Veröffentlicht: 28.11.2019. Rubrik: Fantastisches
Giesbert der Entbehrliche 3. Teil - Besorgte Bürger
1.
Noch gegensätzlicher hätte es nun wirklich kaum sein können. Giesbert saß reglos auf dem, vermutlich mit voller Absicht, höchst unbequem gehaltenen Besucherstuhl in Onkel Hilmars Arbeitszimmer, während der Graf unablässig hinter seinem Schreibtisch hin und her lief und dabei wild gestikulierend mit den Händen herumfuchtelte. Ununterbrochen brüllte er lange Fragen und unterbrach Giesbert ständig bei dessen kurzen und leisen Antworten.
„Giesbert, warum berichtete mir ein Förster aus dem Wald der tausend Schrecken, er habe ein deutliches Schnarchen aus der Höhle dieses Drachen gehört, den du angeblich vor kurzem erschlagen hast?“
„Also, das war so, Onkel Hilmar, wir mussten...“
„Und warum, um Himmels Willen, ist der Gutshof des betreffenden Beschwerdeführers noch in der selben Nacht restlos abgebrannt und sein Besitzer wie vom Erdboden verschluckt?“
„Die ganze Sache hat sich als...“
„Wenn das nur schon das Schlimmste wäre! Könntest du mir mal bitte erklären, warum in meiner schönen Burg neuerdings eine Hexe wohnt? Eine richtige Hexe, das muss man sich mal vorstellen! Die Wachen tuscheln schon hinter meinem Rücken und die Putzfrau traut sich kaum noch in den Westflügel, das kann doch wohl nicht wahr sein!“
„Ich weiß wirklich nicht...“
„Du brauchst mir gar nichts zu erzählen. Ich habe dich heute Morgen selber dabei beobachtet, wie du dich kurz vor Sonnenaufgang aus ihrer Kammer geschlichen hast!“
„Es ist halt so, dass Klara und ich...“
„Das interessiert mich doch überhaupt nicht! Es geht ja nicht nur um irgendwelche zaubernden Weiber, die du hier anschleppst, sondern darum, dass du scheinbar eine ganz allgemeine Vorliebe für höchst zweifelhafte Gäste hast!“
„Ich weiß wirklich nicht, was du...“
„Du brauchst gar nicht erst so unschuldig zu tun! Einen der Köche hätte in der letzten Nacht fast der Schlag getroffen, als er im Keller eine Gruppe von Wichten dabei ertappte, wie sie ein komplettes Bierfass entwendeten!“
„Wie kommst du denn auf die Idee, dass ich...“
„Wie ich darauf komme? Als die kleinen Halunken das Fass mit wildem Gegröle an ihm vorbeirollten, hat einer von denen zu dem Koch gesagt, er müsse sich keine Sorgen machen, das ginge schon in Ordnung, denn sie seien gute Kumpels von dir!“
„Ich kann das erklär...“
„Das kann ich mir vorstellen! Von dem Burgfest in der letzten Woche will ich erst gar nicht anfangen! Wie nennt sich diese schreckliche Kapelle noch mal?“
„Sie heißen...“
„Ach, ja, die unflätigen Armbrüste! Was ist denn das bitte für ein bescheuerter Name? Und wie sich die Leute dort benommen haben, war einfach nicht zu fassen. Inzwischen haben einige von denen sogar ein leerstehendes Haus am Hafen besetzt. Man kann auch gar nicht mehr zum Marktplatz gehen, ohne dort angesprochen zu werden, ob man mal eine Dukate übrig hat. Das ist doch wohl die Höhe!“
„Ich habe Johann doch lediglich geraten...“
„Das spielt scheinbar ohnehin keine Rolle, denn mein feiner Herr Neffe muss ja nicht mal persönlich anwesend sein, damit seltsame Dinge passieren!“
„Was meinst du denn jetzt....“
„Als du wegen dieser Hexe unterwegs warst, fingen plötzlich überall Tiere an unruhig zu werden. Hunde bellten, Katzen fauchten und selbst die Ratten huschten panisch durch die Straßen der Stadt. Einige Hühner sind sogar tot von ihren Stangen gefallen, stell dir das mal vor!“
„Ich denke, dass war als der...“
„Ach, das ist doch Unsinn, Giesbert, wie oft soll ich dir noch sagen, dass...“
Unvermittelt wurde Hilmar seinerseits mitten in seinem cholerischen Redeschwall unterbrochen, als es plötzlich eindringlich an der Bürotür klopfte. Er öffnete sie fahrig und Helmut, sein Sekretär, streckte den sorgfältig gescheitelten Kopf hinein und flüsterte aufgeregt in die gräflichen Ohren. Man konnte selbst im schwachen Licht der flackernden Kerzen sehen, wie Hilmars Gesicht an Farbe verlor und sich seine Züge verhärteten. Als Helmut verstummte, raunte der Graf einige harsche Anweisungen und die Tür wurde wieder geschlossen.
„Was ist denn los?“, fragte Giesbert besorgt.
„Da draußen geht etwas beunruhigendes vor sich, aber ausnahmsweise scheint es nicht auf deinem Mist gewachsen zu sein.“
„Kann ich etwas tun?“
„Ach was, hier geht es um Politik, davon verstehst du nichts. Du brauchst dich nicht darum zu kümmern und kannst jetzt gehen.“
Auch hier waren Graf und Ritter wieder sehr gegensätzlicher Meinung. Giesbert erhob sich um das Arbeitszimmer seines Onkels zu verlassen und musste daran denken, was Klara heute morgen zu ihm gesagt hatte:
„Wir müssen ganz besonders aufmerksam sein, Giesbert. Niemand kann sagen, wann und wie dieser Dämon zuschlagen wird.“
2.
Giesbert spürte eine Art beunruhigter Neugier, oder neugieriger Beunruhigung und lief schnell durch die weiten Flure der Burg. Er verstaute den Feenspiegel in seiner Hemdtasche und klopfte danach an Klaras Tür. In der einsetzenden Dämmerung folgten ihnen lange Schatten. als sie durch das Burgtor traten. Verwundert blickten sie auf eine Gruppe von mindestens drei dutzend Bürgern, die auf dem Vorplatz standen und wild durcheinander riefen. Hier und da war die Flagge des Landes, oder das Wimpel der Grafschaft zu erkennen. Die Leute sahen völlig normal aus, jedenfalls wenn man mal davon absah, dass sie alle kleine Kochtöpfe, Blechschüsseln, oder auch Hundenäpfe auf ihren Köpfen trugen. Giesbert und Klara schauten sich das befremdliche Schauspiel eine Weile an und gingen schließlich zu einem Mann, der sich einen kleinen verbeulten Blecheimer auf den Kopf gestzt hatte.
„Entschuldige bitte, aber was treibt ihr hier eigentlich?“, erkundigte sich Giesbert auffallend beiläufig.
„Wir haben die Nase voll und lehnen uns auf!“, antwortete der Mann und machte ein furchtbar wichtiges Gesicht.
