Veröffentlicht: 08.10.2017. Rubrik: Unsortiert
Das drittliebste Reptil
"Was ist dein drittliebstes Reptil?"
Nun ja darüber hatte sie sich noch nie Gedanken gemacht. Ein Fehler wie sich herausstellte, denn jetzt starrten sie die fordernden Augen eines Vierjährigen an und sie war sich ziemlich sicher gleich die falsche Antwort zu geben. Aber was war das denn auch für eine Frage? Schon für die Wahl eines Lieblingstier, hätte sie locker eine halbe Stunde gebraucht. Mit ihrem drittliebsten Reptil fühlte sie sich restlos überfordert.
Erst heute morgen hat ihr stets meckernder Chef gefragt, wie sie sich das denn mit ihrer Führungsposition vorstellen würde, wenn sie sich immer mit der zweiten Wahl zufrieden geben würde. Und nun stand hier ein kleiner Junge, ganz unbefangen, mit der Frage nach ihrer dritten Wahl. Trauriger Weise lautete die Antwort auf beide Fragen gleich. Sie wusste es nicht. Dies war bei Weitem nicht, dass erste Mal dass sie etwas nicht wusste und würde mit Sicherheit auch nicht das letzte Mal sein, dass sie eine Frage nicht beantworten konnte. Aber nie war ihr eine Frage elementarer vorgekommen, als die nach ihrem drittliebsten Reptil. Sie fühlte sich, als könnte sie sich mit einer einzigen richtigen Antwort ihre Kindheit zurückholen, als könnte sie der ganzen Welt beweisen, dass sie trotz ihrer 27 Jahre ihre kindliche, unbeschwerte Seite nicht verloren hatte, dass sie sich nicht der Tristesse des Erwachsenseins und des vernünftigen Denkens hingegeben hatte.
"Mein drittliebstes Reptil ist ein Chamäleon."
Eigentlich war es das einzige Reptil, das ihr während ihres Gedankenkarussels eingefallen war und das für sie noch halbwegs vertretbar war. Aber ihre Antwort war offensichtlich die falsche gewesen, denn das Gesicht des Jungen vor ihr wurde ganz rot vor Empörung.
Als sie zwei Stunden später das Haus ihrer Freundin und ihres Sohnes verließ war es für sie völlig einleuchtend, dass das drittliebste Reptil natürlich ein Leguan sein muss. Gleichzeitig war ihr aber auch so klar wie nie zuvor, dass sie irgendwie ein paar Sekunden zu jung war, um vernünftig und logisch auf diese unvorhergesehene Situation zu reagieren und ein paar Sekunden zu alt, um spontan und unbefangen drauf los zu plappern. Es blieb zu hoffen, dass diese Sekunden schnell vergehen würden.