Veröffentlicht: 15.12.2017. Rubrik: Menschliches
Herr König verliert
Ein wenig unangenehm fühlte sich Herr König heute, obwohl er die Situation genau kannte. Noch einen Augenblick und alle würden sich in Bewegung setzen. Obwohl, er selbst nicht sofort. Er musste warten, bis er sich bewegen durfte. Die anderen mussten ihm erst Platz verschaffen. Schließlich war er der wichtigste Akteur hier. Trotzdem beschlich ihn, wie immer vor so einer ordentlich geplanten Auseinandersetzung, eine gewisse Angst zu versagen. Allerdings, genau betrachtet, würde nicht er selbst versagt haben, er war schließlich Herr König. Die Schuld könnte er schnell auf die anderen abwälzen. Wie sie dort standen, in Reih‘ und Glied, das konnte einem schon Ehrfurcht vor dem bis ins Letzte geregelten Dasein einflößen, wenn da nicht das grelle Licht von oben und der feuchte Atem von hinten wären.
„Ich muss bestimmt wieder als Erster raus“, hörte er Herrn Ritter sagen, dessen Blick auf die Schwarzen auch nicht gerade hoffnungsfroh aussah. Sein Partner auf der linken Seite rollte mit den Augen. Die beiden hatten schon so manchen Mitstreiter im Laufe der Jahre einfach übersprungen. Frau König sah sie gerne an ihrer Seite, auch wenn anfangs Herr Bischof immer zwischen ihnen stand. Seine schräge Art, ins Geschehen einzugreifen, fand sie immer schon übertrieben. Das konnte sie schließlich auch selbst erledigen, und oft auch besser.
„Ach, Unsinn“, sagte dann Herr Bauer direkt vor Herrn König. „Ich geh‘ direkt nach vorn, und ihr kommt nach, um mich zu schützen.“ Der kleine Kerl war immer voller Tatendrang und verließ sich dabei stets blind auf sie. Vorwärts, vorwärts, war seine Devise, und niemals zurück. Vom äußeren Rand hörte man ein Seufzen. „Ja, sicher. Stürm‘ du mal los. Wenn Herr König mit mir tauscht, komme ich und schütze dich".
Die Schwarzen gegenüber sahen schon bedrohlich aus. Aber sie waren natürlich im Nachteil, weil sie schwarz waren. Wenn man schwarz ist, beobachtet man die Weißen, um zu lernen, wie man so eine Auseinandersetzung führt, und macht sie erst mal nach. So war es immer schon gewesen. Der Gedanke beruhigte Herrn König. Sie waren allerdings schon solange Beobachter gewesen, dass sie nun durchaus die Absichten der Weißen durchschauten und ihnen oft genug mit eigenen Strategien entgegen traten. Der Gedanke wiederum beunruhigte Herrn König.
Und jetzt stürmt Herr Bauer direkt vor ihm auch schon los, gleich bis ins Zentrum, wird abrupt gestoppt und von Herrn Ritter zur Rechten mit einem beherzten Sprung in seinem Eifer unterstützt. Herr Bischof verabschiedet sich kurz und landet nach schräger Fahrt auch mitten drin. Von außen hört Herr König die Aufforderung „Los jetzt“ und befindet sich nach einer für ihn eher langen Reise sicher hinter weiteren Mitgliedern der Familie Bauer. „Na gut“, denkt er sich, „wie immer. Von hier aus sehe ich erst mal in Ruhe zu. Mal sehen, ob die Schwarzen was gelernt haben.“
Und das hatten sie. Von wegen nachmachen. Die verfolgten offensichtlich ihren eigenen Plan, und kamen Herrn König auch schon bedrohlich näher. Herr Bischof und Herr Ritter von der rechten Seite waren dem unverschämten schwarzen Auftreten schon zum Opfer gefallen, Herr Bischof mit einem letzten Gebet und ungläubigem Blick zurück zu Herrn König und Herr Ritter, wie immer, auf dem Sprung in vermeintliche Sicherheit. Herr König verspürte zunehmende Nervosität hinter sich, und auch in seinem Inneren. Noch konnte er nicht selbst eingreifen. Er war zwar ein großer Stratege, besonders hinter der geschlossenen Reihe der Familie Bauer; bewegte sich aber nur langsam und mühsam, und auch nur, wenn dann auch genug Platz war. Genug Platz bedeutete aber auch immer, dass inzwischen Familie Bauer dezimiert war, natürlich für einen guten Zweck, die Ritters und Bischofs ihren öffentlich anerkannten Abgang gemacht hatten, und vielleicht sogar Frau König überraschend die Scheidung eingereicht und vollzogen hatte.
Von seinem Standort aus konnte Herr König deutlich und aus Erfahrung erkennen, dass nun wohl nicht mehr viel Zeit bis zu seinem Auftritt verblieb. Die Bauerfamilie vor ihm hatte sich schon ein Stück von ihm entfernen müssen; natürlich, um ihn zu schützen, wie sie immer wieder betonten. „Hah“, dachte er, „und ich muss dann hinter euch her hinken, um euch zu schützen.“ Aber so war das mit den einfachen Leuten in seinem Reich. Wenn es darauf ankam, musste man sich auch um die kümmern. Immer blieb alles an ihm hängen. Und wer würde am Ende da stehen wie ein Volltrottel, umringt von Schwarzen? Ja nicht Familie Bauer. Die hätten dann schon längst die Felder aufgegeben.
„Überhaupt“, dachte sich Herr König mit einem zunehmenden Gefühl des Unwohlseins, „könnte man da hinter mir mal aufhören, mir besorgt und ängstlich in den Nacken zu starren?“ Nur zwei Felder vor ihm war schon kein Bauer mehr zu sehen. Stattdessen sprang ein Schwarzer zu Pferde geschickt mit einem munteren Satz über Herrn Ritter von links auf ihn zu. „OK“, dachte Herr König, „hör‘ auf, mir in den Nacken zu starren und tu‘ was.“ Wer sich auf andere verlässt, ist verlassen. Aber, was blieb ihm denn übrig. Selbst eine Entscheidung treffen? Und dann ausführen? Das hatte er sein ganzes Leben lang nicht getan. Und damit würde er jetzt auch nicht anfangen. Das wäre ein Verstoß gegen die Regeln gewesen. Noch mehr Schwarze tauchten vor ihm auf.
Auf Regeln kann man sich verlassen. Regeln geben ein Gefühl der Sicherheit. Als Weißer hat man einen Vorteil. Wohin er sich auch begab, geführt von dem Idioten hinter ihm, die Schwarzen folgten ihm.
„Frau Königin? Gehört ihr nicht an meine Seite?“ hörte er sich fragen; aber nur undeutlich. Die Stimme war recht piepsig. Frau Königin war auch auf einmal wieder da, sah allerdings recht schwarz aus.
Und beim letzten leichten Anheben wurde ihm dann auch schwarz vor Augen.