„Und wogegen lehnt ihr euch auf?“ Klara blickte sich unbehaglich um.
„Natürlich gegen die Herrschenden! Die wollen uns nämlich unterdrücken indem sie unsere Gedanken kontrollieren.“
„Also, mein Onkel ist doch eigentlich...“, versuchte Giesbert eine Frage zu stellen, aber Klara brachte ihn mit einem warnenden Blick zum schweigen und fragte stattdessen:
„Ihr lehnt euch also gegen den Grafen auf?“
„Ach was, du hast ja überhaupt keine Ahnung. Der Graf beherrscht uns doch in Wirklichkeit gar nicht, sondern ist nur eine Marionette der wirklich Mächtigen.“
„Wer soll das denn sein?“, wunderte sich Giesbert.
„Du bist wohl nicht gerade der hellste, was? Schon klar, große Klappe, aber völlig uninformiert! Die wirklich Mächtigen sind die wahren Herrscher dieser Welt. Sie kontrollieren einfach alles! Die wirklich Mächtigen sind natürlich so dermaßen mächtig, dass man sie nicht erkennen kann und niemand von ihnen weiß.“ Belehrte ihn der Kerl mit dem ulkigen Eimer auf dem Kopf.
„Aber trotzdem weißt du, das es diese... wirklich Mächtigen gibt?“ Die herablassende Art des Mannes verärgerte Giesbert.
„Natürlich, da muss man doch einfach mal seine Augen aufmachen, dann erkennt man die ganzen Zusammenhänge.“
„Obwohl diese wirklich Mächtigen so... mächtig sind?“ Klara lächelte gezwungen.
„Das ist ja gerade der Trick bei der Sache! Sie wiegen uns einfache Leute in Sicherheit und sind so streng geheim, dass sich kaum jemand Gedanken über sie macht.“
„Dafür, dass sich kaum jemand Gedanken über sie macht und sie so schrecklich geheim sind, stehen hier aber eine ganze Menge Leute“, bemerkte Giesbert und wies auf die anderen Gestalten.
„Selbstverständlich, dass ist doch klar. Immer mehr Leute erkennen die Wahrheit und begreifen endlich, dass sie kontrolliert und unterdrückt werden von diesen streng geheimen und unglaublich mächtigen Mistkerlen!“
Klara spürte ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut. Irgendetwas gefährliches lag hier in der Luft, wenn sie sich nicht täuschte. Um sich zu vergewissern wandte sie sich kurz ab, als müsste sie niesen und flüsterte eine kurze Zauberformel. Der Spruch des kalten Morgens konnte eine Hexe auf bösartige Magie hinweisen indem er ihren Atem gefrieren ließ, wie an einem frostigen Wintertag. Klara sog die warme Frühlingsluft ein und war nicht überrascht, als sie ein weißes Wölkchen ausatmete.
„Sag mal, warum tragt ihr eigentlich diese... originellen Kopfbedeckungen?“ Giesbert hatte genug von diesen wirklich Mächtigen gehört und versuchte nun das Thema zu wechseln.
„Das sind Eisenhüte, die sind furchtbar wichtig. Du solltest auch einen tragen, wenn dir deine Freiheit lieb ist. Das Metall isoliert deinen Kopf und schützt vor der der Beeinflussung durch die magischen Stahlen mit denen sie uns kontrollieren wollen.“
„Aber... warum sollte euch denn jemand mit... magischen Strahlen kontrollieren wollen?“, stöhnte Giesbert auf.
„Dich haben die wirklich Mächtigen ja scheinbar noch voll im Griff, du solltest dir wirklich schleunigst einen Eisenhut zulegen. Denk doch mal nach. Natürlich wollen sie uns kontrollieren, um uns davon abzuhalten uns aufzulehnen.“
„Interessant, aber genau das tut ihr doch gerade, oder nicht? Ihr lehnt euch auf... gegen was auch immer.“
„Siehst du, das ist der unumstößliche Beweis dafür, das die Eisenhüte tatsächlich funktionieren und alles was ich sage wahr ist!“
„Das ist doch unlogisch. Auf die Idee euch solche Hüte aufzusetzen musstet ihr schließlich erst einmal kommen. Wenn ihr doch von solchen Strahlen kontrolliert worden seid, liegt es doch wohl nahe, dass...“
„Na, bitte, jetzt begreifst du es so langsam, was? Natürlich ist das unlogisch. Das geht ja gar nicht anders.“
„Ich frage wirklich ungern, aber... warum?“
„Weil die Logik nur eine Erfindung der wirklich Mächtigen ist, natürlich. Sie wollen uns das einreden um...“
„Uns zu kontrollieren, vielleicht?“, unterbrach Giesbert den Kerl genervt.
„Ganz genau, ist doch wohl ganz logisch, oder?“, nickte er überzeugt.
Elli hatte das Gespräch mit zunehmendem Unglauben verfolgt und verschwand nun aus ihrem Spiegel. Kaum war sie in die wirren Wege der Welt abgetaucht, fielen ihr unheimliche Veränderungen auf. Eine Art dunkler Nebel lag über den Köpfen der Menschen. Bei manchen war er nur schemenhaft zu erkennen, bei anderen wiederum, hatte er sich bereits zu einer schwarzen Masse verdichtet. Dieser Nebel schien feine Fäden und sogar dicke Stränge zu bilden, die alle Teilnehmer der Versammlung miteinander verbanden.
Die Spiegelfee näherte sich neugierig einigen dieser Gespinste und besah sie sich genauer. Diese Dinger waren offenbar so etwas wie Leitungen, sie schienen etwas zu transportieren. Die Fee zückte ihr kleines Schwert und versuchte einige der Stränge zu durchtrennen. Es war, als wolle man Wasser zerschneiden und die Klinge glitt völlig wirkungslos hindurch. Vorsichtig berührte Elli einen der Auswüchse mit ihrer Hand und zog sie erschrocken wieder zurück, als hätte sie eine heiße Ofenklappe angefasst. Der Schild-Anhänger ihrer Halskette leuchtete hell auf. Bei diesen nebligen Verbindungen handelte es sich wirklich um Leitungen. Sie transportierten Gefühle. Sehr schlimme Gefühle. Die Menschen hier waren tatsächlich miteinander verbunden. Ihre Gedanken waren...vernetzt.
Elli verließ die wirren Wege mit einem unguten Gefühl und aus dem Hemd des Ritters erklang das vertraute Bimmeln, als die Fee in die echte Welt zurückkehrte.
„Giesbert, hier stimmt etwas ganz und gar nicht, wir sollten uns erst mal...“, meldete sie sich zurück, wurde aber von einer jungen Frau mit Eisenhut unterbrochen.
„Das ist doch einer von diesen Feenspiegeln, oder? Kein Wunder, dass die wirklich Mächtigen so große Macht über dich haben.“
„Was hast du denn für ein Problem mit mir?“, fragte Elli gereizt.
„Ja, das wüsste ich allerdings auch gern“, stand Klara ihr zur Seite, auch wenn sie sich schon denken konnte, was jetzt kam.
