Veröffentlicht: 17.09.2018. Rubrik: Nachdenkliches
Von der Wintersonnenwende - Teil III
Von der Wintersonnenwende - Teil III
„Ich kann dir nur erklären, wonach ich selber lebe. Vorab jedoch sei folgendes geklärt: es besteht eine spezielle Beziehung zwischen Wissen, Bewusstsein und Gewissheit. Nur weil man etwas weiß, bedeutet das noch nicht, dass man auch bewusst danach lebt. Wenn du weißt, dein Freund ist Vegetarier, weil du es an diesem Tag gelernt hast, dann wirst du ihm unter Umständen dennoch am nächsten Tag aus Versehen ein Stück Fleisch vorsetzen, da das Wissen noch nicht in dein Bewusstsein gedrungen ist, nach dem du dein Leben richtest. Ähnlich ist es umgekehrt. Du kannst mit dem Bewusstsein leben, dass die Erde eine Kugel ist. Du bist der Meinung, das Wissen um diesen Fakt zu haben, obwohl dir die Bestätigung, also der Beweis, noch nie gezeigt wurde. Die Gewissheit kannst du erst dadurch erlangen, dass du mit eigenen Augen siehst, dass die Erde rund ist.“
Das war ein erstaunlich einleuchtender Gedanke.
„Ich verstehe.“
„An diesem Punkt aber, an dem man das eigene Bewusstsein hinterfragt und nach einem Beweis verlangt, stellt sich ein Problem ein. Denn welches Wissen kann man schon als „wahr“ bezeichnen? Wenn man nun vom Weltraum aus auf die Erde blickt und sich vergewissert, dass diese wirklich rund ist, basiert diese Gewissheit auch nur auf dem Glauben, dass unsere Augen die Wahrheit sehen. Gebunden an die Rezeptoren, welche für unsere Wahrnehmung zuständig sind, müssen wir auf einen Filter vertrauen.“
„Sag mal, René, worauf willst du eigentlich hinaus? Das sind immerhin keine neuen Gedanken. All diese Schritte hat die Philosophie der Menschheit schon durchlaufen. Ich vermute aber ein Muster zu erkennen, dessen du dich dabei bedient hast, um dir eine eigene Philosophie aufzubauen.“
„Das ist sehr richtig. Vermutlich sollte ich an dieser Stelle ein wenig abkürzen. Was ich eigentlich nur genauer erklären und begründen wollte, war mein Wissen um die Tatsache, dass es keine Wahrheit gibt, derer ich mir sicher bin. Jetzt habe ich aber ein Leben und habe mich als Teil dieser Gesellschaft für eine Lebensphilosophie entschieden. Ich -“
Plötzlich flog ein Schneeball zwischen uns beiden hindurch und prallte gegen einen Baum knapp vor uns. Der Ball zersprang in alle Richtungen und rieselte auf uns nieder. Etwas von dem Schnee verfing sich auch in dem Bart von meinem Bruder und ich lachte ihn aus.
„Schneeballschlacht!“
Die Kinder riefen uns das noch ein paar mal zu.
„Kinder gegen Erwachsene!“
„Einverstanden“, sagte ich.
„Aber nur unter der Bedingung, dass euer Tante und ich uns auch eine kleine Mauer aus Schnee zum Schutz bauen können.“
René blickte mich an.
„Das gibt mir noch genug Zeit, meinen Gedanken zu beenden.“
Die drei Kinder bauten etwa fünfzehn Meter entfernt von uns ihre eigene Mauer auf. René und ich waren schneller, weswegen wir uns Zeit dabei ließen, die nötige Menge an Schnee heranzuholen. Wir bauten unsere Mauer zwischen zwei Bäumen, die nah aneinanderlagen. Mein Bruder zubbelte an demselben Stück Hemd, welches aus meiner Jacke hervorragt, wie es Monika zuvor getan hatte.
„Das hier, diese Schneeballschlacht, dient glaube ich als gutes Beispiel, um meine Überlegung vollendet darzustellen. Wenn man jetzt eine Gruppe Erwachsener dazu auffordert, zusammen eine Schneeballschlacht zu machen, dann wird sich sicher ein Großteil von ihnen dagegen stellen und es als kindisch bezeichnen. Sie haben ein starres Bild, eine vorgefertigte Meinung zu der Entscheidung, die ihnen geboten wird. Spielen oder nicht. Natürlich beeinflussen diese Entscheidung auch noch eventuelle Gefahren, welche jedoch situationsabhängig sind. Und mit einer festen Lebenseinstellung können sich diese Menschen nicht mehr für das Richtige entscheiden. Diese Lebensweise gefällt mir nicht. Ich will flexibel leben können, weswegen ich auch versuche meine Kinder nach dieser Philosophie zu richten.“
„Jetzt verstehe ich es. Du richtest sie also nach einem Glauben ohne erzwungene Richtung.“
„Ja. Ob nun die totale Loslösung vom ‚Starrsinn‘ der richtige Weg ist, bleibt hierbei eine andere Frage.“
„Das erklärt auch, wieso du vorhin offengelassen hast, ob es der Natur an Kraft oder allen Willen fehlt.“
„Oder an was auch immer. Solang ich es nicht weiß, will ich meinen Kindern gern die freie Wahl lassen. Gerade in diesem Fall hängt auch nichts davon ab.“
„Womit wir bei der nächsten Frage wären: wann genau ist etwas so wichtig, dass man sich für eine Seite entscheiden muss?“