geschrieben 2019 von Sebastian Zankl (Geschichten_von_mir).
Veröffentlicht: 27.12.2019. Rubrik: Nachdenkliches
Zusammenhalt
Montag 1. Dezember 2014.
"Daniel steh auf, es wird Zeit für die Schule. Ich muss gleich los zur Arbeit", schallte es durch den kleinen kargen Flur der Drei-Zimmer-Wohnung im fünften Stock eines nicht mehr so ansehnlichen Mehrparteienhauses. Daniel hätte am liebsten seiner Mutter überhört, wer steht schon gerne um kurz nach sechs auf, um ewig mit einem überfüllten Bus zu fahren? Das Ziel: Daniels Schule und der Ort schlechthin, an dem er sich am unwohlsten fühlte.
Daniel quälte sich langsam aus seinem Bett. Wie gerne hätte er ein neues gehabt. Doch dafür war, wie für vieles andere, kein Geld da. Seine Mutter kämpfte um jeden Euro in ihrem Job, um Daniel und sich die Wohnung und etwas zu Essen zu finanzieren. Trotzdem musste er ab und zu hungrig ins Bett gehen, weil das Geld mal wieder nicht reichte.
Als Daniel kleiner war, hatte er seine Mutter jedes Jahr im Dezember nach einem Adventskalender gefragt. Die Antwort war immer die gleiche gewesen:" Es tut mir leid mein Schatz, dafür fehlt uns leider das Geld." Jetzt, Jahre später, fragte er seine Mutter nicht mehr. Mit seinen zehn Jahren war Daniel genauer im Bilde, was es hieß, wenig Geld zu haben.
In dieser Jahreszeit, öfter noch als im Rest des Jahres, suchte er sich daher einen Tisch für sich allein um sein Pausenbrot zu essen. Es machte ihn traurig, wenn die anderen von Dingen aus ihren Kalendern erzählten. Die anderen interessierten sich ohnehin kaum für ihn. Er trug keine Markenklamotten. Seine Haare schnitt seine Mutter und auch sonst passte er nicht wirklich in diese Gemeinschaft.
Nach dem Daniel sich angezogen hatte, schlurfte er lustlos durch den kleinen Flur in die Küche. "Morgen", nuschelte er vor sich hin und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Seine Mutter wuselte hektisch durch die Küche und machte ein paar Brote. "Ich weiß, heute ist der erste Dezember und du magst diese Zeit nicht, trotzdem könntest du mir etwas helfen ab und zu."
Daniel war zu müde und lustlos, um zu antworten. Immer wieder hatte er sich angemeldet, um Zeitungen auszutragen, leider ohne Erfolg. Welchen Job hätte er sonst noch übernehmen sollen in seinem Alter? Der Rest des Morgens verlief wie viele andere. Seine Mutter redete über die anstrengende Arbeit, über das knappe Geld, Verantwortung und so weiter. Daniel ließ es sich über sich ergehen, denn viel zu oft hatte er sich das Ganze schon anhören müssen.
Nachdem seine Mutter ihn zum Bus gebracht und zur Arbeit weiter gegangen war ging die Fahrt los. Der Bus war jetzt schon voll und Daniel klammerte sich an eine der Haltestangen. Wildes Kindergeschrei umgab ihn, ab und zu flogen Papiere durch die Gegend und immer wieder versuchte der Busfahrer, Herr der Lage zu werden. Diejenigen, die noch einen Sitzplatz ergattert hatten, schrieben schnell noch Hausaufgaben ab oder spielten irgend ein sinnloses Spiel auf ihren Handys.
Die Fahrt dauerte fast dreißig Minuten und nicht nur einmal wurde Daniel fast von einem Fahrgast über den Haufen gerannt. Eine Entschuldigung war nie zu hören. Er glaubte manchmal, er sei unsichtbar für die anderen. Oft stellte Daniel sich vor jemanden wegen seines Verhaltens zurecht zu weisen, doch das traute er sich nicht. So ertrug er es und schwieg wie immer, bis endlich die Schule erreicht war.
Alle stürmten nach draußen, einige verteilten sich im Hof, um Freunde oder Klassenkameraden zu begrüßen, andere gingen direkt in das alte Gebäude. Daniel hingegen machte sich auf den Weg zu dem kleinen Tisch am Rand des Hofs. Hier saß er oft allein vor dem Unterricht oder in den Pausen, während die anderen Tische eigentlich immer voll besetzt waren, wollte nie jemand an dem kleinen Tisch bei ihm sitzen.
So bahnte sich Daniel seinen Weg durch die anderen Schüler. Immer wieder wurde er angerempelt, bis er aus der großen Masse heraustrat und auf den Tisch zu lief. Doch im nächsten Augenblick blieb er stehen. Denn an "seinem" Tisch saß schon jemand.
Daniel war unschlüssig. Sollte er wie manch anderer direkt zu seinem Klassenraum gehen oder sich an den Tisch setzen? Daniel hatte den Jungen noch nie an der Schule gesehen. Natürlich kannte er nicht jeden, der hier zur Schule ging, schon gar nicht die der Klassen über ihm. Doch der Junge schien ungefähr in seinem Alter zu sein. Von der Ferne musterte Daniel den "Neuen".
Er hatte eine dicke grau-grüne Wollmütze auf, eine offensichtlich teure Jacke, Jeans und ein Paar brandneue Turnschuhe. Alles in allem sah er fast so aus wie die meisten anderen in Daniels Klasse. Mit seinen Klamotten hätte er also mithalten können, ebenso mit dem neuwertigen Ranzen einer bekannten Serie. Warum saß er dann so abseits? Er war neu, keine Frage, dennoch hätten ihn die anderen sicher rasch aufgenommen.
Daniel überlegte weiter und merke gar nicht, wie er den Jungen anstarrte. Als der Junge mehr zufällig aufschaute, trafen sich ihre Blicke. Beide waren erschrocken. Der Junge, weil er offensichtlich angestarrt wurde und Daniel, weil er nun das Gesicht des Jungen sah. Er war blass, extrem blass. Seine Wangen waren leicht eingefallen und die Augenlider schienen etwas zu hängen.
Daniel senkte sofort seinen Blick und wollte so tun als wäre nichts gewesen. Als er kurz darauf vorsichtig und verlegen wieder aufschaute, sah er ein kleines Lächeln im Gesicht des Jungen. Daniel lief nun weiter auf den Jungen zu, er wusste selbst nicht genau, warum... Und das Lächeln des Jungen wurde größer.
"Hallo", sagte Daniel und setze sich immer noch etwas verlegen an den Tisch. "Hallo, ich bin Jan und wie heißt du?" "Daniel", antwortete Daniel knapp und schaute sich um, als würde er auf etwas warten. "Freut mich, Daniel, alles okay?" Jan war anscheinend verwundert über das Verhalten seines Gegenübers. "Einmal hat sich jemand an den Tisch gesetzt und ich dachte, er wollte mit mir spielen oder so, dabei hat er mich nur abgelenkt. Die anderen haben mir dann einen Eimer Wasser über geschüttet und mich ausgelacht", erklärte Daniel betrübt.