„Mit so einem Spiegel haben die wirklich Mächtigen natürlich einen noch viel größeren Einfluss auf dich. Sie manipulieren mit solchen Feen deine Gedanken und können dir problemlos ihre Lügen in den Kopf pflanzen.“
„Hey, was ist denn das für ein Schwachsinn, jetzt mach aber mal halblang!“, schimpfte Elli zornig.
„Siehst du, das ist doch wohl der beste Beweis! Lügenspiegel! Lügenspiegel!“
Viele der umstehenden Eisenhut-Träger drehten sich nun interessiert zu ihnen um und musterten die Hexe und den Ritter argwöhnisch. In einigen der Blicke lag eine so dermaßen unverhohlene Feindseligkeit, dass Klara und Giesbert erschraken.
„Elli hat recht und wir gehen jetzt besser schnell zurück in die Burg.“ Klara drehte sich um und zog Giesbert sanft in Richtung des Tores.
3.
In Giesberts Schlafkammer trafen sie sich mit den Wichten zur Lagebesprechung. Auf dem Weg durch die Burg waren ihnen viele Wachen entgegengekommen, die den immer weiter wachsenden Menschenauflauf vor dem Tor auflösen sollten.
„Moment mal, ihr glaubt jemand kontrolliert und beeinflusst die Leute indem er sie denken lässt, sie würden... kontrolliert und beeinflusst?“ Der gnadenlose Gunther schaute ungläubig in die Runde.
„Nach dem, was wir vor der Burg erlebt haben und Elli auf den wirren Wegen der Welt gesehen hat, scheint es so zu sein, ja.“
„Aber das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.“ Der Wicht hob ratlos die Schultern.
„Du hättest das mal hören sollen, Gunther. Mit Sinn hat das alles absolut nichts zu tun, glaub mir.“
„Ich weiß nicht so recht...“, sagte Klara nachdenklich.
„Was weißt du nicht, Hexe?“
„Für einen Dämon ergibt das vielleicht durchaus Sinn.“
„Denkst du er ist dafür verantwortlich? Ist es der Dämon, der das mit den Leuten macht? Glaubst du, dies ist seine Art... zu kämpfen?“ Gunther blickte Klara finster an.
„Wir wissen noch nicht genug darüber, was da draußen vor sich geht, aber Elli sieht sich gerade auf den wirren Wegen um und kundschaftet die Lage aus.“
„Ich finde, das klingt alles sehr beunruhigend“, meinte Gunther und die anderen Wichte nickten.
„Wer weiß, vielleicht war das da vor dem Tor lediglich ein Einzelfall und in Wahrheit ist alles nur halb so schlimm.“, versuchte Giesbert die anderen aufzumuntern, als Ellis hübsches Gesicht im Feenspiegel erschien. Aufgeregt rief sie:
„Das da vor dem Tor war erst der Anfang, in Wahrheit ist es noch viel schlimmer, Leute!“ Soviel also dazu.
„Was hast du gesehen, Elli?“, fragte Klara gespannt.
„Dieser Irrsinn greift um sich und überall in der Stadt scheinen die Leute durchzudrehen und reden komisches Zeug. Die Quelle war nicht zu finden, aber ich glaube, es kommt durch die Kanalisation. Das seltsame Nebelgeflecht breitet sich immer weiter aus. Vor dem Turnierplatz ist es gerade am dichtesten.“
„Wir müssen dort hin und uns das ansehen, vielleicht finden wir heraus, woher es kommt und was man dagegen tun kann“, beschloss Giesbert nach kurzem Zögern und Klara nickte. Der gnadenlose Gunther überlegte noch einen Moment, bevor er aufstand und das Wort an die übrigen Wichte richtete.
„Wir sollten uns lieber nicht auf der Straße blicken lassen und nehmen direkt den Weg durch die Kanalisation, was Männer?“ Die kleinen Krieger wechselten wenig begeisterte Blicke. Ihr gewohnt entschlossenes Johlen blieb aus, aber Gunther wusste ganz genau, wie er seine Leute motivieren konnte.
„Männer, ich bin entsetzt! Unser Vorfahre, der harte Horst, hat in einem ehrlichen Kampf, Wicht gegen Bestie, einen waschechten Drachen besiegt! Da werdet ihr doch wohl jetzt nicht kneifen, nur weil es mal gilt durch ein bisschen Schmutzwasser zu stiefeln!“ Die Kämpfer erröteten beschämt, strafften sich dann aber und antworteten ihrem Anführer mit einem furchterregendem Gebrüll.
Vor der Arena drängten sich so viele Leute, man hätte glauben können, das Finale der ersten Ritterliga stünde in dieser Nacht bevor. Die Menge scharrte sich um ein schnell zurechtgezimmertes Rednerpult, von dem aus ein Mann mit einem schlecht sitzenden Anzug und strähnigen Haaren, eine flammende Ansprache hielt. Er brüllte dermaßen laut, dass Giesbert und Klara auch etwas abseits der Menge noch alles bestens verstehen konnten.
„… so ist es doch, liebe Mitbürger, oder etwa nicht? Ihr, die ehrlichen und fleißigen Arbeiter, wisst oft nicht, wie ihr eure Familien ernähren sollt, während die verdammten Nybier hier auf eure Kosten ein schönes Leben genießen!“ Schrie der ungepflegte Kerl fanatisch und wedelte dabei hektisch mit den Armen. Viele seiner Zuschauer pflichteten ihm begeistert bei und klatschten Beifall. Giesbert erkannte den Redner und war irritiert.
„Das ist der verrückte Edmund, ein ehemaliger Lehrer. Er hat schon vor Jahren angefangen zu trinken und steht hier oft herum. Er schwingt häufig dumme Reden, um gegen die Nybier zu hetzen, die hier seit einiger Zeit leben. Gewöhnlich beachtet ihn kaum jemand, die Leute lachen ihn meistens nur aus.“ Diesmal lachte niemand, ganz im Gegenteil sogar. Mit ernsten Gesichtern hingen die Zuschauer an seinen Lippen, nickten und applaudierten. Viele von ihnen trugen die Giesbert und Klara bereits bekannten Eisenhüte.
„Habt ihr euch denn noch nie gefragt, warum die Nybier so dunkle Haut haben? Mal ganz davon abgesehen, dass so etwas absolut widernatürlich ist, können sie damit natürlich bei ihren Verbrechen in der Dunkelheit nicht gesehen werden!“
„Genau... Habe ich ja schon immer gewusst... Endlich sagt es mal einer“, kamen die Antworten aus der Menge.
„Zum Beispiel, wenn sie unschuldige Frauen überfallen, ihnen Gewalt antun und sie schließlich davon überzeugen sie zu heiraten, so dass für euch keine Frauen mehr übrig bleiben!“
„Kein Wunder, dass ich keine abkriege! Verdammte Nybier!“, bellte ein dicker Kerl mit einem großen Bierkrug in der Hand.
