Veröffentlicht: 20.06.2018. Rubrik: Menschliches
Zauberpony
Vor einiger Zeit kam meine Mutter auf den Gedanken Kindern ab 4 Jahren das Reiten bei zu bringen. Einigen erscheint das wohl zu früh, deshalb nehmen viele Reitschulen erst Kinder ab dem 8ten Lebensjahr auf. Doch die Kinder ganz ohne Zwang an das Pferd heranzuführen braucht kein Mindestalter. Darum erfanden wir den ‚Ponyführerschein‘.
In den Ferien bekamen Eltern die Möglichkeit ihre Kinder an einem Kurs teilnehmen zu lassen, der ihnen alles wichtige im Umgang mit Pferden lehrte. Hatten sie den Kurs abgeschlossen, gab es eine Urkunde, die besagte, dass sie in der Lage waren mit einem Pferd oder Pony verantwortungsvoll umzugehen. Den ‚Ponyführerschein‘.
In einem sehr warmen Sommer begann erneut ein zweiwöchiger Kurs. Ich half meiner Mutter beim Vorbeireiten der Ponys während wir auf die Ankunft der Kinder warteten. Sechs waren es, die sich immer zu zweit ein Pony teilen durften.
Wenig später rollten die ersten Autos über den Hof. Wie immer musste ich mir ein Lachen verkneifen, wenn all die fein gekleideten Eltern mit gerümpfter Nase aus dem Auto stiegen und ihre Kinder in übergroßen Gummistiefeln bei uns abgaben. Viele schickten sie zu uns um ihren Kindern etwas anderes zu bieten als das Stadtleben, da war so ein Ferienkurs sehr willkommen. Sie konnten in Ruhe den ganzen Vormittag arbeiten, während die Kinder ihre Zeit am Stadtrand auf einem Ponyhof verbrachten.
Die ersten Kinder waren bereits angekommen und hatten sich begeistert auf die Ponys gestürzt, als ein weiterer Wagen auf den Hof rollte. Die Eltern zerrten ein Mädchen aus dem Auto, sie musste etwa sechs sein, und kamen mit ihr an der Hand zu uns herüber.
„Hallo, Lena ist angemeldet für den Ponyführerschein“, sagte die schlanke Frau zu meiner Mutter. Sie regelte das geschäftliche, ich ging in die Knie um mit dem Mädchen auf Augenhöhe zu sein. „Hallo“, sagte ich leise. „Ich bin Kate, und du?“
Doch das Mädchen blickte zu Boden und versteckte sich hinter ihrem Vater. Verwirrt richtete ich mich auf. Für gewöhnlich waren alle Kinder die an dem Kurs teil nahmen offen und vorlaut, doch keineswegs schüchtern. „Sie heißt Lena“, antwortete ihr Vater stattdessen. Ich nickte. „Okay, danke. Wollen sie mit ihr gemeinsam schon mal zu den Ponys gehen?“, schlug ich vor, doch der Mann zögerte. „Ich, ich kann es versuchen“, brachte er schließlich hervor.
Ich lief hinüber zu unseren Pferden und er folgte mir, Lena an der Hand haltend. Einige Meter vor den Ponys blieb Lena stehen und ließ einen spitzen Schrei hören. Sie hatte aufgesehen und die Ponys entdeckt. Die Panik stand ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben und sie zerrte ihren Vater wieder zurück zum Auto. Er versuchte sie zu beruhigen und schließlich stand sie einen halben Meter vor unserem Schimmelpony Beauty. Sie war mit ihren 1,10 m die kleinste in der Truppe.
Ehrfürchtig lugte Lena zu ihr herüber. „Warum haben sie sie her gebracht, wenn sie Angst vor Pferden hat?“, fragte ich ihren Vater. Der seufzte. „Weißt du, sie hat nicht nur Angst vor Pferde. Sie fürchtet sich vor Hunden, Katzen, Kaninchen, sogar vor Käfern. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und habe immer Tiere um mich her gehabt, meine Frau genauso. Wir wollen ihr das auch ermöglichen, doch sie fürchtet sich nur.“
Ratlos sah ich ihn an. „Ich weiß nicht ob wir da…“, setzte ich an, doch er unterbrach mich. „Ob ihr helfen könnt?“ Ich nickte. „Wenn nicht“, erklärte er, “ist das kein Problem. Wir haben jetzt schon so viel probiert, ich glaube nicht, dass die Ponys etwas ändern werden, aber man soll die Hoffnung ja nicht aufgeben.“
Bedrückt blickte ich von Lena zu ihrem Vater und wieder zurück. Auch ich war ein ängstliches Kind gewesen, doch hatte ich mehr Angst vor Menschen als vor Tieren gehabt.