Jans Augen wurden größer und Daniel fiel nun etwas auf, was er von weitem nicht sehen konnte. Jan hatte überhaupt keine Augenbrauen. "Ich werde dir sicher keinen Streich spielen," sagte Jan und lächelte wieder, "ich bin froh das ich nicht ganz allein hier sitzen muss. Ich bin neu hier und kenne noch niemanden."
"Warum bist du nicht bei den anderen und redest mit denen? Du musst doch sicher Geld haben, um dazu-zu-gehören", fragte Daniel nun ziemlich direkt, fast schon wütend, weil Jan mit seinen tollen Sachen hier saß und auf das verzichtete, was ihm selbst vergönnt war.
"Ich bin lieber für mich", antwortete Jan gelassen und Daniel tat es schon leid, wie er ihn angegangen hatte. "Du bist wohl eher ein Außenseiter, so wie ich", fügte Jan hinzu. Daniel schaute auf den kalten Betontisch vor ihm: "Meine Mutter und ich haben kaum Geld und ich kann mir niemals so Sachen leisten, dass die anderen mich dabei-haben wollen", murmelte er frustriert.
Was hatte Jan an sich, dass er mit ihm über alles redete? War er so froh, dass sich jemand für ihn interessierte, dass er alles preis gab, was ihn bewegte? Daniel konnte es sich nicht erklären. Das Schrillen der Schulglocke riss ihn aus seinen Gedanken und beide gingen langsam in das Gebäude.
"Wo musst du denn hin?", fragte Daniel auf dem Weg in den großen Hauptgang. "Auf meinem Zettel steht Raum 103", antwortete Jan schon fast schreiend, um den Lärm um sie herum zu übertönen. "Das ist ja mein Klassenzimmer", rief Daniel erstaunt aus. "Kann ich dann neben dir sitzen", frage Jan etwas leiser jetzt. Daniel war nun sprachlos. Nicht nur, dass er heute jemanden gefunden hatte, der mit ihm redete, nein, Jan wollte auch sein Tischnachbar werden.
"Natürlich kannst du das, neben mir ist noch ein Platz frei", freute sich Daniel und langsam ließ die Anspannung von ihm ab, dass das alles eine gut geplante Falle seiner Mitschüler war. Jan und Daniel kamen bei Raum 103 an, als gerade der Klassenlehrer die Tür aufschloss. Jan schaute sich um als hätte er noch nie ein Klassenzimmer von innen gesehen und folgte Daniel zu seinem neuen Platz.
Die anderen tuschelten und deuteten immer wieder in ihre Richtung, aber den beiden war das egal: Daniel, weil es ihn noch nie gestört hatte, was die anderen zum ihm sagten, und Jan war anscheinend noch in einer ganz anderen Welt. Als alle endlich saßen, richtete der Lehrer das Wort an die Klasse. "Jan, so heißt du doch oder? Nimmst du bitte noch deine Mütze ab, bevor ich dich den anderen vorstelle?"
Daniel war gar nicht aufgefallen, dass sein neuer Nachbar immer noch die Mütze trug. So kalt war es doch gar nicht und wenn, dann rissen sich die meisten ihre Mütze schon in den Fluren von den Köpfen, denn im Gebäude war es meist viel zu stark geheizt. Jan zögerte kurz und zog langsam die Mütze zur Seite weg und Daniel wurde blass.
"Wo sind denn deine Haare?", war schon der erste Zwischenruf zu hören. Wieder wurde aufgeregt getuschelt, Blicke wurden ausgetauscht. Jemand lachte kurz laut auf, bevor der Lehrer versuchte, seine Klasse wieder zur Ruhe zu ermahnen. Jan schaute betreten zu Boden. Seine ohnehin eingefallenen Wangen zogen sich weiter nach unten und Daniel sah, wie Jans Augen anfingen zu glitzern.
"Lasst ihn in Ruhe," platzte es aus Daniel heraus. Sofort war es ruhig. Damit hatte niemand gerechnet, nicht einmal Daniel selbst. Ein Knoten bildete sich in seinem Magen, als hätte ihm jemand in den Bauch geboxt. Doch die Entschlossenheit Jan, nicht den Launen seiner Mitschüler auszuliefern, war unverkennbar in Daniels Augen zu sehen. Demonstrativ rutschte er seinen Stuhl näher zu Jan und blickte in die verdutzten Gesichter der anderen.
Selbst der Lehrer brauchte einige Sekunden, um wieder das Wort zu ergreifen. "Bitte, Kinder, bleibt ruhig und lasst mich erklären: Jan ist in unsere Stadt gezogen, weil die Klinik hier eine Abteilung speziell für krebskranke Kinder hat. Das ist nicht ansteckend und auch nicht gefährlich für euch."
Bei diesen Worten drehte sich Daniel nun fast der Magen um. Glaubte der alte Sack da vorne, dass diese Ansprache passend gewesen sei? Er stelle Jan doch fast als Alien dar, der nun in friedlicher Mission hier war. Jan hatte sich kaum bewegt, er kämpfte noch damit, nicht in Tränen auszubrechen vor seinen neuen Mitschülern. Der Lehrer erzählte noch weiter, von irgendwelchen Halbwahrheiten über Krebs, bevor der eigentliche Unterricht begann. Doch Daniel hörte schon lange nicht mehr zu.
Unter dem Tisch hatte Daniel Jans Hand ergriffen und hielt sie fest. Jan wischte sich kurz über seine Augen und schaute zu Daniel. "Danke," flüsterte er leise. Seine Stimme zitterte und Daniel hörte deutlich die Anspannung heraus. "Warum hast du denn nichts gesagt?", fragte Daniel leise. "Für viele ist es schwer zu verstehen, was es heißt, Krebs zu haben", gab Jan immer noch etwas zittrig als Antwort.
Daniel war nun gefangen zwischen Trauer und Wut. Das war er oft, aber zum ersten Mal nicht, weil es ihn selbst betraf, sondern jemand anderen. Er war wütend, weil die anderen so viel Unverständnis zeigten und nun wohl dachten, dass Jan eine Art Aussätziger sei. Er war traurig, weil er wusste, was Krebs bedeuten konnte und seinem neuen Freund kaum in der Lage war zu helfen.
All diese Gedanken drehten sich in seinem Kopf. Er war kaum in der Lage, dem Unterricht zu folgen. Aber heute war das noch unwichtiger für ihn als sonst. Immer wieder drehten sich einzelne Schüler um und starrten Jan kurz an und immer wieder warf Daniel ihnen einen bösen herausfordernden Blick zu. Er hatte zwar Jans Hand wieder los-gelassen, dennoch fühlte er sich ihm näher als jedem anderen in diesem Raum.
Nach weiteren 40 quälenden Minuten war die Stunde zu Ende und alle packten ihre Sachen, um den Raum zu wechseln. Jan zog seine Mütze wieder auf und wollte seinen Block in den Ranzen stecken, als ein Mitschüler dagegen trat und den Inhalt damit auf dem Boden verteilte.
