Veröffentlicht: 18.04.2020. Rubrik: Nachdenkliches
Ethan
Ethan war ein englischer Austauschschüler und kam im letzten Schuljahr vor der Oberstufe zu uns, kurz nach Beginn des ersten Halbjahres. Die Mädchen in der Klasse waren vom ersten Tag an von ihm fasziniert und Rita Rottmann - das war die mit der größten Oberweite in der ganzen Schule - machte sogar seinetwegen Schluss mit ihrem Freund Tobias, obwohl Ethan gar kein Interesse an ihr hatte. Wenn ich es mir recht überlege, hatte er eigentlich an niemandem Interesse, nicht an Mädchen, nicht an Jungen und die Lehrer interessierten ihn nur soweit, wie er ihnen widersprechen konnte, aber den Unterricht nahm er ernst. Er war intelligent und das Lernen fiel ihm leicht. Manchmal, wenn er es nicht merkte, betrachtete ich ihn von der hinteren Bank aus. „Man könnte ihn malen", schoß es mir durch den Kopf, wie er so konzentriert da hockte, das dunkelbraune Haar adrett in der Mitte gescheitelt, mit zusammengekniffenen Augen, wenn er den Lehrern lauschte und ständig einen Bleistift in der Hand, um sofort loskritzeln zu können, wenn er sich ausnahmsweise etwas nicht allein vom Zuhören merken konnte. Eines Tages konnte ich nicht mehr widerstehen: Ich zog meinen Zeichenblock unter dem Tisch hervor, machte mir in der kurzen Pause eine flüchtige Skizze und zeichnete zu Hause sein Porträt. Ich hatte noch nie jemanden in solch konzentrierter Stellung im Unterricht gesehen und wollte diesen Augenblick festhalten. Schließlich fand ich meine Bleistiftzeichnung so gelungen, dass ich sie in meinem Zimmer aufhing und jeder, der hinein kam, unwillkürlich fragte: „Wer ist das? Hat er dir Modell gesessen?"
„Nein, ich habe ihn aus dem Kopf gezeichnet", pflegte ich dann zu sagen und jeder staunte darüber. Schade, dass Ethan selbst sein Bild nie zu Gesicht kam, wer weiß, vielleicht hätte es ihm gefallen. Aber das lässt sich jetzt nicht mehr feststellen.
Das Haus, in dem Ethan wohnte, lag auf meinem Schulweg. Einmal sah ich Rita davor stehen und klingeln. „Sie bildet sich tatsächlich ein, dass sie eine Chance hat", dachte ich. Offenbar bildete auch Tobias sich das ein, sonst hätte er sich Ethan nicht einmal auf dem Schulhof in den Weg gestellt und ihn aufgefordert, „gefälligst die Finger von Rita zu lassen". Ethan war nur wortlos an ihm vorbeigegangen und weiter war nichts vorgefallen.
Am 14. April sah ich Ethan zum letzten Mal. Am 15. April blieb sein Platz leer und am 16. April wurde uns mitgeteilt, dass Ethan vermisst gemeldet worden war. Seit über 24 Stunden hatte ihn niemand mehr gesehen.
„Er ist abgehauen", vermutete Rita. „Wahrscheinlich aus Angst vor Tobias."
„So ein Unsinn", widersprach ich. „Er wollte doch gar nichts von dir, also warum sollte er Angst vor deinem Ex-Freund haben? Sogar Tobias müsste aufgefallen sein, dass er nie mit dir zusammen war."
„Ha!" Rita warf sich in die Brust. „Das weißt du doch nicht! Ich weiß es besser!"
„Hattest du denn etwas mit ihm?" fragte ich gespannt.
Auf die Frage schien Rita nur gewartet zu haben. „Er hat sogar mit mir geschlafen", behauptete sie wichtigtuerisch. Ich glaubte ihr kein Wort, aber ich widersprach ihr nicht.
„Hast du Tobias das denn erzählt?"
„Natürlich! Ich wollte ja, dass er mich endlich in Ruhe lässt. Es ging nicht in seinen Kopf rein, dass ich nichts mehr von ihm wollte. Da habe ich ihm diese Sache brühwarm erzählt. Deswegen hat er Ethan ja auch angemotzt."
Fair war das nicht, dachte ich. Ethan wollte nichts von Rita, aber er musste sich ihretwegen von ihrem Ex-Freund anmachen lassen und um sie nicht zu blamieren, widersprach er nicht mal. Ja, so schätzte ich Ethan ein: Er würde nie jemanden blamieren wollen.
„Wahrscheinlich ist er längst wieder auf dem Weg nach England", sagte Rita in meine Gedanken hinein.
Doch dem war nicht so. Am 29.Mai wurde in einem Wald seine Leiche gefunden. Ethan war ermordet worden. Todeszeitpunkt war laut Gerichtsmedizin der 15. April, also lebte er kurz nach seinem Verschwinden schon nicht mehr.
Wir waren alle fassungslos. Wer hätte Ethan töten können und warum? Ich glaubte nicht, dass eine Eifersuchtsgeschichte dahinter stecken könnte, auch wenn manche von uns Tobias in Verdacht hatten. Ausgerechnet Rita entlastete ihn dann aber: An Ethans Todestag sei Tobias bei ihr gewesen, habe ihr eine Riesenszene gemacht und sie angeblich „auf Knien angefleht", zu ihm zurückzukehren. Auch einige Nachbarn hatten Tobias bemerkt, so hatte er ein wasserdichtes Alibi. Aber an seine Schuld hatte ich sowieso nicht geglaubt.
In meinem Zimmer nahm ich Ethans Bild von der Wand und betrachtete es lange. Wie sinnlos war das alles, womit hatte er dieses Ende verdient? Natürlich kam ich zu keinem Ergebnis.
Die ganze Sache ist jetzt schon jahrelang her. Ethans Mörder hat man nie gefunden. Seine Leiche wurde nach England überführt, so kann ich sein Grab nicht besuchen und Blumen darauf legen. Aber manchmal denke ich an ihn. Schade, dass ich ihn nie wiedersehen werde.