geschrieben 2010 von Andreas Mettler (Metti).
Veröffentlicht: 05.09.2013. Rubrik: Fantastisches
Dümpelstein
Simov 11 lag auf dem Rücken neben seinem Dümpelkorb und blickte mit leeren Augen zum Himmel. Seine Brust hob und senkte sich nur wenig rhythmisch und noch immer drang ihm beim Ausatmen roter Rauch aus der Nase. Ich war viele Minuten länger in der Höhle geblieben und mein Gleichgewichtssinn bereitete mir noch keine Probleme. Stolz blies ich einen dicken Strahl des roten Rauchs zum Himmel und füllte meine Lungen mit der frischen Luft.
Der gute Onkel war nicht in seiner Hütte als ich die Dümpelsteine in meinen Zähler schüttete. Ein kurzer Blick auf die Zähler der anderen Kinder bestätigte, dass mich der gute Onkel auch heute wieder lieb haben würde. Niemand pflückte so viel Dümpelstein wie ich, kein anderes Kind konnte sich so lange in der Höhle aufhalten.
„Du hast deine ganzen Dümpelsteine verloren“, sage ich zu Simov 11 auf dem Rückweg zur Höhle nicht ganz frei von Hohn.
Noch immer leicht benommen sammelte Simov 11 die Steine vom Gras auf und legte sie ohne sie zu säubern in seinem Korb ab.
„Bald bist du vorbei“, neckte ich ihn. Simov 11 war größer als die anderen Kinder und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis eines Morgens wieder ein leeres Bett in der Kinderstube auf uns warten würde. Ich konnte hören, wie Simov 11 sich hustend zur Hütte schleppte, während ich noch einmal viel von der guten Luft vor dem Höhleneingang in meine Lungen zog. Randvoll sollte mein Korb diesmal werden.
Ich hustete hellrotes Dümpel in meine Hände. Der Korb war tatsächlich randvoll geworden, aber meine Lungen taten es ihm gleich. „Du hast eine starke Lunge“, hatte der gute Onkel einmal zu mir gesagt, aber diesmal hatte ich es tatsächlich übertrieben. Trotz meines getrübten Bewusstseins konnte ich den guten Onkel am Tor der Hütte erkennen. Er sollte mich nicht husten hören und so unterdrückte ich den Reiz meiner Lungen, sich vom Dümpel zu befreien und schluckte die Flüssigkeit, die sich noch in meinem Rachen befand, hinunter. Ein brennendes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Etwas kurzatmig bewegte ich mich auf den guten Onkel zu. Jetzt nur kein Dümpel verlieren.
Der gute Onkel war nicht allein. Der andere Mann trug einen Mundschutz und weiße Handschuhe genau wie der gute Onkel selbst. „Es gibt Händler und Konsumenten“, hatte der gute Onkel mir einmal erklärt. „Die Händler tragen einen Mundschutz, die Konsumenten nicht.“ Der gute Onkel hatte mir viele seiner Geheimnisse anvertraut. Wahrscheinlich deshalb, weil ich ein so guter Dümpelpflücker bin.
„Ah, hier kommt unser bester Mitarbeiter“, meinte der gute Onkel lachend. „Nun schauen Sie sich das einmal an. Ich glaube, bald muss ich größere Körbe kaufen.“
Ich wollte gerade in die Hütte gehen, da legte mir der fremde Mann seine Hand auf die Brust. „Du! Mach mal langsam! Zeig mal was du da hast!“
Ich hob den Korb etwas höher. Der Mann strich mit den Fingern durch das Dümpel, das sofort rot zu schimmern begann. „Das sieht nach guter Ware aus. Du scheinst ein recht gut konstruierter Simov zu sein.“
Der gute Onkel nickte. „Meine Rede. Ich glaube, langsam gelingen sie mir richtig gut.“
Simov 11 war nicht der einzige, den man in der Kinderstube husten hören konnte. Der gute Onkel war noch nicht für den Gutenachtkuss erschienen und so lies auch ich meinem Bedüfnis freien Lauf. Ein letzter Schluck aus dem Happi-Glas und bald schon würde die beruhigende Wirkung einsetzen und die Schmerzen im Brustbereich würden mich nicht mehr weiter plagen. Woraus der gute Onkel das Happi zubereitet, war eines der Geheimnisse, das er noch nicht mir mir geteilt hatte. Vielleicht irgendwann, wenn ich noch ein besserer Dümpelpflücker sein würde. Mit einem noch größeren Korb wäre das tatsächlich möglich.