Jan traute sich kaum nach oben zu schauen. Von den Lippen seines Mitschülers konnte er das Wort "Freak" ablesen. Dann war der Junge auch schon verschwunden. Er ging mit den anderen zur nächsten Unterrichtstunde. Jan atmete tief durch, es war nicht das erste Mal gewesen, dass jemand ihn so behandelte. So musste er nicht nur gegen seine Krankheit, sondern auch gegen sein Umfeld kämpfen, was ihm offensichtlich immer schwerer fiel.
Doch heute war es anders. Er war nicht mehr allein mit seinen Sorgen und Ängsten. Daniel war sofort aufgesprungen, nicht um seinem Mitschüler eine zu verpassen, das hätte er sich ohnehin nicht getraut, sondern Jan zu helfen seine Sachen wieder in den Ranzen zu packen. "Das hat er bei mir auch schon öfter gemacht", erwähnte Daniel fast schon beiläufig. Als die beiden alles soweit wieder verstaut hatten, mussten sie Jans Pausenbrot noch entsorgen.
Die kleine Dose hatte sich geöffnet und den Inhalt in seinen Einzelteilen freigegeben. "Das habe ich heute morgen extra noch gemacht und bin deswegen fast zu spät gekommen", sagte Jan frustriert und ließ das Brot in den Mülleimer fallen.
"Du machst deine Pausenbrote selber?", fragte Daniel etwas verwundert. "Meine Eltern arbeiten sehr viel, noch mehr als früher, da meine Behandlung viel Geld kostet", sagte Jan als er die nun leere Dose in seinem Ranzen verstaute. "Du kannst die Hälfte von meinem Brot haben", meinte Daniel spontan. Dann gingen sie gemeinsam zum nächsten Unterricht.
Die nächsten Stunden verliefen fast so wie an jedem andern Tag auch. Etwas gelangweilt, aber doch glücklicher als sonst saßen Jan und Daniel Seite an Seite und folgten dem Stoff, den die Lehrer vermittelten. Ab und zu flog ein Papierkügelchen in ihre Richtung, doch zusammen waren sie stärker und nahmen das Verhalten der anderen gelassen hin.
Vom Klingeln endlich erlöst, gingen die beiden raus auf den Hof zu dem kleinen Tisch. Daniel zog seine Brotdose hervor, nahm sein Pausenbrot heraus und teilte es so gut er konnte in der Mitte. Er reichte es Jan, der es zögerlich annahm. "Du musst das Brot nicht mit mir teilen", wollte Jan noch sagen, da hatte er schon ein halbes Brot in der Hand.
"Schon okay", sagte Daniel und biss in seine Hälfte, " mehr hab ich leider nicht, bei uns ist das Geld im Moment wider etwas knapp." Jan schaute auf das halbe Brot in seiner Hand und ihm tat es offensichtlich leid, dass er Daniel um das wenige Essen, was er zu haben schien, brachte. Während Daniel schon fast seine Hälfte gegessen hatte, nahm Jan den ersten Bissen und seine Augen wurden größer.
"Das schmeckt ja richtig lecker, bei welchem Bäcker kauft ihr denn euer Brot", fragte Jan und hätte fast ein paar Krümel ausgespuckt. "Meine Mama backt oft selber Brot, die Zutaten sind etwas billiger, wenn man es selbst macht," sagte Daniel mit ziemlich vollem Mund. "Wir haben noch nie Brot selbst gemacht, dafür fehlt uns die Zeit", entgegnete Jan nun auch mit vollem Mund.
Die beiden unterhielten sich abseits der restlichen Kinder. Sie lernten sich kennen und lachten sogar das ein oder andere Mal, was für beide eher selten war. Nach zwanzig Minuten war die Pause vorbei und die Klingel rief alle zum weiteren Unterricht.
In der nächsten Stunde hatten sie Biologie und der Lehrer "korrigierte" die Aussage seines Kollegen zum Thema Krebs. Auch wenn nun alle wohl verstanden hatten, dass Jan nichts für seine Krankheit konnte, was es überhaupt bedeutete, Krebs zu haben, änderte sich am Verhalten der anderen so gut wie nichts. Er sah für viele wohl einfach unheimlich aus, so ganz ohne Haare und mit seinem blassen Gesicht.
Die Stimmung änderte sich lediglich von offensichtlicher Antipathie in Ignoranz und Jan wurde nicht weiter beachtet. Wahrscheinlich auch, weil er sich gut mit Daniel verstand, aber das störte weder Jan noch Daniel. Sie hatten einander und das war ihnen schon genug.
Der Rest des Tages verlief ohne weitere Ereignisse. Zumindest für alle außer für Jan und Daniel. Bei beiden löste sich die angespannte Stimmung der ersten Stunden immer weiter. Sie begannen sich immer mehr zu vertrauen. Verschwunden war bald die Schwere der Einsamkeit und Jan setzte nun nicht gleich wieder die Mütze auf. Er schien zu wissen, dass er sich vor Daniel nicht zu verstecken brauchte.
Für seinen neuen Freund war es nicht wichtig, wie er aussah. Selbst das Wenige, was Daniel hatte, teilte er mit ihm. Noch nie war Jan so einem selbstlosen, toleranten Menschen begegnet. War es das Schicksal, das die beiden zusammengeführt hatte? Das konnte niemand sagen. Doch ihre Geschichte hatte an diesem Tag erst begonnen.
Nach der Schule liefen Jan und Daniel gemeinsam zur Haltestelle. "Fährst du immer mit dem Bus?", fragte Jan kurz vor dem großen Tor, das die Grenze zwischen Schulstress und selbstbestimmter Freizeit für viele markierte. "Ja, wir haben kein Auto. Ich fahre mit dem Bus und meine Mama läuft meistens zur Arbeit in die Stadt," antwortete Daniel sichtlich beklommen.
"In der Pause hat mir mein Papa geschrieben, dass er früher von der Arbeit heim kommt, um noch was daheim zu arbeiten. Wir können dich bestimmt mitnehmen, wenn du möchtest", sagte Jan freudig. Daniel brauchte etwas um eine Antwort zu finden. "Ich hab' aber kein Geld für das Benzin", stammelte er dann etwas unbeholfen. "Du brauchst mir doch kein Geld geben dafür. Du hast mit mir dein Brot geteilt und ich möchte dir was dafür zurück-geben", sagte Jan schon fast etwas streng.
Als Daniel dann die Bushaltestelle und die dort tobenden Kinder sah, entschloss er sich dann doch, das Angebot anzunehmen. Viele Kinder wurden von ihren Eltern abgeholt und manche wussten sogar, wo Daniel wohnte, doch niemand hatte ihm bis jetzt angeboten ihn nach Hause zu bringen.
So stellten sich die beiden etwas abseits an die Straße und warteten auf Jans Vater. Es dauerte keine fünf Minuten, da bog auch schon ein großer schwarzer Wagen um die Ecke. Solche Autos kannte Daniel nur von weitem und er staunte nicht schlecht, als das noble Auto vor ihnen zum Stehen kam.