„Und das ist ja noch lange nicht alles! Sie sind so furchtbar faul, dass sie sich nicht mal eine eigene Arbeit suchen, sondern gleich eure nehmen. Sie sind sogar so dermaßen faul, dass sie gleich zwei Arbeiten nehmen und für euch nichts mehr zu tun bleibt. Ich sage es klipp und klar, diese Nybier sind einfach so verkommen und bösartig! Da ist es natürlich kein Wunder, dass die wirklich Mächtigen immer mehr von ihnen in unser Land holen, um uns noch besser kontrollieren und unterdrücken zu können! Das ist die reine Wahrheit, meine lieben Freunde!“ Das Publikum des Verrückten jubelte frenetisch und hasserfüllte Rufe schallten über den Platz.
„Diesen Unsinn können die Leute doch nicht wirklich glauben, oder?“
„Scheinbar doch, sieh dich doch mal um, Giesbert. Das hier ist wie eine pechgetränkte Scheune. Nur ein kleiner Funke würde ausreichen um allles in Flammen aufgehen zu lassen.“
„Was sollte das denn für ein Funke sein?“, wollte Giesbert wissen.
Klara konnte die Frage des Ritters nicht mehr rechzeitig beantworten, denn das Leben war schneller.
Der Funke kam. Er war ungefähr fingerlang, sehr spitz und an seinem hinteren Ende mit kleinen Federn ausgestattet. Ein dünnlippiger Mund stieß Luft in ein Blasrohr und schickte diesen metaphorischen Funken auf eine Reise, die mit einem deutlich hörbaren „Tack“ in einem Holzbalken sehr knapp neben dem Kopf des brüllenden Lehrers endete.
Der Redner kauerte sich schnell hinter seinem Pult zusammen und kreischte:
„Da habt ihr den Beweis! Sie wollen mich beseitigen, weil ich die volle Wahrheit herausgefunden habe und den wirklich Mächtigen auf die Schliche gekommen bin!“
„Das kam von dort oben.“ Giesbert sah eine schattenhafte Gestalt flink hinter einem Dachgiebel verschwinden. Klara folgte seinem Blick und die Augen der Hexe glommen blau auf. Kurz leuchtete ein menschlicher Umriss in ihrem Blickfeld auf, aber die Farbe stimmte nicht, Menschen leuchteten anders... Ein schwaches Licht flackerte kurz und der Fremde war verschwunden.
„Elli, kannst du...“, setzte Klara an, aber die Spiegelfee hatte schon verstanden.
„Bin schon unterwegs.“
„Da! Ist das nicht der Neffe des Grafen? Bestimmt spioniert er für die wirklich Mächtigen. Greift ihn euch!“, kam plötzlich eine Stimme aus der Menge und die ersten Anhänger des verrückten Edmunds setzten sich mit einem blutgierig glitzernden Augen in Bewegung. Fackeln wurden entzündet und einige Steine flogen in ihre Richtung.
„Lauf!“, Giesbert packte Klaras Handgelenk und sie rannten los.
Elli jagte gerade einen dunklen Seitenpfad herunter, als in einiger Entfernung plötzlich eine fremde Magie aufblitzte und eine schwarzgekleidete Gestalt die wirren Wege der Welt betrat. Die Fee traute ihren Augen nicht. Es gab einige Geister, die zwischen den wirren Wegen und der realen Welt wechseln konnten, aber das hier war kein Geist. Aber wenn es kein Geist war, konnte es doch nur ein... nein, unmöglich, das waren nur Legenden.
Elli flitzte um die nächste Ecke und sah sich verwirrt um. Frustriert musste sie sich eingestehen, dass der Meuchelmörder entkommen war. In genau diesem Moment legte sich ein sehniger Unterarm um den Hals der Spiegelfee und ein langer Dolch blitzte vor ihrem Gesicht auf. Der Duft von Sandelholz lag plötzlich in der Luft und eine unheilvolle Stimme zischte in ihr Ohr:
„Warum folgst du mir?“
4.
Elli konnte sich nicht so recht entscheiden, was nun schlimmer war. Die Klinge eines Dolches an ihrem Hals zu spüren, oder die Tatsache, dass die Hand, die diesen Dolch hielt, wahrscheinlich einem Wesen gehörte, das es schon seit hunderten von Jahren nicht mehr hätte geben dürfen?
„Warum antwortest du nicht, bist du etwa stumm?“, riss die Stimme sie aus ihren Überlegungen.
„Also, eigentlich bin ich ja die reinste Quasselstrippe, aber so ein Messer am Hals bringt scheinbar meine introvertierte Seite zum Vorschein, weißt du?“, kam die Spiegelfee endlich zu einem Entschluss. Der Unheimliche lockerte seinen Griff und ein kräftiger Stoß ließ Elli nach vorn taumeln. Unsanft landete sie auf dem Boden und blickte erschrocken zu ihrem Angreifer auf, der sich nun die schwarze Kapuze vom Kopf zog.
„Du bist ein Dschinn“, hauchte die Fee, als ihr aus einem scharf geschnittenen Gesicht mit einer langen Nase und gelber Haut, zwei Mandelaugen, wie kleine Sonnen entgegen leuchteten.
„Um das klarzustellen, du bist noch am leben, weil ich gehofft hatte, du könntest mir etwas sagen, das mir nicht schon seit meiner Geburt bekannt ist. Verstehst du, kleine Fee?“
„Aber ihr seid schon vor ewigen Zeiten...“ Vielsagend hob der Dschinn seinen Dolch und Elli verstummte.
„Was geht in dieser Stadt vor sich?“, knurrte er.
„Das versuchen meine Freunde und ich auch herauszufinden. Die Menschen benehmen sich komisch und reden wirres Zeug. Sie glauben, sich gegen Leute auflehnen zu müssen, die sie die wirklich Mächtigen nennen. Wir nehmen an, dass es etwas mit einem Dämon zu tun hat, der kürzlich beschworen wurde und...“
„Das habe ich befürchtet. Dieser seltsame Nebel, der die Menschen verbindet... auch mein Herr ist davon betroffen.“
„Dein Herr?“
„Al Kadier el Nambid, oberster Priester der nybischen Gemeinde in dieser Stadt. Er schickte mich aus, um diesen Edmund zu töten und ich hätte es auch getan, aber als ich sah, dass dieser Nebel über allen Menschen liegt, habe ich es bei einer kleinen Warnung belassen.“
„Du hast ihn absichtlich verfehlt?“
„So etwas passiert mir nicht aus versehen. Wir Dschinn gehorchen unseren Herren und befolgen treu seine Befehle, aber dieses Mal wurde ich misstrauisch. Al Kadier hat noch nie einen Mord von mir verlangt und dieser Nebel auf den wirren Wegen der Welt hat auch seinen Verstand befallen.“
„Ja, es ist ganz schrecklich. Als wären die Leute plötzlich verrückt geworden. Ich glaube allerdings kaum, dass dein Pfeil die Lage verbessert hat. Jetzt werden diese Verrückten erst recht wütend sein...und Giesbert und Klara sind mitten drin!“
„Diese Freunde von dir... ich muss mit ihnen sprechen, bring mich zu ihnen, kleine Fee.“
Diesmal konnte Elli sich nicht entscheiden, was sie mehr erleichterte. Zu sehen, wie der Dschinn den langen Dolch mit einer geschickten Bewegung in seinem Gewand verschwinden ließ, oder dass er ihr freundlich seine Hand entgegenstreckte um ihr aufzuhelfen.