Es war nicht schwierig die kräftigen Schritte des guten Onkels zu hören, die sich auf die Kinderstube zubewegten und ich unterdrückte das Bedürfniss weiter zu husten. Der gute Onkel sollte nicht fälschlich auf die Idee kommen, ich sei schon bald vorbei. Simov 11 hustete einfach weiter und ich musste leiste schmunzeln. Sein letzter Tag hier würde wohl bald kommen. Als der gute Onkel die Kinderstube betrat, lag ich bereits artig im Bett und hatte mir die Decke bis über die Schultern gezogen.
Irgendetwas stimmte nicht an diesem Abend, der gute Onkel sah sehr unglücklich aus. Ich konnte das nicht verstehen, hatte ich doch mehr Dümpel für ihn gepflückt als je zu vor. Und die anderen Kinder waren auch nicht schlecht gewesen. Mit Ausnahme von Simov 11 natürlich.
Der gute Onkel streichelte mir an diesem Abend nur kurz die Wange und setzte mir den kleinen freundlichen Piecks in die Armbeuge. Der Arm wurde erfüllt mit Schlaf und schnell hatte sich das taube Gefühl in meinem ganzen Körper ausgebreitet. Ich dachte darüber nach, was ich tun konnte, damit der gute Onkel nicht mehr so traurig ist und dies war mein letzter Gedanke bevor mich ein traumloser Schlaf aus der Kinderstube entführte.
Mein Husten war entsetzlich. Ich hatte es gestern in jeder Hinsicht übertrieben mit meinem Fleiß. Aber das war nicht das einzige, was nicht stimmte. Der gute Onkel war nicht in der Kinderstube und einige der anderen Kinder lagen noch bewegungslos in ihren Betten. Ein seltsames Bild. Normalerweise erwachten wir fast gleichzeitig und ich hatte noch nie zuvor jemanden so lange schlafen gesehen. Auch das Frühstücks-Happi fehlte.
Draußen hörte ich zwei Männer miteinander sprechen und ich dachte zunächst, es sei der gute Onkel und ein Händler. Der kleine Simov 17 hatte die Tür bereits einen Spalt weit geöffnet und ich konnte sehen, dass offenbar zwei Händler mit Mundschutz vor der Türe standen.
„Ah, die Kinder sind wach geworden“, meinte der größere der beiden Männer.
Ich ging ein paar Schritte vor die Hütte um mich nach dem guten Onkel umzusehen und stellte fest, dass die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Ich betastete meine Armbeuge. Wieso hatte ich keinen Gutenmorgenkuss bekommen? Wie sollte ich jetzt noch mein Tagessoll erreichen?
„Ich glaube, der Junge sucht seinen Peiniger“, meinte der kleinere Mann.
„Ich suche den guten Onkel“, widersprach ich etwas trotzig.
„Den wirst du so bald nicht wiedersehen, meine Junge“, sagte der andere.
Mir wurde schlecht. Ich hatte so viel für ihn getan. „Ist er vorbei?“
„Wie ist dein Name, mein Junge?“
„Ich bin Simov 14!“
„Was für ein schrecklicher Name. Man sollte Kinder nicht numerieren. Du wirst dir einen neuen Namen aussuchen müssen. Ansonsten muss das jemand für dich tun.“
Das interessierte mich nicht. Der gute Onkel hatte mich erschaffen und er hatte mir den Namen gegeben. „Wo ist der gute Onkel?“ fragte ich beharrlich.
