geschrieben 2014 von Andreas Mettler (Metti).
Veröffentlicht: 01.01.2014. Rubrik: Persönliches
Der Spiegel blickt zurück
„In hundert Jahren sind wir alle tot.“
„Vermutlich schon in fünfzig“, antwortete meine Frau.
„Hm, ich meine: Was bleibt dann übrig vom dem, was wir geleistet haben?“
„Wir haben zwei fast erwachsene Söhne. Die hätten schlimmer geraten können.“
Eine Ente flatterte lautstark aus dem Wasser. „In hundert Jahren sind wir nur noch Namen in unserem Stammbaum. Wenn überhaupt.“
„Das hört sich verdammt nach einer Midlife-Crises an.“ Sie öffnete die Dose mit den Ködern. „Damit vertreibst du uns am Ende noch die Fische.“
„Wir haben doch noch nie etwas gefangen“, meinte ich. „Warum machen wir das überhaupt?“
„Weil es hier schön ist. Weil du es hier schön findest. Wir haben ein schönes Leben.“
„Wir haben ein schönes Leben“, wiederholte ich. „Alles ist recht ordentlich verlaufen.“
„Na, siehst Du! Und als krönenden Abschluss fängst Du heute vielleicht sogar einen Fisch.“
„Ein Fisch als krönender Abschluss?“ Ich konnte es nicht fassen. „Was soll das für ein Leben gewesen sein? Und überhaupt: Ein krönender Abschluss mit Mitte vierzig?“
„Naja, die schönste Zeit kommt noch.“ Sie hatte die Dose wieder verschlossen. „Bald sind die Kinder aus dem Haus und dann haben wir noch viel mehr Zeit für uns beide allein.“
Ich rieb mir die Stirn. „Und dann ist alles wieder so wie es vorher war. Bevor wir Kinder hatten. Wofür?“
„Geh zum Therapeuten, aber verdirb mir nicht diesen wunderschönen Vormittag.“
Wir hatten schon einige Zeit schweigend und wenig produktiv auf dem Boot verbracht.
„Es hätte auch anders kommen können“, sagte ich.
„Wie und was?“
„Mit meinem Leben.“
Meine Frau drehte mir den Rücken zu. „Blablabla.“
„Als Kind habe ich Geschichten gechrieben, Comics gezeichnet und Spiele erfunden. Vielleicht wäre noch was Großes aus mir geworden.“
„Aus Dir? Püh.“
„Vielleicht ist mein Leben einfach zu gut gelaufen?“
„Na, das können wir ja jederzeit ändern.“
„Ich hab einen Beruf gelernt, geheiratet und zwei Kinder groß gezogen. Nun schaue ich in den Spiegel und stelle fest, dass meine besten Jahre schon vorbei sind.“
„Ich glaub, der Tag ist für uns beide gelaufen.“
„Du sitzt freiwillig am Computer?“
„Das ist wirklich wichtig.“
„Und das am Sonntag. Ich glaube, ich sollte ein Foto davon machen.“, schmunzelte sie.
„Mach die Tür zu.“ Ich zeigte auf die ersten gedruckten Seiten. „Erinnerst du dich noch an unseren letzten Ausflug am See?“
„Daran will ich mich gar nicht erinnern.“
„Von meinem Leben, wie es hätte anders verlaufen können?“
„Ich glaub, ich schieb schon mal den Braten in den Ofen.“
„Nein, ernsthaft. Dies sind die ersten Skizzen von meinem alternativen Leben.“
„Oh, mein Gott.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du hast nur ein einziges Leben und das verläuft so, wie es nun mal verläuft.“
„Wirklich? Vielleicht sind es manchmal nur Kleinigkeiten, die dazu führen, dass sich alles ganz anders entwickelt.“
„Zum Beispiel?“
„Angenommen ich hätte meine Berufsausbildung damals abgebrochen...“
„Du hättest was anderes gefunden.“
„Und irgendwann hätte ich festgestellt, dass ich als gewöhnlicher Arbeitnehmer nicht zu gebrauchen bin.“
„Na, ob das ein besseres Leben gewesen wäre, als das was du gehabt hast?“
„Gehabt hast? Ist denn mein Leben schon vorbei?“
„Du selbst hörst dich in letzter Zeit manchmal so an.“
„Mein alternatives Ich ist immer noch auf der Suche nach dem großen Durchbruch.“
„Mit Mitte vierzeig? Wie hat er das so lange durchgehalten?“
„Hm, das müsste ich mir noch überlegen. Ich kann mir schon vorstellen, dass er gutes Geld verdient hat.“
Sie schmunzelte. „Vorsicht, jetzt wird er dir wieder ähnlicher als du dir das ausdenkst.“
„Ja?“ Ich spielte das in Gedanken durch. „Vielleicht nicht zwangsläufig. Kann sein, dass er eine eigene kleine Firma aufgebaut hat. Aber er hat das Wunschkonzert seiner Kunden erfüllt und nie ganz das gemacht, wovon er geträumt hatte.“
„Und was wäre das?“
„Hm, vermutlich meine Kindheitsträume. Ein berühmter Comiczeichner oder Spieleerfinder werden. So etwas.“
„Das klingt recht infantil.“
Unsere ehelichen Pflichten hatten wir schon seit einigen Jahren auf pragmatische Notwendigkeiten reduziert. Wir wussten stillschweigend, wann wir die Nachttischlampen abschalten wollten und hatten den beiderseitig gewünschten Sicherheitsabstand im Ehebett gefunden.
