Veröffentlicht: 19.03.2020. Rubrik: Nachdenkliches
Der Wolf
Johann, genannt „der Wolf“ Grimm liegt auf der roten Couch seiner Stammkneipe, eine Hippie-Bar. Er trifft sich dort fast jeden Abend mit seinen Freunden, um ein, zwei Joints zu rauchen, ein gutes Bier oder ein Cocktail zu trinken, meistens beides und nicht selten eins über den Durst. Heute ist er nahezu nüchtern, nur ein Weizen hat er getrunken, allerdings so viel Gras geraucht, dass er gar nicht mehr weiß, wie viel es letztendlich war. Johann ist
22 Jahre alt, hat kurzgeschorene, schwarze
Haare, einen selbst gestrickten Wollpullover
und eine Pluderhose an. Seinen Spitznamen verdankt er seinem Nachnamen. Seine Freunde sitzen auch in der Ecke der „Schwalbe“, wie die Kneipe heißt. Es sind nur noch
wenige Leute anwesend, es ist schon weit nach Mitternacht. Doch Johann, sein bester Freund Matze, seine einzige Freundin Kristin und deren Freund, dessen Namen er vergessen hat, da sich jener ständig ändert, sind noch in ein tiefes Gespräch, eine
scheinbar nicht enden wollende Diskussion vertieft. Trotz der wenigen Leute ist es noch laut in der Bar. Eine kleine Gruppe von Leuten stehen um den Billardtisch gegenüber der
roten Couch und schauen dem Spiel zweier junger, angetrunkener Männer zu, das sich in den letzten Zügen befindet. Neben dem Billardtisch werfen zwei wenig motivierte und müde aussehende Jungs Pfeile ins Dartboard. Tock, Tock, Tock. Das Geräusch ist immer beständig und doch kaum zu hören. Von irgendwo hört man den leisen Kommentator eines Fußballspiels. An der Bar steht ein Mann in mittlerem Alter und schäkert mit der
Barfrau, einer jungen, gut aussehenden Brünette. Johann kennt sie alle beim Namen. Sie sind in der Bar eine Gemeinschaft. Selten kommt es vor, dass Johann ein ihm unbekanntes Gesicht sieht.
Was für die Kunden der Bar auf den ersten Blick wie ein typischer, normaler Abend für Johann und seine Freundesgruppe aussehen mag, entpuppt sich als die Geburtsstunde einer Bewegung. Einer Bewegung die nicht neu ist, die aber die Konsequenz aus täglich
geführten Diskussionen ist.
Johann hält sich für einen Weltverbesserer. Er glaubt fest an die Boshaftigkeit des Staats, dessen System die Menschen unterdrückt. Die Maschinerie des Kapitalismus. Er, Matze
Kristin und manchmal auch ihr Freund sind überzeugte Kommunisten. Sie glauben an eine Zukunft der absoluten Gleichheit und Brüderlichkeit und sind auch bereit dafür zu
kämpfen. Während Matze versucht eine Zigarette in den unendlichen Weiten seiner Dreadlocks zu finden und Kristin und ihr Freund für eine kurze private Zeit auf die Toilette gegangen sind, hängt Johann weiter den Gedanken der eben geführten Diskussion nach.
Er weiß, dass es nichts bringt nur zu reden, sondern das was zählt ist das Handeln. Er wäre gerne der, der die Veränderung bringt, der, der den Staat von den Ketten des Kapitalismus befreit und der, der Gleichheit unter den Menschen ausbreitet. Er stellt sich vor, wie er als Leader der linken Bewegung seine Kameraden in den Kampf gegen den Staat führt, in einen Kampf gegen die großen Mäzen und Bankiers, in einen Kampf gegen die Bonzen und Großindustriellen für Gerechtigkeit und Gleichheit. Sein Wunsch geht in den Imaginationen, die ihm durch die späte Stunde und der hohen Dosis THC lebhaft und
echt vorkommen, in Erfüllung. Er schreitet mit Megaphon und Plakat in der Hand vorneweg und schreit durch ersteres wichtige Fragen, die er an den Staat hat. „Hat der Mensch in einem von Kapitalistenschweinen geprägten System überhaupt noch die Freiheit, die er benötigt, um seine Rechte zu beanspruchen?“, schreit er durch sein
Megaphon und der hinter ihm laufende wütende Mob wiederholt die Frage in
tausendfacher Lautstärke. Die Menschenmasse hat mittlerweile den von matschigem Gras
überzogenen Vorplatz des Berliner Reichtags erreicht und fordert die Regierung auf, sich zu stellen und zu erklären, um diese zu bewegen etwas zu ändern. Johann hat mittlerweile
ein Platz auf einem Podest eingenommen. Der Wolf heult seine Fragen immer und immer weiter in das Tal der Masse zu dem Berg des Reichstags und er ist sich nicht sicher; was wünscht er sich mehr: das Echo oder die Antwort?