bis dass der schneidende Wind, auch wenn er kaum in die Grube reichte, die Oberfläche des kleinen Felsens umwehte. Emil bückte sich erneut und diesmal schaffte er es de Stein unter erheblicher Kraftanstrengung aus dem Loch zu hieven. Er legte ihn abseits des Erdhügels beinahe zärtlich in den Schnee, als ob der Nebel ihm den Brocken aus der Hand reißen könnte.
Und die Welt begann sich zu drehen. „Fokus“, dachte er und fixierte seinen Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf die Logen im oberen Zuschauerbereich. Dann folgte sein Kopf der Drehung seines Körpers und fixierte sich gleich darauf wieder auf denselben Punkt. Bei der Landung vergaß er fast zu lächeln. Er war nie ein großer Springer gewesen. Auch wenn die meisten Männer im Ballett durch ihre explosiven Sprünge und fast akrobatischen Kombination bestachen, lag seine Stärke doch eher in den scheinbar unendlich langen Beinen, die in perfekter Proportion zu seinem grazilen und dennoch erstaunlich muskulösen Oberkörper standen. Die Musik aus dem Graben schwoll leicht an und am Höhepunkt der Phrase warf er sein linkes Bein nach oben, sodass es mit dem anderen fast eine ideale Linie bildete. Den Oberkörper beugte er gleichzeitig zu einem perfekten Bogen nach hinten. Diese Pose war schon zu so etwas wie seinem Markenzeichen geworden, mit dem er bereits mit 13 Jahren das Publikum beeindruckte. So sehr beeindruckte, dass er schon bald in eine der besten Ballettschulen der Welt aufgenommen wurde, Rollen in neuen Stücken speziell für ihn geschrieben wurden und er mit seinen nun 20 Jahren bereits ein unentbehrliches Mitglied seiner Ballettkompanie war.
Emil kletterte aus seiner Grube. Die Kälte stich ihm ins Gesicht, doch der Nebel bereitete ihm ein unerklärliches Gefühl von Geborgenheit. Hier, zwischen weißem Nabel und weißem Schnee, war alles möglich. Hier im Nichts, in einer Welt zwischen den Welten, war er allein. Fast. Sein Blick blieb an dem Stein hängen, den er so mühsam geborgen hatte. Er störte die Illusion, die perfekte Welt und doch gab er allem einen Anker, einen Fixpunkt, von dem aus Emil die Welt betrachten konnte. Sein Blick glitt weiter in das Loch und er bemerkte, dass er es viel zu kurz ausgehoben hatte. Er griff nach der Schaufel und stieg zurück in die Grube.
Nachdem der Vorhang gefallen war, der Applaus verklungen und das Theater verlassen, befreite er sich von seinen viel zu unbequemen Schuhen und zu enger Hose um sich Turnschuhe sowie eine bequeme Hose anzuziehen. Beim Abschminken starrte ihn ein lächelndes Gesicht an, dass nach und nach immer mehr seinem eigenen wich. Rechts unter der Nase begann sich ein Pickel zu bilden und an der linken Wange konnte man noch leicht eine Rasiernabe ausmachen. Er warf sich eine Jacke über und verlies das Theater durch eine Hintertür in das Getöse der Großstadt. Seine Leichtfüßigkeit war verflogen als er aus der Straßenbahn stieg, die Tür aufschloss und die Treppen zu seiner Wohnung erklomm. Drinnen goss er sich ein Glas Wein ein und setzte sich auf den winzigen Balkon, der den tristen grauen Hinterhof überblickte. Durch die Lichtverschmutzung und den Dunst der Stadt hindurch war ein kleiner, einsamer Stern zu erkenne. Er kämpfte gegen die tausend Lampen und Leuchten der Häuser und Straßen an, als müsste er eine Botschaft überbringen. Doch der Wind begann zu wehen und die ersten Wolken zogen auf. Er schloss die Balkontür hinter sich. Er hatte geträumt.
Emil ließ die letzte Schippe Erdreich auf das Loch fallen. Er drehte sich um und sein Fuß blieb an den Stein hängen. Er hob ihn auf und legte ihn auf das Kopfende des Grabes. Er hielt kurz inne und ging dann in den Nebel.