Klara und Giesbert hetzten, die aufgebrachten Meute im Nacken, durch die engen Gassen.
„Hier rein!“ Die Hexe zog ihn durch ein niedriges Tor und sie pressten sich im Schatten einiger Kisten an eine verwitterte Mauer. Augenblicke später bog der mordlustige Mob um eine Ecke und rannte, wilde Verwünschungen ausrufend, an ihrem Versteck vorbei.
Die Hexe und der Ritter atmeten erleichtert auf und lösten sich langsam von der Wand.
„Was tun wir denn jetzt, Giesbert?“
„Ich weiß es auch nicht. Solange wir nicht wissen, wo die Quelle dieses Irrsinns liegt, können wir nur...“, Giesbert stockte, als Klara mit schreckgeweiteten Augen etwas hinter ihm fixierte.
„Da sind sie ja, die verdammten Volksverräter!“ Die Stimme klang nicht mehr ganz nüchtern und gehörte dem dicken Kerl, den Giesbert schon bei der Kundgebung des verrückten Edmunds gesehen hatte. Zwei weitere große Männer flankierten ihn und klatschten sich drohend mit groben Knüppeln in die Handflächen. Klara und Giesbert wichen zurück. Er tastete fahrig nach seinem Schwert und die Hand der Hexe begann sachte zu glimmen.
„Glaubt mir, das ist alles nur ein Missverständnis...“, hob Giebert an, aber es klang selbst in seinen eigenen Ohren lahm.
„Na, wo sind denn deine wirklich Mächtigen jetzt?“ Mit einem gemeinen Grinsen schoben sich der Dicke und seine beiden Spießgesellen näher heran.
„Das kann ich dir zwar auch nicht sagen, Mensch, aber ihr drei Pfeifen habt jetzt trotzdem ein wirklich sehr ernstes Problem“, erklang hinter ihnen eine Antwort. Sie kam aus Bodennähe und ihr folgte ein wildes Gebrüll aus mindestens zwanzig ziemlich kleinen Kehlen.
Elli ging neben dem schweigenden Dschinn her und betrachtete ihn verstohlen von der Seite. Diese geheimnisvollen Wesen konnten sich auf den wirren Wegen bei weitem nicht so schnell bewegen, wie die Spiegelfeen, also konnte sie sich Zeit nehmen. Wenn er einem nicht gerade ein Messer an die Kehle hielt, sah er eigentlich ganz nett aus mit seinem schwarzen Zopf auf dem ansonsten völlig kahlen Schädel.
„Ich dachte wirklich ihr Dschinn seid längst ausgestorben. Da gab es doch einen Krieg, oder?“
„Ja, aber ich möchte wirklich nicht darüber reden, jeder macht mal einen Fehler. Es gibt nur noch sehr wenige von uns und die meisten davon dienen einigen nybischen Priestern. So wie ich, kleine Fee.“
„Ich heiße übrigens Elli. Kannst du mir freundlicherweise deinen Namen verraten, oder musst du mich dann umbringen, oder so etwas?“
Der Dschinn lachte und schüttelte den Kopf. Die großen Ringe in seinen spitzen Ohren klirrten leise.
„Mein Name ist Farid und es ist mir eine große Ehre deine Bekanntschaft zu machen, Elli. Zufrieden?“ Er verschränkte seine Arme vor der Brust und verbeugte sich tief.
„Ja, schon besser. Sag mal, Farid, stimmt es eigentlich wirklich, dass ihr Dschinn Wünsche erfüllen könnt?“, fragte sie hoffnungsvoll, aber er verdrehte nur seine leuchtenden Augen und lachte wieder.
„Das ist immer das erste, was die Leute interessiert, aber leider muss ich dich enttäuschen. Dieser Irrglaube geht auf meine Großcousine Amaz aus der Sippe der on Preim zurück. Durch ihren ausgeprägten Geschäftssinn hatte sie glänzende Kontakte zum großen Markt von E`Bay, einem wichtigen Handelshafen. Sie konnte zwar fast alles besorgen, aber glaube mir, Elli, keine dieser Gefälligkeiten war umsonst.“
„Schade, wäre auch zu schön gewesen.“
Während die drei Kerle noch überrascht nach dem Besitzer der Stimme suchten, machten sich die Wichte daran, den Größenunterschied zwischen sich und ihren Gegnern auszugleichen. Der kraftvolle Karl ließ seinen Hammer auf eine Zehe niedersausen, der niederschmetternde Norbert rammte seinen Speer in eine Kniescheibe und dem Schwert des destruktiven Detlefs fiel eine gegnerische Wade zum Opfer. Wenige Attacken später befanden sich die Kontrahenten buchstäblich auf Augenhöhe und nachdem kleine Fäuste große Nasen gebrochen hatten, war es auch schon vorbei. Die drei Kerle lagen bewusstlos am Boden und die Wichte nickten zufrieden, als es aus Giesberts Tasche bimmelte. Er zog den Feenspiegel hervor und Elli erschien. Irritiert blickte sie auf die zusammengekrümmt daliegenden Männer.
„Was war denn hier los, Giesbert?“
„Das erzähle ich dir später, hast du den Attentäter erwischt?“
„Also... das nun nicht direkt, aber ich habe ihn mitgebracht.“
Neben Giesbert flackerten kleine Blitze in der Luft und Farid trat auf die Gasse.
5.
Als Dschinn hatte Farid wirklich keine sonderlich übertriebenen Ansprüche, was ein wohl geordnetes Leben anging. Er schlief in einer Wunderlampe, bestahl vierzig Räuber in ihrer eigenen Höhle, oder drehte hier und da mal ein kleines Ründchen auf einem fliegenden Teppich. Trotzdem stutzte er kurz, als neben ihm ein Mann erschrocken zur Seite hüpfte, während drei weitere reglos am Boden lagen, eine Hexe ihn sprachlos anstarrte und sich gleichzeitig eine aggressive Horde kampflustig brüllender Wichte vor ihm aufbaute. Elli erklärte aus ihrem Spiegel heraus wortgewaltig die Situation und langsam beruhigten sich alle Beteiligten, auch wenn die Wichte den Dschinn weiterhin argwöhnisch im Auge behielten und immer wieder vielsagend ihre Waffen tätschelten.
„Bei den Nybiern ist also auch dieser Wahnsinn ausgebrochen?“, fragte Giesbert den Dschinn.