„Ich denke, ich werde ihm den großen Durchbruch nicht gönnen.“
„Was?“ Meine Frau rieb sich schlaftrunken die Augen. „Wem?“
„Meinem alternativen Ich.“
„Oh, bitte. Und nicht hier.“
„Ich bin mit der Geschichte weiter gekommen.“
„Muss das wirklich sein?“
„Der Laserpointer ist das Lieblingsspielzeug einer Katze.“
„Morgen vielleicht.“ Sie drehte mir ihr Gesäß zu.
„Und warum? Ich sag dir warum: Weil die Katze das Laserlicht jagen kann, aber niemals fangen wird.“
„Soso. Und jetzt halt die Klappe.“
„Sobald mein alternatives Ich seinen großen Erfolg erreichen wird, wäre die Geschichte zu Ende. Dann wird es langwelig.“ Ich seufzte. „So wie unser Leben.“
Ich hörte schlaftrunkene Geräusche.
„Aber bis zum großen Durchbruch bleibt es interessant. Schau dir die Werke großer Komponisten und Schriftsteller an. Wer reich und berühmt wird, hört auf zu kämpfen. Hört auf zu leiden. Und dann ist es auch mit der großen Kunst vorbei.“
„Mjam, Mjam.“
„Immer kurz vor dem großen Durchbruch zu stehen, aber diesen nie zu erreichen. Das ist vielleicht die wahre Kunst. Und die Kunst, nicht daran zu Grunde zu gehen.“
Meine Frau saß schon auf der Bettkante als ich erwachte. „Und hast du deine Geschichte weiter geträumt?“
„Hm“, ich versuchte mich zu entsinnen. „Ich glaube nicht.“
„Aber ich dafür um so mehr.“ Sie kniff die Lippen zusammen. „Und ich kann nicht sagen, dass ich dabei gut geschlafen hätte.“
„Sorry, wenn ich dir die Nacht verdorben habe.“
„Das hast du. Aber dafür habe nun ich einen Vorschlag für deine Geschichte.“
„Du?“ zweifelte ich.
„Nun hör mal gut zu. Du meinst, dein Alternativling führt ein interessanteres Leben als du?“
„Hm. Ja, das war die Frage hinter der ganzen Idee.“
„Ist es dann nicht etwas langweilig, wenn du die Geschichte über ihn schreibst?“
Es war vielleicht noch etwas zu früh am Morgen, ich konnte ihr nicht ganz folgen. „Was?“
„Lass ihn doch die Geschichte selber schreiben.“
„Ihn?“
„Deine Katze, die ihr Leben lang dem Laserpointer hinterher rennt, wird sich auch irgendwann einmal fragen, ob sie das richtige tut. Spätestens mit Mitte vierzig wird sie das.“
„Wird sie das..?“, wiederholte ich verloren.
„Sie wird über ein Leben nachdenken, so wie wir es führen.“
„Ja...“
„Und sie wird eine Geschichte schreiben über ihr alternatives Ich. Eine Geschichte über dich.“
„Ich glaube, ich weiß jetzt, was du meinst.“ Ich rieb mir den Sand aus den Augen. „Und das führt zu einem interessanten Gedanken: Was wäre, wenn mein alternatives Ich diese Geschichte just in diesem Augenblick zu Ende geschrieben hat?“
Meine Frau lachte: „Dann wäre dies vermutlich der letzte Satz deines Lebens gewesen.“
Hierauf entgegnete ich nichts mehr.
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