„Da hinten in dem Wagen mit den Gitterfenstern.“ Der Mann packte mich am Arm. „Und jetzt komm mit. Ich glaube, wir müssen dir mal so einiges über deinen guten Onkel erzählen.“
Panisch riss ich mich von dem Händler los und rannte auf das Auto zu. Ich sah einen Mann hinter dem vergitterten Fenster auf der Rückbank sitzen und ich dachte zunächst es sei der gute Onkel. Aber dann erkannte ich das Gesicht des Händlers von gestern. Die vorderen Sitze des Fahrzeuges waren leer und ich rannte fix um das Auto herum. Zunächst glaubte ich, ich hätte mich wieder geirrt, weil ich den guten Onkel ohne Mundschutz kaum wieder erkannt hätte, doch dann trafen sich unsere Blicke. Wo waren nur sein gütiger Blick und seine Liebe geblieben? Der gute Onkel wandte sich ab und ich begann zu weinen. Zwei paar Hände packten mich und trugen mich davon.
„Sie dürfen hier nicht rein! Niemand darf hier rein!“ protestierte ich.
„Netter Palast“, meinte einer der beiden Männer.
Der andere öffnete das Tor. „Hör mal, mein Junge. Wenn hier einer rein darf, dann bist du das. Das hier ist schließlich mit deiner Hände Arbeit erwirtschaftet worden.“
Wir saßen in einem Raum mit einem schweren Tisch. Eine kleine Sonne strahlte an der Decke.
„Ich möchte das nicht tun.“ Der größere Mann holte einen Gegenstand aus Metall aus seiner Jackentasche und steckte ihn in eine Öffnung an der Türe. „Aber bis du verstanden hast, was das alles soll und wer du bist, habe ich wohl keine andere Wahl.“
„Glaub mir, mein Junge“, meinte der andere. „Das ist nur zu deinem Schutz und wir wollen dich nicht länger hier festhalten als nötig.“
„Und nun jetzt setz dich hin. Es gibt viel zu erklären.“
„So, fangen wir also nochmals von vorne an. Wer bist du?“
„Ich bin Simov 14“
„Ok, wir werden dich erstmal mit Kev anreden. Wenn dir selbst ein besserer Name einfällt, dann können wir das jederzeit ändern.“
„Nun, was bist du?“
„Ich bin ein Simov“
„Was ist ein Simov?“
„Wir Simovs sind Adroiden, geschaffen vom guten Onkel. Wir dienen den Menschen und arbeiten für sie.“
„So und jetzt sag ich dir mal was.“ Der kleinere Mann holte einen kleinen Gegenstand aus seiner Jackentasche hervor, der aussah wie ein abgeschliffener grauer Stein. „Du wirst jetzt vielleicht nicht alles verstehen, was ich sage: Hierauf ist dein rechtlicher Status gespeichert. Ab heute bist du ein Mensch.“
„Spätestens ab heute“, fügte der andere hinzu. „Allerspätestens.“
„Du hast jetzt ein Geburtsdatum und eine Geburtsurkunde. Wir haben dich mal ungefähr auf zwölfeinhalb Jahre geschätzt. Und Deine Eltern gelten als unbekannt. Ok?“
„Nein, der gute Onkel hat mich erschaffen.“
„Das hat er dir erzählt. Verdammt noch mal, ein paar veränderte Gene machen noch keinen Roboter aus dir. Abgesehen von deiner Lunge, die offenbar etwas mehr verträgt, als unsere, ist dein Gencode in jeder Hinsicht identisch mit dem unseren. Und diese kleine Abweichung ist ja nicht unbedingt ein Nachteil.“
Ich verstand nicht die Hälfte von dem, was der Mann da erzählte. Und ich fühlte mich nicht wohl. Ich befand mich zu weit entfernt von der Höhle. Und das schon viel zu lange. Der Dümpelstaub in meiner Lunge begann sich zu lösen und das war nicht gut. Es war verboten, sich so weit von der Höhle zu entfernen.
„So, die nächste Frage. Weißt du eigentlich, was du in der Höhle jeden Tag gepflückt hast?“
„Dümpelstein.“
„Und was ist Dümpelstein?“
„Medizin. Die macht die Menschen gesund und glücklich. So ähnlich wie das Happi.“
„Happi?“ fragte der größere Mann.
„Nichts anderes als ein Proteintrunk. Und das ganze wieder gemixt mit leichtem Dümpel. Damit die Kinder immer schön ruhig bleiben“, antwortete der andere.
Es kratzte fürchterlich in meiner Lunge. Ganz anders als das frisch inhalierte Dümpel aus der Höhle. Ich fühlte, dass etwas sehr sehr Böses meinen Atemwegen entweichen wollte. Aber ich vermied es zu husten.