„Anders kann ich mir die Predigt meines Herren, die er heute beim Morgengebet hielt, nicht erklären. Diese seltsame Magie hat sein Denken völlig verändert. Er sprach von den wirklich Mächtigen, die alles beherrschen wollen und deshalb die Menschen dazu bringen, an die falschen Götter zu glauben und die Nybier vertreiben zu wollen.“
„Und dieser Nebel, von dem Elli berichtete, war auch beim ihm zu sehen?“
„Ja, wie bei allen anderen Menschen seiner Gemeinde auch. Nur bei euch konnte ich keinen Nebel sehen, warum seit ihr nicht auch verrückt geworden?“ Der Dschinn kniff misstrauisch die Augen zusammen und Klara nickte.
„Ich habe auch schon darüber nachgedacht, warum es uns scheinbar nicht erwischt hat. Ich glaube, es ist so, weil wir dabei waren, als der Dämon in unsere Welt kam. Es war zwar nichts zu sehen, aber wir alle haben seine furchtbare Macht gefühlt. Dieser schreckliche Hass und seine Lügen haben uns alle... berührt. Vielleicht haben wir dort in der Höhle die Wahrheit gespürt und sind deshalb immun gegen seinen Einfluss.“
„Wahrscheinlich hast du recht, Hexe, aber wir wissen noch immer nicht, was man gegen diesen Dämon unternehmen kann. Wir wissen ja nicht mal, wo sich dieser Feind versteckt, wie sollen wir ihn dann bekämpfen?“ Der gnadenlose Gunther ging nervös auf und ab und der Dschinn hob nachdenklich seine Hand.
„Mein Herr erzählte mir vor einigen Tagen von einem schlimmen Traum, der ihn in der Nacht, als sich die Tiere so aufgeregt benahmen, geplagt hat.“
„Davon hat mein Onkel mir erzählt und ich glaube, das war als Baalstett den Dämon auf die Welt losgelassen hat.“
„Al Kadier träumte von einem schwarzen Schiff mit dem der Tod in unsere Stadt gekommen ist. Mein Herr war deswegen sehr beunruhigt, aber kurz danach begann er sich zu verändern und seine Predigten wurden von Tag zu Tag... seltsamer.“
„Ein verrückter Traum von einem Schiff hilft uns wohl kaum weiter“, grollte Gunther.
„Es ist kein bloßer Traum gewesen, glaube mir, Wicht. Mein Herr ist ein sehr mächtiger und weiser Mann. Davon abgesehen... dieses Schiff gibt es wirklich.“
„Moment mal, willst du damit sagen der Dämon versteckt sich auf einem Schiff im Hafen?“ Giesbert sah den Dschinn nachdenklich an.
„Ich habe nachgesehen. Dort liegt wirklich ein schwarzer Viermaster vor Anker und er pulsiert vor Magie.“
„Worauf warten wir dann noch? Lasst uns diesem Dämon einen Besuch abstatten und ihm seinen verdammten Schädel einschlagen!“ Gunther hob entschlossen seine Axt und seine Leute brüllten ihre Zustimmung heraus, aber Farid schüttelte abwehrend den Kopf.
„Dein Mut ehrt dich, Wicht, aber so einfach ist das leider nicht. Die Magie dort ist sehr stark und ihr kämt nicht mal in die Nähe dieses Schiffes, ohne letztlich doch vom Fluch des Dämons getroffen zu werden.“ Wie ein schlechtes Omen drangen neue Schreie durch die Dunkelheit. Man hörte, wie Fenster eingeworfen wurden und wütende Parolen erklangen aus hasserfüllten Mündern.
„Wir müssen hier weg, es ist zu gefährlich und wir ziehen uns am besten in die Burg meines Onkels zurück.“
Der Weg zur Burg gestaltete sich alles andere, als einfach. Der Wahnsinn beherrschte inzwischen scheinbar die gesamte Stadt. Überall beschimpften sich Gruppen von Leuten, die ihren jeweiligen Gegnern vorwarfen mit den wirklich Mächtigen unter einer Decke zu stecken. Es waren bereits handfeste Kämpfe ausgebrochen und vereinzelt brannten die ersten Häuser. Als die ungleichen Gefährten endlich die schützenden Burgtore erreichte, machten sich Graf Hilmar und seine Wachen gerade zum Aufbruch bereit.
„Onkel, was hast du vor?“, fragte Giesbert gespannt.
„Na was wohl, Giesbert? Glaubst du etwa, ich sehe tatenlos dabei zu, wenn meine Stadt im Chaos versinkt?“
„Wir wissen, was dort draußen vorgeht und...“
„Ich weiß das auch, schließlich bin ich informiert! Die wirklich Mächtigen wollen mich entmachten, um hier alles beherrschen und kontrollieren zu können!“
„Nein, Onkel Hilmar, es ist in Wahrheit ganz anders, als du...“
„Aha! Du gehörst wohl auch zu dieser großen Verschwörung, was? Wachen!“
„Nein, entschuldigen sie bitte, Herr Graf, Giesbert meinte nur, dass diese Verschwörung der wirklich Mächtigen noch viel gefährlicher ist, als sie vielleicht denken und sich diese... streng geheimen Bastarde schon überall in der Stadt herumtreiben“, griff Klara geistesgegenwärtig ein.
„Ach so, ja dann... danke für die Warnung und passt gut auf euch auf, Kinder.“ Besorgt sah Giesbert seinem Onkel nach, der sich einfach herumdrehte und ihr kurzes Gespräch schon vergessen zu haben schien.
„Er also jetzt auch. Was sollen wir nur tun?“, Elli ließ betrübt ihren Kopf hängen.
„Ich verliere auch langsam die Hoffnung, alle Menschen um uns herum werden verrückt. Die Leute bekämpfen sich gegenseitig, wegen einem Feind, der gar nicht da ist und sie kontrolliert, weil sie fürchten kontrolliert zu werden.“
„Ja, das ist alles so dumm und verworren, dass sie sogar für diesen Feind kämpfen, den es ja eigentlich gar nicht gibt, ohne es überhaupt zu bemerken.“ Der Anführer der Wichte fuhr sich frustriert durch den Bart.
„Er benutzt ihre Ängste und ihren Wunsch nach Freiheit, um sie zu verängstigen und ihnen die Freiheit zu nehmen. Dieser Dämon schlägt die Menschen mit ihren eigenen Waffen.“ Klara blickte ihre Kampfgefährten hilflos an. Giesbert starrte, völlig in Gedanken versunken, ins Leere.
„Woran denkst du, Mensch?“ Der gnadenlose Gunther sah verwundert zu ihm auf.
„Mit den eigenen Waffen...“, flüsterte der Ritter.
„Was hast du?“, fragte Klara ihn besorgt, als die Mine des Ritters sich plötzlich aufhellte und er mit einem grimmigen Lächeln antwortete:
„Ich weiß jetzt, wie wir diesen Dämon bekämpfen können, hört zu.“
6.
Gunther marschierte vor den strammstehenden Wichten auf und ab. Er hatte sie schon in viele Schlachten geführt, aber zum ersten Mal war er wirklich nervös.