Auf der Beifahrerseite ging das Fenster nach unten und ein freundlich schauender Mann wandte sich an Jan. "Na, Großer wie war dein erster Tag in der neuen Schule? Hast du einen neuen Freund gefunden?" Der Mann schaute auf Daniel, der wiederum etwas betreten zu Boden blickte. Er bereute schon fast, dass er zugestimmt hatte, mit Jan zu fahren. Wenn er gewusst hätte, wie viel Geld er doch besitzen musste.
"Hallo Papa, der Anfang war nicht schön, aber Daniel hat mir sehr geholfen und sogar sein Essen mit mir geteilt, nachdem mein Brot runter gefallen war. Können wir ihn bei sich zu Hause absetzen? Sonst muss er mit dem blöden Bus fahren," erzählte Jan aufgeregt und schmückte das Geschehene noch etwas aus um seinen Vater zu überzeugen.
"Natürlich können wir ihn nach Hause fahren", sagte Jans Vater entspannt. Und die beiden Jungs setzten sich in das große Auto. Daniel traute sich kaum, auf der ledernen Rückbank Platz zu nehmen. Er fühlte sich fast schon am falschen Ort. Alles um ihn herum war neu und glänzte. In seinen Gedanken hatte er fast überhört, dass Jans Vater nach der Adresse fragte, wo er Daniel absetzen sollte.
Jan nahm ihn plötzlich an der Hand. Er schien zu merken, dass Daniel sich hier nicht wohl-fühlte. Was für Jan ganz normal war, war für Daniel wie eine andere Welt. Als Jan dann seine Hand hielt, entspannte er sich langsam und nannte zögerlich seine Adresse. Jans Vater gab die Adresse in das Navi und die Fahrt ging los.
Daniel klammerte sich schon fast an Jans Hand. Die Eindrücke, die auf ihn einstürzten, waren einfach zu viel im ersten Moment. "Alles okay bei dir?", frage Jan etwas hilflos. Daniel nickte heftig, traute sich aber nicht, etwas zu sagen. Was wenn er ein Wort falsch aussprechen würde?
Oder schlimmer noch, anfangen würde zu stottern. In diesem Moment war ihm einfach alles peinlich.
Jan versuchte ihn abzulenken und fragte:" Hast du verstanden, was wir heute in Mathe gemacht haben? Ich glaube ich nicht, der Lehrer kann nicht wirklich gut erklären". - "Ich bin ganz gut in Mathe, vielleicht kann ich dir helfen", sagte Daniel und versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Bis auf das Radio war nämlich kaum etwas zu hören im Auto. Es schien fast so, als würde Daniel der Lärm aus dem Bus fehlen.
Jan ging weiter auf das Thema Mathe ein und hatte instinktiv etwas gefunden, in dem Daniel wirklich gut war - besser als die meisten - in ihrer Klasse. Auch wenn die anderen es nicht merkten, denn Daniel beteiligte sich kaum am Unterricht. Wohl immer mit dem Hintergedanken, nicht erwünscht zu sein. Doch Jan war es aufgefallen, jetzt, wo er direkt neben Daniel saß. "Du könntest dich bestimmt viel öfter melden", sagte Jan, "du weißt doch so viel."
"Die anderen wollen bestimmt nicht hören, was ich zu sagen habe", meinte Daniel leise. "Aber ich möchte hören, was du zu sagen hast", lächelte Jan ihn freundlich an. Gleich darauf bogen sie in die Straße, in der Daniel wohnte. "So, Daniel wir sind da", sagte Jans Vater und schaute sich in der Straße um.
Die Straße war eher am Rand der Stadt gelegen. Große, alte Wohnblöcke zogen sich die Straße entlang. Alle hätten einen neuen Anstrich brauchen können. Doch Optik war für die wenigsten hier von Interesse. Sie waren dankbar genug, ein Dach über dem Kopf zu haben. "Hier wohnst du?", frage Jan und schaute etwas traurig auf die hohen grauen Gebäude. "Ja, seit-dem sich meine Eltern haben scheiden lassen vor sieben Jahren", antworte Daniel und öffnete die Tür des Autos.
"Wir wohnen gar nicht so weit weg. Stimmt's Papa?", fragte Jan schnell. "Naja, etwa fünf Kilometer in die Richtung, würde ich schätzen", kam die Antwort vom Fahrersitz und er deutete mehr oder weniger geradeaus durch die Frontscheibe. "Dann können wir Daniel doch morgen wieder mitnehmen, oder?", fragte Jan sofort nach. "Ich denke, Mama wird der kleine Umweg nichts ausmachen", lächelte Jans Vater. Auch er schien froh zu sein, dass Jan einen Freund gefunden hatte.
"Also morgen dann um sieben hier, okay?", rief Jan freudig aus und strahlte über sein ganzes Gesicht. Nun endlich, als Daniel mehr oder weniger in seiner vertrauten Umgebung war, taute er etwas auf und freute sich. "Ich werde mit meiner Mama drüber reden", sagte er, um sich eine kleine Hintertür offen zu halten. Doch insgeheim hatte er sich schon entschieden. Sollte heute Morgen wirklich seine letzte Busfahrt gewesen sein? Vielleicht konnte Daniel sein Ticket an seine Mutter weiter-geben, dann müsste sie nicht immer laufen.
Die beiden verabschiedeten sich, Daniel schloss die Autotür und machte sich auf den Weg in die Wohnung. Er ließ die Wohnungstür ins Schloss fallen und schaute sich um. Hier war nichts mehr neu. Es schien so, als sei er aus einer Welt in eine andere gewechselt. Plötzlich überkam ihn ein Schauer. Was, wenn Jan mal zum Spielen oder zum Hausaufgaben machen vorbei-kommen würde? Bei diesem Gedanken fröstelte es ihm. Was könnte er Jan schon bieten?
Daniel ging in sein Zimmer und setze sich auf das alte Bett. Wieder schaute er sich um. Er seufzte und malte sich schon aus wie Jan reagieren würde. Wahrscheinlich würde er sofort wieder gehen in seinen Palast, oder wo auch immer er wohnen mochte. Daniel lies sich rückwärts aufs Bett fallen und starrte eine Weile an die Decke. Unzählige Gedanken schossen ihm durch den Kopf und ein ungutes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus.
Es dauerte ein paar Minuten, bevor er sich wieder aufraffte und seine Hausarbeiten erledigte. Heute war er mit waschen dran, der Flur musste gesaugt werden und sein Zimmer sollte er aufräumen. Das alles verriet ihm das kleine Notizbrett, welches seine Mutter vor einigen Jahren aufgehängt hatte. Sie schaffte es einfach nicht mehr alleine, der Arbeit nachzugehen und den Haushalt zu führen. Nicht nur musste sie viele Überstunden machen, um das nötige Geld zu verdienen. Auch hatte sie oft Schmerzen nach der Arbeit.