„Und nun sag mir, Kev, warum gibt es eigentlich keine erwachsenen Simovs?“
„Wir sind dann vorbei.“
„Und was heißt das?“
„Wir haben unsere Arbeit gemacht und verschwinden dann über Nacht aus der Kinderstube.“
Die beiden Männer blickten sich an: „Ja, eine einfache Erklärung für Kinder und alle Fragen sind beantwortet.“
Der kleinere Mann faltete die Hände. „Nein, Kev. So einfach ist es leider nicht. Mit 14 oder 15 Jahren seid ihr schlichtweg am Ende. Eure Superlungen sind vollgesogen mit dem Dümpel, Euer Körper ist kaputt und Euer Geist wird schwachsinnig von der Droge. Außerdem seid ihr irgendwann zu groß für die Höhle. Und wenn der liebe, liebe Onkel einen von euch nicht mehr brauchen kann, dann kommt er eines Nachts in eure Kinderstube, nimmt ihn mit und dann wird er zu Happi verarbeitet.
Ich konnte ein Röcheln bei jedem meiner Atemzüge hören. So durften diese beiden Männer nicht über den guten Onkel sprechen. Es waren böse Männer. Noch ein paar mal tief durchatmen. Das Metallstück, mit dem der große Mann mich hier eingesperrt hatte, war in seiner linken Jackentasche. „Du bist ein kluger Junge“, hatte der gute Onkel immer wieder gesagt. Und er hatte Recht gehabt.
Der dichte Dümpelrauch, der meiner Lunge entwich, hatte dunkelrote Farbe. Die beiden Männer verdrehten die Augen und verloren die Besinnung. Ich musste ein Versteck finden, wo die bösen Männer mir niemals folgen würden. Und ich wusste, es gab nur einen Ort, den sie nicht betreten würden.
Ein letzter Atemzug mit guter Luft und ich betrat die Höhle. Ich wusste nicht, wie lange ich mich hier verstecken musste. Aber ich konnte länger die Luft anhalten als alle anderen Kinder. Ich hatte eine Superlunge. Das hatten sogar die beiden bösen Männer zugegeben.
Es vergingen zwei Minuten, vielleicht auch drei und ich wusste, dass ich gleich wieder atmen sollte. Den reinen Dümpelstaub atmen, so wie ich es als Dümpelpflücker schon so oft getan hatte. Zehn Minuten, vielleicht auch zwölf waren kein Problem für mich. Aber was dann?
Ich hatte einen Entschluss gefasst. Ich pumpte die letzte Luft der Außenwelt, die ich bestimmt fast vier Minuten in meinen Lungen gehalten hatte, aus den Atemwegen und nahm einen tiefen Zug Dümpelstaub. Ich hatte schon so viel Dümpel eingeatmet im Verlauf meines Lebens und hatte es immer leichter ertragen. Besser als alle anderen Kinder. Jetzt musste der Zeitpunkt gekommen sein: Ich würde der erste richtige Dümpelatmer werden.
Ich nahm besonders tiefe Züge, um meinem Körper diesen Übergang zu erleichtern. Ich fühlte mich nicht schlecht dabei. Kein Hustenreiz, keine Gleichgewichtsstörungen. Wenn erst die bösen Männer verschwunden waren, konnte ich den Betrieb des guten Onkels wieder aufnehmen. Vielleicht kamen bald schon ein paar Händler oder Konsumenten, denen ich mein Dümpelstein verkaufen konnte. Was würde der gute Onkel staunen, sobald er zurückkäme. Ich kratzte mit den Fingernägeln an den Höhlenwänden um noch mehr Dümpel aufzuwühlen. Ich genoss den beißenden Geruch, der längst schon ein Teil von mir geworden war.
Der gute Onkel saß neben mir in der Höhle und streichelte mir die Wange. Er hatte wieder diesen gütigen Blick, den ich zuletzt bei ihm vermisst hatte. „Simov 14, mein Sohn. Das alles war der Grund, warum ich dir so viel beigebracht habe. So viel mehr als den anderen Kindern.“
Titelbild: horjaraul / pixabay.com (public domain)