Veröffentlicht: 26.04.2020. Rubrik: Satirisches
Die Zeit mit Christian oder Graue Locken
15.04.2040
De Affäre mit Ännie hatte ich Christian schnell verziehen. Schließlich war sie schon damals eine wichtige Person und was blieb ihm schon übrig, als gute Miene zu allem zu machen. Nein zu sagen kam nicht in Frage, und wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, hätte ich wohl genauso gehandelt. Also, was konnte ich ihm schon vorwerfen? Damals waren seine nun grauen Locken noch schwarz, und wahrscheinlich hätte er selbst nicht geglaubt, dass die ganze Sache so lange dauern würde.
Das ist schon lange her. Mittlerweile sind Christian und ich 25 Jahre verheiratet, Ännie hat ihre zehnte Amtszeit, obwohl sie schon damals die fünfte nicht mehr antreten wollte, und Christian und ich haben unsere Enkelkinder, ein Junge und ein Mädchen, wegen des noch immer herrschenden Kontakt- und Besuchsverbotes noch nie gesehen. Das Mädchen ist jetzt fast zehn, der Junge wird dieses Jahr sechs. Wenn wir Glück haben, wird vielleicht dieses Jahr ein normaler Schulbetrieb stattfinden und vielleicht lernen die beiden dann zusammen lesen und schreiben. Wäre ja schön.
Christian macht sich schon wieder Sorgen wegen der nächsten Welle, ich weiß gar nicht, die wievielte das jetzt ist. Die letzten Wellen waren Gottseidank in unserem Land alle nicht so schlimm wie befürchtet, aber das hat ja nichts zu sagen, die nächste Welle könnte schließlich viel schlimmer werden und das mag man sich gar nicht vorstellen. Christian wird jedenfalls nicht müde zu warnen. Es ist auch unglaublich, wie unvernünftig die Leute sind. Manche haben #WirBleibenZuhause auch nach 20 Jahren noch nicht verstanden. Was soll man dazu sagen? Dabei können sie draußen sowieso nichts machen. Gastwirtschaften gibt es nicht mehr, der Fußball ist nur noch eine historische Erinnerung und das letzte Konzert fand vor 21 Jahren statt. Jetzt ist überall Funkstille und wir warten auf die nächste Welle. Da haben wir doch genug zu tun.
Christians graue Locken reichen ihm nun den halben Rücken hinunter, weil es auch keine Friseure mehr gibt. Von mir will er sich die Haare nicht schneiden lassen. Angeblich kann ich das nicht. Das sagt er nur, weil ich meine Haare selbst geschnitten habe. Nun gut, es sieht ziemlich seltsam aus. Aber wer sieht das außer ihm schon! Zum Einkaufen trage ich eine Burka, wo nur die Augen frei bleiben, denn die Masken, die wir vor 21 Jahren bestellt haben, sind immer noch nicht angekommen. Da ist so eine Burka doch einfacher zu bekommen und außerdem recht praktisch, weil keiner sieht, was ich drunter trage. Unsere Waschmaschine ist seit 10 Jahren kaputt und Handwerker oder Elektriker gibt es auch nicht mehr. Kein Wunder, der Lockdown dauert mittlerweile so lange, da kann sich kein Geschäft außer den Lebensmittelläden halten. Immerhin, die verzeichnen immer noch ein Plus.
Was machen wir eigentlich heute Abend nach dem Essen? Natürlich, Nachrichten schauen. Manchmal schaue ich verstohlen zu Christian hinüber, wenn Ännie auf dem Bildschirm erscheint. Ich glaube fast, er ist immer noch in sie verliebt. Aber was soll ich schon dagegen machen. Einfach Geduld haben. Schließlich müssen wir uns alle schon lange in Geduld üben. Da kommt es doch auf die nächsten 20 Jahre wirklich nicht mehr an.