So stopfte Daniel etwas lustlos die Wäsche in die Maschine, schüttete etwas Waschpulver hinterher und schaltete das Gerät ein. Er blieb noch kurz stehen, um zu schauen ob wieder Wasser auslief,
was Gott sei dank nicht der Fall war. Als nächstes nahm er den Staubsauger zur Hand, um den kleinen Flur zu saugen. Da er das Gerät ohnehin schon in Betrieb hatte, saugte er gleich noch die Küche und sein Zimmer.
In diesem war heute, wie schon länger nicht mehr, nicht wirklich viel aufzuräumen. Der Kleiderschrank in der Ecke war halb leer, die drei Regalbretter an der Wand waren eigentlich nur als Staubfänger anzusehen und auf dem kleinen Kinderschreibtisch aus Kindergartenzeiten legte er meistens nur seine Wäsche ab, vor dem Schlafengehen. All seine Schätze bewahrte er in einer kleinen dunkelgrünen Holztruhe auf. Hier waren Erinnerungen aus schöneren Tagen zu finden. Bilder mit ihm und seinem Vater bei Ausflügen, sein ferngesteuertes Auto, einige Bücher und ein kleiner Teddy. Er öffnete gerade den Deckel, als die Wohnungstür aufgeschlossen wurde.
Daniels Mutter betrat die Wohnung. Er wunderte sich, denn eigentlich hätte sie erst in einigen Stunden daheim sein sollen. Daniel ließ den Deckel wieder sinken und ging in den Flur. Seine Mutter sah nicht gut aus und irgend eine negative Stimmung hing in der Luft:"Hallo Mama,
du bist aber früh zu Hause, ist alles okay?", fragte Daniel. Seine Mutter schüttelte langsam den Kopf und ein Träne lief ihre Wange herunter.
"Was hast du denn", frage Daniel teils traurig teils wütend, denn nachdem er Jan kennengelernt hatte, wollte er insgeheim, dass nun alles besser werde würde. "Sie haben mir gekündigt", sagte seine Mutter monoton, in den Gedanken der weitreichenden Folgen gefangen. Daniel wurde weiß im Gesicht, seine Hände begannen zu zittern. Dann stürmte er auf seine Mutter zu und schloss seine Arme um sie:"Bitte, sag, dass das nicht wahr ist", schluchzte er.
"Es tut mir leid, mein Schatz, ich hatte heute meinen letzten Tag, morgen muss ich zum Amt und was Neues suchen", antwortete seine Mutter mit Tränen in den Augen. Daniel klammerte sich aus lauter Verzweiflung an seine Mutter. Was sollte nun werden? Würden sie die Wohnung halten können? Würde er nun noch öfter ohne Essen ins Bett müssen?
Es dauerte eine Weile, bis die beiden sich wieder gefangen hatten. Daniels Mutter kniete sich vor ihn und streichelte durch seine Haare. "Wir schaffen das schon, mein Schatz", und sie versuchte all ihre Zuversicht in diese Worte zu legen, doch es gelang ihr sichtlich kaum selbst, daran zu glauben, was sie gerade ausgesprochen hatte. Daniel versuchte, sich ein Lächeln abzuringen, um seiner Mutter ebenfalls Zuversicht zu zeigen. Dann setzten sich die beiden in die Küche und erzählten sich lange und ausgiebig, was der Tag gebracht hatte.
Es war spät geworden für beide und Daniel hatte Mühe, am nächsten Tag aufzustehen. Er wusste nicht, was er fühlen sollte. Auf der einen Seite die Freude darüber, Jan als Freund gefunden zu haben, auf der anderen Seite das Bangen, um die Zukunft seiner Mutter und von ihm selbst. Langsam kroch Daniel aus dem Bett und zog sich an. Es waren die gleichen Sachen wie gestern, denn über das Reden hatten beide vergessen, die Wäsche aufzuhängen.
Er ging ins Bad und schaute müde in sein Spiegelbild. Zumindest seine Haare kämmte er ein bisschen, auch wenn ihn das kaum vor den Sprüchen seiner Mitschüler bewahrte, wenn er an zwei Tagen hintereinander mit den-selben Klamotten auftauchte. Anschließend schlurfte er wortlos in die Küche, wo seine Mutter schon sein Brot in den Ranzen packte. "Ich hoffe, Jan hält Wort und holt dich wirklich ab, sonst kommst du zu spät", sagte seine Mutter ohne ein ,Guten Morgen'. Sie wusste, wie oft Daniel litt und wie oft ihm, wegen seiner Situation, schon Streiche gespielt worden waren.
"Er wird sicher kommen, er hat es versprochen", gab Daniel etwas patzig zurück, denn auf Jan ließ er nichts kommen. "Schon gut, du weißt, was schon alles passiert ist", seufzte seine Mutter und verdrehte ein wenig die Augen dabei. Daniel zog das Busticket für diesen Monat aus der Tasche und legte es auf den Tisch. "Dann kannst du mit dem Bus fahren heute", sagte er und versuchte fröhlich zu wirken.
"Danke, mein Schatz", lächelte seine Mutter noch und verabschiedete ihn an der Wohnungstür. Daniel lief langsam die Treppe herunter und öffnete die untere Haustür. Gerade als er den Weg vor dem Wohnblock betrat, hielt ein Auto an der Straße. Das hintere Fenster ging langsam nach unten und Jan, mit seiner grau-grünen Mütze, winkte ihm freudig durch die geöffnete Scheibe. Daniel lächelte zurück, auch wenn es ihm schwer-fiel, und stieg kurz darauf in das Auto.
Auf der Fahrt zur Schule lernte Daniel nun auch Jans Mutter kennen. Sie fuhr ein anderes Auto als Jans Vater und schien, ihrer Kleidung nach, auch eine höhere Stelle inne-zu-haben. Jan und Daniel unterhielten sich auf den Rücksitzen angeregt über alles Mögliche und Daniel vergaß schon fast in diesen wenigen Minuten mit Jan, was gestern passiert war. Doch Daniel erzählte seinem Freund nichts davon, er wollte ihn nicht verlieren.
An der Schule angekommen, verabschiedeten sich die beiden von Jans Mutter und der alltägliche Schulwahnsinn begann erneut für die Zwei. Viele Unterschiede gab es kaum zum gestrigen Tag, außer natürlich, dass Jans Brot heute unversehrt blieb und dass er auch ein paar Süßigkeiten für Daniel mitgebracht hatte. Daniel freute sich, auch wenn es ihm immer schwer fiel, etwas anzunehmen. Immer mit dem Hintergedanken, was er Jan dafür geben könnte.
Die nächsten Tage verliefen relativ ereignislos und die Woche neigte sich bald dem Ende zu. Am Freitag fragte Jan, ob sie am nächsten Tag etwas zusammen unternehmen würden. "Meine Eltern wollen mit mir auf den Weihnachtsmarkt gehen", sagte er freudig, als sie zusammen warteten, abgeholt zu werden. "Ich weiß nicht", druckste Daniel erst ein wenig und kam nun mit der Wahrheit heraus: "Meine Mama hat ihren Job verloren am Montag." Jetzt war es raus, er zog den Kopf ein und wartete auf Jans Reaktion.