„Männer, mir ist bewusst, dass ich das Unmögliche von euch verlange. Der vor uns liegende Kampf wird uns Taten abverlangen, die nur von den tapfersten und mutigsten Kriegern vollbracht werden können. Denkt immer daran, was der harte Horst, ohne einen Moment des Zweifelns, oder Zauderns auf sich genommen hat, als er sich dem fürchterlichen Drachen stellte. Viele werden das heute Erlebte niemals vergessen können und in ihren Träumen noch lange davon heimgesucht werden, was sie hier tun mussten. Ich schwöre euch, Männer, ich werde so etwas undenkbares nie wieder von euch verlangen, aber dieses eine Mal werden wir einem Feind entgegen marschieren um dann vor ihm... wegzulaufen!“
Klara presste sich gegen eine Hausecke und versuchte ihren Atem zu beruhigen. Da sich nur wenige Schritte von ihr entfernt eine nach Blut gierende Meute von Verrückten versammelte, gestaltete sich dieses Vorhaben gar nicht so einfach. Vorsichtig lugte sie aus ihrer Deckung und erschrak. Als Hexe hatte sie es schon oft genug mit aufgebrachten Menschenmengen zu tun gehabt, die sie auf dem Scheiterhaufen sehen wollten, aber das hier war selbst nach Hexenstandards die absolute Königsklasse. Sie sah zum Mond hinauf und atmete tief sein Licht ein. Sanft blies sie es in ihre Hände und schickte eine gleißende Kugel hinauf in den Himmel. Entschlossen trat sie aus den Schatten, griff nach den Gedanken der aufgebrachten Leute und gab ihnen eine Gestalt.
Giesbert lief durch dunkle Gassen den wütenden Sprechchören und dem zuckenden Schein, der zahllosen Fackeln entgegen. Er versuchte nicht daran zu denken, was gleich passieren würde. Mit einem zitternden Finger zeichnete der Ritter Ellis Zeichen auf den Spiegel und die Fee erschien.
„Glaubst du, dass klappt wirklich so, wie wir uns das vorstellen?“, fragte sie beklommen.
„Wollen wir es hoffen. Da, Klaras Zeichen!“ Giesbert zeigte auf die leuchtende Kugel, die immer höher über den Dächern schwebte.
„Seht mal, Leute, am Hafen verschenken sie diese tollen Spiegel und seitdem weiß ich ganz sicher, dass es gar keine wirklich Mächtigen gibt! Die kleine Fee hier drinnen hat mir das alles erklärt!“, rief er und Elli streckte den Leuten provozierend die Zunge heraus.
„Lügenspiegel! Lügenspiegel!“, kreischten die ersten wütend und schnell fielen andere mit ein. Es blieb nicht lange bei bloßem Geschrei und hasserfüllten Blicken, sondern rasch kam Bewegung in den Mob und erste Steine flogen.
„Giesbert? Zeit zu laufen!“, rief die Spiegelfee und das musste man dem Ritter wahrlich nicht zweimal sagen.
Die Gefühle eines Dschinn waren nur selten widersprüchlich, aber als Farid aus den wirren Wegen auf den Vorplatz des nybischen Tempels trat, verwirrten ihn der Stolz und die Beschämung, die gleichzeitig in ihm aufflammten. Zornige Männer und Frauen drängten sich wild schreiend vor den Mauern. Viele von ihnen schwangen wild entschlossen ihre Krummsäbel und Dolche, während sein Herr in einer fanatischen Rede ihren Hass weiter befeuerte. Dennoch, so sehr es sein Herz auch erfreute diese beeindruckende und zu allem entschlossene Streitmacht zu sehen, wusste Farid ebenso, dass die Menschen hier für trügerische Lügen und falsche Versprechungen kämpfen und auch sterben würden. Diesen Fehler hatte sein Volk schon vor langer Zeit gemacht und es hatte nicht gut geendet. Eine helle Kugel stieg in der Ferne zum Himmel auf und er richtete das Wort an seinen Herren.
„Großer Meister, erhört mich! Die wirklich Mächtigen verstecken sich auf einem Schiff im Hafen!“
„Ich wusste es schon immer! Die wirklich Mächtigen bespitzeln uns mit solchen kleinen Wichten, damit sie uns überall beobachten und kontrollieren können!“, rief ein junger Schmied wütend.
„Ja, das war doch wohl klar, oder nicht? Unser Abort wird schon seit Jahren von diesen winzigen Bastarden überwacht“, antwortete ein beleibter Schuster, ganz außer Atem.
So schnell ihre kurzen Beine es ihnen erlaubten, rannten die kleinen Krieger vor der riesigen Horde der Eisenhutträger davon und lenkten sie so zum Hafen.
Der randalierende Rudolph sah Gunther grinsend an und meinte:
„Und wir mussten nicht mal etwas sagen, diese Menschen sind sofort auf uns losgegangen, als sie uns nur gesehen haben, toll was?“
„Allerdings, die sind ganz schön aggressiv, finde ich!“, pflichtete ihm der aufschlitzende Augustin bei.
„Ja, fast schon sympathisch, was?“, fand der rabiate Ralf.
„Stimmt, sonst würde diese peinliche Sache hier auch überhaupt keinen Spaß mehr machen. Lasst diese Verrückten schön nahe herankommen, Männer! Wenn wir schon so schändlich vor ihnen weglaufen müssen, machen wir das wenigstens so tapfer, wie irgend möglich!“
Klara lief so schnell sie nur konnte. Drei schattenhafte Gestalten in Kutten liefen neben ihr und die mörderischen Wahnsinnigen verfolgten sie geifernd, wie ein Rudel tollwütiger Hunde. Mehr als diese plumpen Illusionen war einfach nicht nötig gewesen, um den aufgebrachten Menschen ein sichtbares Ziel zu geben, auf das sie ihre rasende Wut richten konnten. Es brauchte nicht mehr, als etwas völlig unbekanntes und schlichtweg nicht vorhandenes, das irgendwie in ihre verblendete Weltsicht passte.
Auf der großen Straße zum Hafen kamen sie alle zusammen. Aus vier Richtungen jagten die besessenen Bürger, wie eine Flutwelle aus Feindseligkeit und blindem Hass, hinter den Freunden her.
„Elli und Farid, macht euch bereit, wir werden sehr nah an das Schiff ran müssen und brauchen vielleicht Deckung“, rief Giesbert. Die Fee verschwand aus ihrem Spiegel und vor Farid begannen kleine Blitze in der Luft zu zucken.
