Veröffentlicht: 04.01.2021. Rubrik: Nachdenkliches
An die liebe Bulimie
Es ist schon komisch,
Früher als ich noch spindeldürr war
Haben mich die Leute immer gefragt ob ich magersüchtig bin
Und als ich’s dann war hat’s niemand bemerkt.
Bist du magersüchtig? Was für eine komische Frage, sowas sagt doch keiner laut!
Naja, auf jeden Fall, habe ich mich Hals über Kopf reingestürzt, in das Nicht-Essen
Kalorien zählen, Sport bis Mord, ein Tee zu Abend, vielen Dank.
Nein, ich habe schon gegessen und nein, ich bin auch nicht auf Diät,
Ich esse gesund.
Also gesund ist an 129 Kalorien am Tag nichts,
Aber das muss ja keiner wissen.
Am liebsten wollte ich so dünn sein, dass ich verschwand.
Der Spiegel hing voll mit motivierenden Sprüchen und Ideal-Körper-Aussichten;
Schnell weg gepackt, wenn freitags mal wieder die Putzfrau vorbeischaut.
Was ein anstrengendes Leben, sich ständig mit trockenem Toast quälen
und am besten schon beim Essen mit den Sit-ups anfangen.
Und dann dieser ständige Selbsthass,
Furchtbar lästig.
"ICH HASSE MICH."
"Ich bin ekelhaft,
Ich bin
kaum auszuhalten."
"Ich möchte meinen Körper verstümmeln
Und mich bestrafen,
damit ich nicht mehr so hässlich bin.
Ich bin stolz, nichts gegessen zu haben,
Was ein Gefühl ist, wie ein Rausch.
Hab‘ keinen Wert, kein Anrecht auf,
meinen Körper.“
Und so weiter und so fort.
Da dank ich mir doch die liebe Bulimie!
Meine Rettung, nach all der Knechterei, dem Verzicht und der Disziplin.
Endlich konnte ich aufatmen.
Bei Bulimie kann man ja essen soviel man will und noch mehr,
Bis man fast platzt und dann greift man eben zur Zahnbürste.
Natürlich um den Gallengeschmack wegzuputzen,
denn gut schmeckt das nicht.
Ja, tatsächlich fühlt sich wenig gut an am Erbrechen,
aber irgendwann ist einem nach dem Essen einfach schlecht.
Da ist es leicht einfach kurz zu verschwinden, so wie bei einer Raucher-Pause,
Fünf Minuten Magenleeren, statt fünf Minuten Lungenbrötchen.
Das lässt sich auch super in den normalen Alltag integrieren,
fünf Minuten hat man immer und auffallen tut es kaum.
Es ist fast wie ein richtiges Hobby.
So nach dem Motto: und was machst du in deiner Freizeit?
Gründlich abkotzen, damit die Hose auch nach einem Kilo Eis noch passt und du so?
Und wie jeder weiß- ein Mal kotzen am Tag, hält die Fettröllchen fern!
Liebe Bulimie, ich bedanke mich auch dafür,
dass du mir gezeigt hast, was es heißt sich so richtig gehen zu lassen
-eine Eigenschaft, die ich noch viel gebrauchen sollte in meinem Leben.
Ich habe durch dich auch einen meiner Lieblingskünstler entdeckt,
als ich laut das Radio laufen ließ, damit ich ungestört und geschützt
von den Ohren meiner Familie,
mich allabendlich der Kloschüssel widmen konnte.
Eine Sache hast du aber echt vermurkst finde ich:
Wenn ich nach meiner Speiseröhrenkur in den Spiegel geguckt habe,
Sah ich nicht mehr aus wie ich.
Ich sah eine blasse, ausgelaugte Person mit Kotze an der Lippe
und Tränenspuren auf den Wangen.
Denn so erleichternd und einfach es sich auch manchmal angefühlt hat,
den einfachen Ausweg zu nehmen, wenn man mal wieder die Kontrolle verloren
oder sich bewusst vollgestopft hatte,
So Hat auch mit der Bulimie ihren Preis.
Sie tut zwar erst so als sei sie deine beste Freundin,
aber sie macht dich hässlich und schwach.
Sie beherrscht deine Gedanken,
bis dein Kopf nur noch abwechselnd Ernährungspläne,
bunte Karotten vor dem Essen und Sportroutinen ausspuckt.
Das ist auf Dauer etwas eintönig, finde ich.
Aber, Bulimie, du bist echt hartnäckig.
Frisst dich in die Seele von uns Menschen und verankerst dich tief in unseren Abgründen,
Baust Dir dort ein Nest und machst es dir bequem.
Manchmal schläfst du ein bisschen, lässt uns in Frieden
und wenn wir grade denken, dass wir uns selbst jetzt ein bisschen mehr lieben
und unser Körper perfekt unperfekt ist,
wachst du auf, trittst einmal kräftig um dich, zur Begrüßung.
Und Dann schickst du böse, zerstörerische Gedanken in unser Hirn, sendest uns alte, längst vergessen gewähnte Erinnerungen und Unsicherheiten zu,
um an unserer Selbstsicherheit zu rütteln.
Dank dir konnte ich lange an keinem Spiegel vorbeigehen, ohne zu weinen.
Ich habe mich, seit ich sechzehn war, nicht mehr gewogen.
An die Konfirmation von meinem Bruder habe ich keinerlei Erinnerung,
abgesehen von der Tatsache, dass ich mir den Bauch am Buffet vollschlug
und dann die ganze Nacht über der Schüssel verbrachte.
Ich lechze verzweifelt nach der Anerkennung von Männern
und habe mich deshalb mehrmals emotional und körperlich missbrauchen lassen.
Bis heute kann ich nicht, egal wie schlecht es mir geht,
sei es wegen Alkohol oder Drogenüberdosis oder einer einfachen Magendarmgrippe,
mir nicht den Finger in den Hals stecken,
ohne in einen Strudel von Erinnerungen und unkontrollierbarer Verzweiflung zu rutschen.
...
Du bist doch keine so gute Freundin, glaube ich.
Ich glaube, ich stelle dich besser in einer Reihe
neben die Alpträume, Ängste und Wutmonster.
Um dir hoffentlich das nächste Mal mit Schild und Schwert in beiden Händen
zu begegnen.