"Oh, warum hast du das nicht früher gesagt", fragte Jan überrascht. "Ich dachte, du willst vielleicht nicht mehr mein Freund sein dann", gab Daniel kleinlaut zu. Jan bekam große Augen. "Du bist der netteste Mensch, den ich je getroffen habe. Du hast mit mir dein Brot geteilt, obwohl du selbst kaum was hast. Du bist für mich wichtig, egal ob mit viel oder wenig Geld", sagte Jan und knuffte Daniel freundschaftlich gegen die Schulter. Daniel schwieg.
Im Auto ging die Unterhaltung weiter, als Jan seinem Vater ohne Zögern von Daniels Mutter und der Situation erzählte. Daniel wurde immer kleiner auf seinem Sitz und wäre am liebsten aus dem Auto gesprungen. Jans Vater blickte in den Rückspiegel und fragte: "Was hat denn deine Mutter gearbeitet?" - "Sie hat in einer Firma geputzt, aber sie hat mal Krankenpflegerin gelernt", antwortete Daniel kleinlaut.
"Warum arbeitet sie denn nicht mehr als Pflegerin?", hakte Jans Vater nach. "Sie musste die Stelle wechseln, nachdem meine Eltern nicht mehr zusammen waren. Mein Papa hat das Auto mitgenommen, als er gegangen ist und ich war noch sehr klein", erklärte Daniel und fühlte sich plötzlich schuldig, obwohl er nichts dafür konnte. "Das ist traurig", antworte Jans Vater und fügte hinzu, "Ich habe eine Stelle als Chefarzt hier im Krankenhaus übernommen, ich möchte gerne mal mit deiner Mutter sprechen, vielleicht ergibt sich ja was."
Daniel war sprachlos. Nicht nur, dass Jan ihm immer wieder etwas zu Essen zugeschoben hatte, nun wollte auch Jans Vater seiner Mutter vielleicht eine neue Arbeit anbieten. "Okay, ich werde es ihr sagen", meinte Daniel dann und versuchte wieder fröhlicher zu klingen als er war. Er war so viel Güte und Hilfsbereitschaft einfach nicht gewohnt.
"Sie kann ja morgen mit zum Weihnachtsmarkt kommen, da unterhalten wir uns mal ganz unförmlich", sagte Jans Vater lächelnd und kurz darauf waren sie bei Daniel zu Hause angekommen. "Wir kommen dann morgen so um 18 Uhr vorbei", freute sich Jan und verabschiedete Daniel.
Daniels Mutter saß am Küchentisch und war etwas bleich, als Daniel ihr erzählte, dass sie morgen mit Jan und seinen Eltern auf den Weihnachtsmarkt gehen sollten. "Ach Schatz, wir können uns im Moment noch weniger leisten als sonst...", wollte sie gerade erklären als Daniel einhakte, "Ich will doch gar nicht, dass wir was kaufen, rede einfach mal mit Jans Papa, vielleicht kannst du dann bald wieder arbeiten."
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Daniel seine Mutter endlich überzeugt hatte, denn auch sie tat sich schwer, etwas anzunehmen, ohne etwas geben zu können. "Also schön", schloss sie das Gespräch, "dann gehen wir morgen auf den Weihnachtsmarkt. Dort lerne ich dann auch mal deinen neuen Freund kennen."
Daniel freute sich schon auf den nächsten Tag. Er war schon viele Jahre nicht mehr auf dem Weihnachtsmarkt gewesen - das letzte Mal, als sein Vater noch da gewesen war. An diesem Abend öffnete er seine kleine Truhe und nahm den Teddy hervor. Den hatte sein Vater am Schießstand für ihn gewonnen und Daniel war so stolz gewesen, dass er ihn nie aus der Hand gegeben hatte.
Nachdem seine Eltern sich hatten scheiden lassen, konnte er den Teddy nicht mehr ansehen. Viel zu sehr war er verletzt als er und seine Mutter zurück blieben und vieles verkaufen mussten, um über die Runden zu kommen. Warum er den Teddy behalten hatte, wusste er nicht. Viele andere Spielsachen hatten sie auf dem Flohmarkt verkauft, doch der Teddy blieb wie eine Art Mahnung in der Truhe.
Der nächste Tag zog sich wie Kaugummi in Daniels Augen. Immer wieder schaute er auf die Uhr, lief unruhig umher und fragte sich, wie der Abend wohl werden würde. Seine Mutter hatte die Wäsche vom Vorabend abgehängt und bügelte noch sorgfältiger als sonst die Falten heraus. "Wir wollen doch einen guten Eindruck machen", hatte sie Daniel immer wieder ermahnt.
Dann war es endlich soweit. Kurz vor 18 Uhr zog Daniel mehr oder weniger seine Mutter aus der Wohnung und die vielen Treppenstufen hinunter ins Erdgeschoss. "Langsam, Daniel, sonst fällst du noch", versuchte sie ihn zu bremsen. Aber Daniel hielt nun nichts mehr, er konnte es kaum erwarten, seinen Freund zu sehen und Spaß zu haben.
Es dauerte nicht lange, dann hielt der große Wagen von Jans Vater an der Straße. Die Drei stiegen aus und machten sich mit Daniels Mutter bekannt, bevor sie dann weiter zum Weihnachtsmarkt fuhren. Im Auto war es still, außer dem Radiomoderatoren schien sich niemand zu trauen, ein Gespräch anzufangen. Erst als Daniels Mutter sie zu einem quasi unbekanntem und fast immer freien Parkplatz lotste, lockerte sich die Stimmung etwas.
Dick eingepackt liefen sie dann die letzten Schritte zum Markt und zwängten sich durch die vielen Menschen an den bunt beleuchteten und weihnachtlich geschmückten Buden vorbei. Es roch nach Gewürzen und Gebratenem.
Einige Besucher trugen rote Mützen mit weißen Bommeln und überall hörten sie fröhliche Menschen reden und lachen. Die beiden Jungs, besonders Daniel, kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Nach einer Weile hatte sie eine schöne Ecke gefunden, in der ein Stand für Crêpes und einer für Glühwein zu finden war. "Papa, dürfen wir Crêpes haben", fragte Jan sofort und versuchte, seinen Vater in Richtung der Bude zu ziehen. "Weißt du denn, ob Daniel überhaupt Crêpes mag?", fragte sein Vater lachend und beide schauten auf Daniel. Der wusste im ersten Moment nicht wie ihm geschah, er hatte mal von Crêpes gehört, aber noch nie einen gegessen. "Ich habe noch nie einen probiert", gab er zu und wurde etwas rot.
Ihm war vor Jan und seinen Eltern zwar nicht mehr so vieles unangenehm wie zu Anfang, doch hier prallten, offensichtlich, wieder zwei Welten aufeinander. "Die schmecken dir bestimmt, du kannst dir aussuchen was, drauf-kommen soll, ich mag meinen am liebsten mit Nutella", erklärte Jan atemlos und Daniel willigte ein, einen Crêpes zu probieren.