In diesem Moment kam meine Mutter zu uns herüber. „Hallo, ich bin Anke. Sie können Lena mir übergeben, ihre Frau hat mir alles erzählt. Wir werden unser Möglichstes tun.“ Mit diesen Worten nahm sie Lena an die Hand und ging zu den anderen Kinder hinüber. Ich schenkte ihrem Vater ein Lächeln, bevor er sich zu seinem Auto begab.
Im Laufe der ersten Woche lernten wir Lena besser kennen. Sie hatte tatsächlich vor allem Angst, was sich bewegte. Einmal, als alle in der Mittagspause am Tisch saßen und ihre Brote aßen, schrie sie aus dem Nichts heraus auf und stürzte von der Bank. Sie lief einige Meter vom Tisch weg und alle sahen sie verwirrt an. „Ein Käfer!“, sagte sie und zeigte auf den Tisch. Und tatsächlich, über den Tisch krabbelte ein wunderschöner Marienkäfer. Ich nahm ihn auf die Hand und ging zu Lena hinüber.
„Sie mal“, sagte ich. „Der ist ganz klein, er hat sicher noch viel mehr Angst vor dir als du vor ihm. Und weh tun kann er dir auch nicht.“
Skeptisch betrachtete sie den Käfer auf meiner Hand. „Das sagt mein Papa auch immer“, entgegnete sie und ich musste schmunzeln. Das sagten alle Erwachsenen über Insekten. „Dann ist es vielleicht an der Zeit deinem Papa zu glauben“, schlug ich ihr vor. Sie schien nicht recht überzeugt und machte einen großen Bogen um mich und den Käfer als sie zurück zum Tisch ging.
Die gesamte erste Woche sprach Lena kaum. Sie sonderte sich von allen ab, nur meine Mutter schien zu ihr durch zu dringen. Um die Ponys machte sie stets einen Bogen und wenn die anderen die Pferde putzten und ritten, saß sie allein auf der Bank und schaute zu. Wir ließen sie.
Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte sie zu etwas zu zwingen, auch wenn ich einige Male kurz davor war ihr eine Bürste in die Hand zu drücken und sie zu den Ponys hinüber zu schieben.
Mit der Zeit wurde Lena offener. Sie freute sich, als sie morgens von ihren Eltern bei uns vorbei gebracht wurde, doch die Tiere mied sie nach wie vor. Ich habe sie einmal gesehen, wie sie eine Bürste aus dem Putzkasten nahm als keiner hinsah, einige Schritte auf Beauty zu machte, es sich dann jedoch anders überlegte und die Bürste wieder weg legte. So ging es die ganze erste Woche. Sie machte einige Schritte auf die Ponys zu und lief dann wieder weg.
Zu Hause war Lena das Thema Nummer eins am Tisch. Selbst mein Vater, der sich wirklich nicht für Pferde interessiert, horchte auf als meine Mutter von Lena erzählte und dass ihre Eltern hofften die Ponys würden ihr helfen. Doch eine Lösung wusste auch er nicht.
Die erste Ponyführerschein-Woche ging zu Ende, ohne dass sich etwas geändert hatte. Doch an dem folgenden Montag sollte uns eine Überraschung erwarten. Wir waren kaum im Stall angekommen als ein Auto auf den Hof fuhr, das Auto von Lenas Eltern. „Nanu? Was wollen die denn so früh?“, rätselte mein Mutter. Sie stellte die Schubkarre ab und lief zu dem Wagen hinüber. Ich verdrehte hinter ihrem Rücken die Augen. War ja klar, dass die Arbeit wieder an mir hängen blieb.
Ich legte die Mistgabel in die Karre und schob sie zum Stall hinüber. Auf dem Weg dorthin bekam ich mit, dass Lena den ganzen Morgen gequengelt hatte, weil sie es nicht abwarten konnte die Ponys zu sehen. Also waren ihre Eltern kurzerhand früher gekommen.
