Veröffentlicht: 02.09.2020. Rubrik: Nachdenkliches
Das Versprechen
Unten im Tal kann ich die Stadt und die Türme ihrer Kathedrale sehen. Während meine Begleiter eilig weitereilen möchten, will ich so kurz vor dem Ziel erst einmal verweilen und für mich alleine sein.
"Dann sehen wir uns heute Abend zur Messe", verabschiedet sich Elin noch schnell, bevor die anderen beiden Frauen sie zum Aufbruch drängen. Ich nicke ihr zum Abschied zu und genieße ihr sanftes Lächeln. Und natürlich überkommt mich bei dem Gedanken an meine Frau wieder ein schlechtes Gewissen.
Als die drei um die nächste Ecke biegen, nehme ich meinen Rucksack von den Schultern und lasse mich auf einem Findling am Wegesrand nieder. Fast sechs Wochen ist es her, seit dem ich in Frankreich aufgebrochen bin. Damals hätte ich nicht gedacht, die Kraft hierzu zu haben. Aufgeben war die ganzen 780 km über meine erste Option, aber ich glaube, gerade deshalb habe sie nie gezogen.
Inzwischen sind meine Muskel trainiert- viele davon kannte ich vorher gar nicht -, meine Kondition gestärkt und mein Kopf ein wenig freier. In dieser Hinsicht hat sich der Weg also gelohnt. Aber dies war nie das Ziel meiner Reise.
Der Weg ist das Ziel klingt ein wenig abgedroschen, aber in meinem Fall kommt es der Wahrheit sehr nahe. Als ich den Entschluss zu dieser Unternehmung fasste, kannte ich nur das Ziel, und mein bester Freund schlug mir sogar ernsthaft vor, gleich mit dem Flugzeug dorthin zu reisen, um die Sache abzuhaken.Die Sache!? Dieser Idiot.
Während ich so da sitze, eilt eine weitere Pilgergruppe an mir vorbei. Einige der Gesichter kommen mir bekannt vor. So viele Menschen haben in den vergangenen Wochen meinen Weg gekreuzt, die Meisten davon auf ähnlicher Sinnsuche wie ich selbst.
Mit Elin und ihren beiden Freundinnen habe ich den größten Teil des Weges hinter mich gebracht. Aber auch wenn ich der Niedrländerin in dieser Zeit sehr nahe gekommen bin, so habe ich auch ihr den wahren Grund meiner Reise verheimlicht.
Jetzt drängt es auch diese Gruppe zum Ziel ihrer Pilgerwanderung - unserer aller Ziel. Auch ich werde gleich weiterziehen. Weiter nach Santiago de Compostela, dem Endpunkt des Camino.
Dorthin, wo meine Frau eigentlich letzten Sommer hin pilgern wollte, um sich einen alten Traum zu erfüllen. Aber der Tumor in ihrem Kopf schickte sie auf eine ganz andere Reise. Ihre letzte Reise.
Im Hospiz gab ich ihr das Versprechen, an ihrer Stelle den Jakobsweg zu bereisen. Ich fürchtete zwar, sie konnte das zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr wahrnehmen, aber auch wenn ich diese Worte zunächst nur so dahin gesagt hatte, um so ernster nahm ich sie , als wir einige Tage später ihre Urne beisetzten.
Schon zwei Wochen später schnürte ich meine Stiefel und zog los. Ich bin heute nicht mehr der selbe Mensch wie damals, und nun beginnt ein neuer Abschnitt meines Lebens. Vielleicht mit Elin an meiner Seite.