Während die drei Männer in der einen Schlange standen, stellte sich Jans Mutter kurzerhand in die Schlange nebenan, um Glühwein für die Erwachsenen zu besorgen. Daniels Mutter stellte sich dazu, wusste aber nicht so recht, ob sie einen Glühwein trinken sollte. Im Gegensatz zu Daniel hatte sie auf die Preise geschaut und drehte nun unruhig die drei Zwei-Euro-Münzen in ihrer Tasche hin und her.
Die beiden Frauen waren zuerst dran, da Viele, als Wichtel anmutende Vereinsmitglieder, hinter der Theke emsig den Glühwein ausschenkten und für ausreichend Nachschub sorgen. "Drei Glühwein bitte und eine große Tüte Magenbrot", bestellte Jans Mutter und die junge Dame machte sich gleich daran, die hübschen Tassen zu befüllen. "15 Euro mit Pfand macht das dann", sagte sie lächelnd und Jans Mutter zog gleich einen Zwanziger aus der Tasche.
Daniels Mutter kam gar nicht dazu, ihren Glühwein zu bezahlen und das schien beabsichtigt gewesen zu sein. "Nehmen Sie grad' die zwei Tassen, dann nehme ich das Magenbrot und den dritten Glühwein", wurde sie gefragt und brauchte eine Sekunde, um zu realisieren, was hier gerade ablief. "Vielen Dank", sagte sie höflich und nahm die zwei Tassen von der Theke.
Während die beiden Frauen Glühwein und Magenbrot zu einem kleinen Stehtisch trugen, waren nun auch bald die Männer an der Reihe. "Zwei Mal mit Nutella bitte", bestellte Jan. Nachdem Jan in der Schlange so von Nutella geschwärmt hatte, wollte Daniel das Gleiche wie sein Freund. Der Verkäufer blickte in Richtung von Jans Vater. "Ich bin nur fürs Geld zuständig", lachte der und der Verkäufer nickte kurz, ebenfalls mit einem Lachen im Gesicht.
"So, das macht dann acht Euro", sagte der Mann in dem kleinen Wagen und Daniel wurde bleich, als Jans Vater einen Zehner über die Theke reichte. "Warum hast du nicht gesagt, dass die so teuer sind", tuschelte Daniel in Jans Ohr. "Bitte mach dir doch einmal keine Sorgen um Geld", sagte Jan ruhig, "ich möchte, dass mein bester Freund mit mir zusammen Spaß hat."
Daniel atmete tief durch: "Okay, ich versuchs", sagte er entschlossen und ließ in diesem Moment alle Sorgen von sich fallen, um in die Atmosphäre einzutauchen. Nachdem dann alle um den kleinen Stehtisch versammelt waren, unterhielten sich die Erwachsenen über für Jan und Daniel ziemlich langweilige Themen. Erst als es um die Arbeit ging, wurde Daniel wieder aufmerksamer.
Seit dem Besuch beim Weihnachtsmarkt waren nun einige Tage vergangen. Daniels Mutter und Jans Eltern hatten sich angeregt unterhalten und Jans Vater hatte angeboten, dass Daniels Mutter zur Probe in seinem Bereich als Pflegerin arbeiten sollte. Nun, einige Tage später, war es soweit. Daniels Mutter machte sich auf den Weg ins Krankenhaus, während Daniel wieder mit Jan zur Schule fuhr.
"Viel Erfolg heute, Mama", hatte Daniel ihr noch zugerufen, als er in das Auto eingestiegen war. Sie winkte kurz und lächelte ihm zu, dann ging sie zur Bushaltestelle. Der Tag wurde anstrengend für sie, vieles hatte sie schon lange Zeit nicht mehr gemacht. Ihre neuen Kolleginnen und Kollegen hatten Verständnis und zeigten ihr alles. Später am Tag kam Jans Vater vorbei und nahm sie mit in sein Büro.
Während Daniels Mutter ihren Probetag absolvierte, hatten Jan und Daniel einen normalen Schultag. "Was machst du so in den Ferien?", frage Daniel freudig. "Naja, ich muss noch mal ins Krankenhaus vor Weihnachten. Die letzte Schulwoche bin ich leider nicht da", antwortete Jan etwas traurig. "Ist es wieder wegen deiner Krankheit?", fragte Daniel sofort und Jan nickte nur leicht.
"Ich komme dich ganz oft besuchen", versuchte Daniel seinen Freund aufzuheitern. Jan lächelte wieder, wusste aber anscheinend nicht, wie er seinem Freund den Ernst der Lage beibringen sollte.
So wechselte er einfach das Thema: "Ich habe heute Morgen mit meinem Papa gesprochen. Er hat wohl schon einen Arbeitsvertrag für deine Mama fertig machen lassen", erzählte Jan freudig.
"Wirklich? Ich hoffe sie schafft das auch, sie hat schon lange nicht mehr im Krankenhaus gearbeitet", sagte Daniel, wollte dabei aber nicht zu pessimistisch klingen. "Sie schafft das sicher", heiterte Jan ihn auf. Dann war die Pause auch schon bald vorbei.
Etwa zur gleichen Zeit, im Krankenhaus, unterhielten sich Daniels Mutter und Jans Vater. Er legte ihr den Arbeitsvertrag vor und sie las ihn kurz durch. Hier würde sie beinahe das Doppelte verdienen wie zuvor, mit der Möglichkeit, sich weiter-zu-bilden und weiter zu kommen.
Sie war überglücklich und konnte es kaum erwarten, Daniel davon zu erzählen.
Doch zuvor mussten beide noch einige Pflichten für diesen Tag erfüllen, doch für beide gingen diese heute etwas leichter von der Hand. Auch wenn Daniel betrübt war, dass sein bester Freund nun eine Weile ins Krankenhaus musste, schmiedete er schon Pläne, wann er ihn das erste Mal besuchen wollte.
Als Daniel nach der Schule nach Hause kam, fand er ein kleines Päckchen auf seinem Bett.
Etwas verwundert nahm er es hoch, als seine Mutter langsam in sein Zimmer kam. "Ich weiß, heute ist noch nicht Weihnachten, aber ich wollte dich gerne überraschen nach dem tollen Tag", lächelte sie. Ihr Lächeln schien nicht gezwungen, sondern offen und ehrlich. "Du hast den Job?", fragte Daniel und fiel ihr in die Arme. "Ja, ab jetzt musst du nicht mehr hungrig ins Bett, mein Schatz. Komm mach dein Päckchen auf", freute sie sich mit ihm.
Daniel machte gleich sein Päckchen auf und strahlte über das ganze Gesicht. "Danke, Mama, das habe ich mir schon immer gewünscht", rief er freudig aus und fiel ihr wieder in die Arme. Gleich darauf gingen beide in die Küche. Nicht nur das kleine Geschenk für Daniel, sondern auch einige Lebensmittel hatte Daniels Mutter eingekauft. Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. So einen schönen Tag hatte er schon lange nicht mehr gehabt.