Ich stellte die Schubkarre vor Beautys Box ab und holte das Pony heraus um den Weg frei zu haben. Kurzerhand band ich sie vor dem Stall an, wie wir es immer taten, und ging zurück um meine Arbeit zu erledigen. Als ich wenig später mit der Karre voll Mist aus dem Stall kam, sah ich Lena mit einer verschrumpelten Möhre in der Hand vorsichtig auf Beauty zu gehen. Die Möhre hatte meine Mutter ihr am Ende der letzten Woche gegeben, falls sie Beauty damit füttern wollte. Meine Mutter hatte gesagt sie solle die Möhre einfach dann an Beauty verfüttern, wenn sie es für richtig hielt (und bevor die Möhre völlig in sich zusammen schrumpelte).
So leise wie möglich stellte ich die Schubkarre ab und lugte um die Ecke. Ich hörte, dass auch das Gespräch zwischen meiner Mutter und Lenas Eltern verstummt war. Alle sahen wie gebannt zu dem kleinen Mädchen, das sich zögernd auf unser Schimmelpony zu bewegte. Die Luft knisterte vor Anspannung und ich traute mich nicht mich zu bewegen. Ohne es zu bemerken hielt ich die Luft an und hörte auf zu blinzeln, als Lena gut zwei Meter vor dem Pony stehen blieb. Beauty spitzte die Ohren und sah das Mädchen an.
Es schien eine halbe Ewigkeit zu vergehen. Manchmal kommt einem ein Augenblick vor wie ein ganzes Leben, weil er über ein ganzes Leben entscheiden kann. Dann gibt es unwichtige Augenblicke, die eben einfach nur Augenblicke sind. Doch das hier war keiner der unwichtigen Momente. Es war einer der Augenblicke, die darüber entscheiden welche Richtung ein Leben einschlägt.
Die beiden sahen sich einfach nur an und niemand rührte sich. Selbst das Pony schien zu spüren, dass es hier um mehr ging als eine Möhre. Das kleine Mädchen bebte vor Aufregung. Dann fasste sie einen Entschluss. Lena atmete tief ein und machte drei große Schritte auf Beauty zu. Vorsichtig streckte sich das Pony um die Möhre zu erreichen. Lena hob die freie Hand und strich ihr sanft über die Nase.
Es ertönte ein lautes Schluchzen und alle versammelten, inklusive Beauty, zuckten intuitiv zusammen. Nur Lena ließ sich nicht beirren. Sie hielt Beauty die Möhre hin und streichelte sie, als wäre es das selbstverständlichste der Welt. Ihre Mutter fiel ihrem Mann in die Arme und weinte hemmungslos. Lenas Vater murmelte etwas, während er seiner Frau über den Rücken strich, und eine warme Sommerbrise wehte das Wort ‚Zauberpony‘ zu mir herüber.
Als die zweite Woche des Ponyführerschein zu Ende ging kamen Lenas Eltern früher um ihre Tochter reiten zu sehen. Sie saß auf dem größten unserer Ponys und strahlte über das ganze Gesicht. „Sehr gut!“, lobte meine Mutter sie gerade. „Wenn du dich traust, kannst du mal die Arme ausbreiten“, schlug sie vor und ohne zu zögern ließ Lena die kurze Mähne des Fjordpferdes los und breitete begeistert die Arme aus.
Eine gute Stunde später waren alle einmal geritten und sattelten nun die Ponys ab. Sie wurden von allen Kindern ausgiebig gebürstet, bevor sie zurück in ihre Boxen durften. Beauty, die von Lena und einem anderen Kind versorgt wurde, scharrte bereits ungeduldig mit den Hufen, als ein spitzer Schrei ertönte. „Stopp!“, rief Lena dem Pony zu. Beauty riss den Kopf hoch, sodass ihr Halfter klimperte. Schnell bückte Lena sich vor das Pony und pflückte etwas vom Boden auf. Sie hielt es Beauty vor die Nase, die die Nüstern blähte und Lena mit großen Augen anstarrte.
„Du musst keine Angst haben“, sagte Lena. „Der hat sicher viel mehr Angst vor dir, als du vor ihm.“ Sie streckte die Hand über ihren Kopf und ein Marienkäfer erhob sich in die warme Sommerluft.