Das schwarze Schiff brodelte förmlich vor Magie und wie schwerer Rauch quoll der trügerische Irrsinn des Dämons hervor. Einige seiner dichten Wolken trieben zielstrebig auf ihre Kampfgefährten zu, aber Farid und Elli wehrten sie entschlossen ab. Was dann kam, erinnerte den Dschinn an die verheerenden Sandstürme seiner geliebten Heimat, während Elli an einen wütenden Hornissenschwarm denken musste. Die schiere Masse der besessenen Menschen, egal ob Eisenhutträger, erzürnter Nybier, oder besorgter Bürger, rannte jede Gegenwehr über den Haufen und erstickte die Macht des Dämons im Keim. Giesbert, Klara und die Wichte waren im letzten Moment ins Hafenbecken gesprungen, bevor sich diese rasende Armee, wie eine unaufhaltsame Springflut der Rache, über das Deck des schwarzen Schiffes ergoss. Der Zorn der Verrückten kannte keine Grenzen mehr und entlud sich mit all seiner furchtbaren Kraft. Auf ihrer Suche nach den wirklich Mächtigen schlugen sie alles kurz und klein. Die Kampfgefährten kletterten gerade prustend und tropfnass, in sicherer Entfernung auf einen Landungssteg, als der erste Mast brach, wie ein morscher Ast und sich der ganze Kahn bedrohlich zur Seite neigte.
Elli sah auf den wirren Wegen der Welt, wie die gesamte Macht des Dämons unter dem Ansturm zusammenbrach. Er kreischte wütend auf und kämpfte verzweifelt dagegen an, aber sein Einfluss auf die aufgebrachten Menschen schwand immer mehr. Während sich der magische Nebel zusehend lichtete, blieb der verdammten Kreatur nur noch die Flucht. Die Spiegelfee sah ein kleines, giftgrün leuchtendes Etwas aus einem der hinteren Bullaugen purzeln.
„Da ist der Mistkerl!“, rief sie aus ihrem Spiegel.
Als der Dämon sich ächzend und stöhnend aus dem Wasser hievte, fiel plötzlich ein drohender Schatten über ihn. Giesbert bückte sich und hob das hässliche Männlein mit zwei Fingern am Kragen hoch. Es fauchte und zischte ihn wild an, aber das Höllenwesen wirkte überhaupt nicht mehr furchteinflößend, sondern nur noch widerwärtig und armselig.
„Das ist er also, der große und mächtige Feind?“ Gunther verzog angewidert das Gesicht.
„So klein und erbärmlich könnte er einem fast schon wieder leid tun, was Gunther?“, fragte der Ritter mit einem bitteren Lächeln.
„Ja, das könnte er ganz bestimmt, Giesbert.“ Der Wicht fasste seine Axt fester und spuckte verächtlich aus.
„Tut er aber nicht, oder?“ Der Ritter ließ den Dämon los und er fiel zappelnd vor den Anführer der Wichte.
„Nein, tut er nicht.“ Die scharfe Klinge der Axt schnitt pfeifend durch die Luft. Noch bevor sein abgetrennter Kopf den Boden berührte, verpuffte der Dämon in einer Staubwolke und war aus der Welt verschwunden.
Epilog
Graf Hilmar war gut gelaunt. Aber so richtig. Beschwingt und würdevoll stieg er die Treppe zur Burgkapelle hinauf. Jedenfalls, so beschwingt und würdevoll, wie eben möglich, denn vorher hatte er sich noch ein kleines Schnäpschen mit dem nybischen Gemeindevorsteher gegönnt. Ein wirklich netter Kerl, dieser Al Kadier, das musste man schon sagen. Das war ganz schön verrückt, als sie alle verdutzt und ohne die geringste Ahnung, wie sie überhaupt dort hingekommen waren, am Hafen gestanden hatten. Unglaublich, da stand man plötzlich völlig derangiert und abgekämpft zwischen wildfremden Leuten, die ebenfalls keinerlei Erinnerung daran hatten, was hier eigentlich passiert war. Also wirklich, so etwas war Hilmar schon seit seiner Studentenzeit nicht mehr passiert.
Er öffnete die quietschende Tür und betrat die Kapelle. Na, sieh mal einer an, es waren wirklich alle gekommen. Gemächlich schritt der Graf durch den Raum und nickte den Anwesenden freundlich zu. Mein lieber Mann, so langsam machte seine schöne Burg dem Kuriositätenkabinett auf dem Rummelplatz wirklich ernste Konkurrenz. Obwohl, irgendwie hatte das auch etwas sehr modernes. Niemand sollte ihm nachsagen können, er regiere eine rückständige Grafschaft und ginge nicht mit der Zeit.
Gut, mit einer echten Hexe unter einem Dach zu wohnen, war zuerst tatsächlich etwas gewöhnungsbedürftig, aber als Hilmar kürzlich von einer grauenhaften Verstopfung gequält wurde, hatte ihr Trank wirklich wahre Wunder bewirkt und da gab es rein gar nichts zu meckern... auch wenn die Putzfrau das vielleicht etwas kritischer betrachtete.
Dieser Spiegel, den die Hexe in ihrer Hand hielt und in dem wohl eine Fee lebte, war auch nicht zu verachten. Der Graf spielte mit dem Gedanken, sich auch so ein neumodisches Gerät zuzulegen, da er gehört hatte, man könne sogar Fernschach damit spielen und schlüpfrige Bildchen mit seinen Freunden austauschen.
Warum drei ausgewachsene Wölfe es sich auf dem Marmorboden gemütlich gemacht hatten, konnte Hilmar zwar beim besten Willen nicht sagen, aber in Anbetracht der zwanzig Wichte, die daneben saßen, waren diese wilden Tiere sicherlich bei weitem nicht die gefährlichsten Gäste der heutigen Zeremonie. Obwohl, die kleinen Kerle mit dem latenten Aggressionsproblem und einem deutlichen Testosteronüberschuss wussten wirklich vortrefflich zu feiern, das musste man ihnen schon lassen.
Selbst der mysteriöse Dschinn hatte sich heute freigenommen und war erschienen. So einen wilden Wüstengeist seinen Verbündeten zu nennen, war schon etwas ganz besonderes, da konnten andere Regenten nicht mithalten, soviel stand mal fest. Bei ihrem nächsten Staatsbesuch würden seine Regierungskollegen aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen, das würde ein Spaß!
Vor dem kleinen Altar angekommen drehte er sich lächelnd herum und ließ den Blick noch einmal über die fröhlichen Gesichter schweifen, bevor er Giesbert auffordernd ansah. Sein Neffe drückte noch einmal die Hand der Hexe und trat vor. Hilmar räusperte sich feierlich und zog umständlich sein Schwert, während Giesbert bedächtig vor seinem Onkel niederkniete.
„Mein lieber Schwan, wer hätte das gedacht, was mein Junge? Ich weiß nicht, was in der letzten Zeit alles in meiner schönen Grafschaft vor sich gegangen ist und höchstwahrscheinlich will ich es auch gar nicht so genau wissen, aber ich habe den Eindruck, dass du deine Sache sehr gut gemacht hast, Giesbert. Kraft meines Amtes schlage ich dich hiermit hochoffiziell und mit allem drum und dran, zum gräflichen Ritter. Von nun an sollst du unter dem stolzen Namen...“ Der Graf hielt an dieser Stelle verunsichert inne, aber sein Neffe nickte ihm ermutigend zu und so fuhr er fort:
„... unter dem stolzen Namen Giesbert der Entbehrliche im ganzen Land bekannt sein!“