Dann dachte Daniel wieder an Jan und erzählte seiner Mutter davon: "Du schaust dann bitte ganz oft nach ihm", ermahnte er sie schon fast. "Natürlich schaue ich nach ihm, mein Großer", lächelte sie, denn sie wusste, dass ihm inzwischen nichts wichtiger geworden war als Jan, sein bester Freund. Dann setzten sie sich und genossen ihr erstes großes Abendessen seit vielen Jahren.
Der nächste Montag kam. Nachdem Jan und Daniel sich zum ersten Mal bei Daniel getroffen hatten, um den Samstag gemeinsam zu verbringen, war Daniel nun wieder allein zur Schule unterwegs. Der Abschied war ihm nicht leicht gefallen und eine ganze Woche ohne seinen besten Freund würde nicht einfach werden. Auch wenn die Lehrer kaum noch neuen Stoff durchnahmen, schrieb Daniel alles mit für Jan.
Er konnte kaum dem Unterricht folgen, so sehr vermisste er Jan und endlich war der Unterricht vorbei. Daniel rannte, so schnell er konnte, zum Bus und machte sich auf den Weg ins Krankenhaus. Am Empfang fragte er nach seiner Mutter und wurde, nach einem kurzem Telefonat, in den dritten Stock geschickt. Dort angekommen fragte er sofort nach Jan, doch das Gesicht seiner Mutter lächelte diesmal nicht.
"Jan geht es nicht so gut", sagte sie leise, "er ist nach der Operation nicht wieder aufgewacht." Daniels Gesicht entgleiste in diesem Moment. "Ich.. ich.. ich möchte zu ihm bitte", stotterte er und versuchte seine Tränen zurück-zu-halten. Seine Mutter seufzte tief, sie wusste, das sie ihn nicht davon abhalten konnte. "Komm, ich zeig dir sein Zimmer", sagte sie betrübt und die beiden gingen einen langen Flur entlang.
Hier hatten die Zimmer große Glasscheiben, sodass die Patienten auch von außen beobachtet werden konnten. An einer der Scheiben sah Daniel Jans Vater stehen. Er blickte in das Zimmer und schien ganz woanders zu sein. Erst als Daniel sich neben ihn stellte, schaute er sich um. "Hallo Daniel", sagte er traurig", es freut mich, dass du gekommen bist, um Jan zu besuchen." Daniel schaute durch die Scheibe. So viele Schläuche und Leitungen führten zu Jans Körper und
wieder weg, dass er sie nicht zählen konnte.
"Darf ich zu ihm rein?", fragte Daniel und schaute in das blasse Gesicht von Jans Vater. "Komm, wir gehen zusammen rein", sagte der kurz entschlossen und öffnete vorsichtig die große, überbreite Tür. Daniel ging in das Zimmer. Es roch nach Desinfektionsmitteln, eine Maschine piepte im Rhythmus von Jans Herzschlag und eine weitere Maschine beatmete seinen Freund. Jans Augen waren geschlossen, aus seinem Mund kamen Schläuche, sein Brustkorb hob und senkte sich langsam, aber nicht aus eigener Kraft.
Vor Daniels Augen begann sich alles zu drehen. Ihm wurde übel und er musste sich kurz an der Klinke festhalten, um nicht umzufallen. Er atmete zweimal tief durch, dass sich seine Nase an den Geruch gewöhnen konnte. Nach diesem kurzen Moment ging er zielstrebig auf das Bett zu, rückte einen Stuhl daneben und setze sich. "Ich bleibe hier, bis er wieder aufwacht", verkündete er entschlossen und nahm vorsichtig Jans Hand.
Daniels Mutter und Jans Vater wechselten kurz einen Blick und sie schüttelte ganz leicht den Kopf, um ihm deutlich zu machen, dass nun erst mal niemand mehr Daniel aus diesem Stuhl bekommen würde. Zumindest nicht, ohne dass er das Krankenhaus zusammen-geschrien hätte. Jans Vater seufze und legte seine Hand auf Daniels Schulter. "Dann bleib bei ihm, erzähl ihm ein bisschen von der Schule, das hilft ihm sicher", sagte er leise und ging dann wieder aus dem Zimmer.
Daniels Ankündigung war so ernst gemeint wie ausgesprochen. Er saß neben Jan und rührte sich kaum einen Millimeter vom Fleck. Nur widerwillig ließ er sich später von seiner Mutter überreden, mit in die Kantine zu kommen, um etwas zu essen. Bis spät in die Nacht hing Daniel in seinem Stuhl und redete mit Jan, bevor seine Mutter kam, um Daniel mit nach Hause zu nehmen.
Drei Tage und Nächte verbrachte Daniel so in dem Zimmer seines besten Freundes. Wenn seine Mutter zur Spätschicht ins Krankenhaus kam, saß Daniel schon in seinem Stuhl bei Jan. Sie hatte die Schule angerufen und mitgeteilt, dass er krank sei und vor den Ferien nicht mehr kommen werde.
Daniels Augen waren klein geworden, seine Haut blass und seine Haare hatte er schon lange nicht mehr gekämmt. Nach einer Weile kam Jans Vater vorbei und schickte ihn mit seiner Mutter nach Hause. "Du kannst Jan heute leider nicht mehr sehen, er kommt in einen Raum, wo nur Ärzte Zutritt haben. Komm' morgen wieder", sagte er half Daniel zum Aufzug.
Die Nacht war kaum erholsam für Daniel. Immer wieder schreckte er aus Alpträumen hoch, bevor er wieder in sein Kissen sank. Es war erst sechs Uhr früh als er sich schon in die Küche setzte, um ein paar Cornflakes zu essen. Das hob seine Stimmung zumindest etwas, da er viele Jahre darauf verzichten musste. Eine Stunde später waren er und seine Mutter schon wieder auf dem Weg ins Krankenhaus.
Daniel ging auf das Zimmer zu, in dem sein Freund lag, und sah eine Bewegung. Aber außer Jan war niemand zu seh'n. Daniel ging schneller, hastete auf die Tür zu und stand im nächsten Moment im Raum. Jan schaute ihn an und lächelte. Die Schläuche und Leitungen waren viel weniger geworden. "Hallo Daniel", krächzte er leise. Daniel stürmte zum Bett und nahm Jans Hand. "Du bist endlich wach, ich dachte, ich hätte dich verloren", strahlte Daniel.
"Mein Papa hat mir erzählt, dass du die ganze Zeit hier warst, um mir beizustehen", sagte Jan leise. "Ich konnte dich einfach nicht alleine lassen," gab Daniel zu und fühlte, wie alle Anspannung von ihm abfiel. "Ich möchte dir gerne etwas schenken", flüsterte Jan, "mein Papa hat es für mich eingepackt." Daniel wollte schon sagen, dass er nichts haben wolle.
Jan jedoch bestand darauf. "Nimm es bitte, das ist sehr wichtig für mich." Daniel nahm das Päckchen und öffnete es vorsichtig. Daniels Augen weiteten sich. "Das.. das ist ja deine Mütze", sagte er vollkommen überrascht. "Ich brauch sie nicht mehr", erklärte Jan, "ich habe es geschafft."
Dann lächelte Jan und Daniel verstand.