geschrieben 2004 von Andreas Mettler (Metti).
Veröffentlicht: 15.05.2013. Rubrik: Lustiges
Die Schürze voller Blut
Die Schürze voller Blut
Ich hatte nicht beobachtet, hinter welchem Berg die Sonne verschwunden war, aber es wurde merklich dunkler. Ich hatte keine Lust gehabt, das Doppelbett mit einem fremden Gleitschirmflieger zu teilen und auf das reservierte Hotelzimmer verzichtet. Nachdem ich in einem anderen Hotel auf die Frage nach einer Schlafgelegenheit bereits auf dem Parkplatz ausgelacht worden war – ob von Gästen oder dem Personal wusste ich nicht und es war mir auch kein Bedürfnis mehr gewesen, es herauszufinden - hatte ich das große Schild an der Hauptstraße zusammen mit der viel weniger imposanten Pension Schönhaus entdeckt.
Eine Klingel gab es nicht, aber die Türe ließ sich öffnen. Es brannte kein Licht und so tastete ich mich aus dem hellen Schimmer der offenen Türe an der Wand entlang durch den Flur. Ich überlegte, mich verbal bemerkbar zu machen, wusste aber nicht, was ich rufen sollte und vor allem nicht, in welche Richtung und tastete deshalb weiter entlang der Tapete. Da passierte es: Meine Finger erfühlten den Lichtschalter. Ich atmete zweimal gelassen auf und drückte. Auf der anderen Seite der Wand läutete es.
„Guten Abend der Herr, was wünschen Sie?“ fragte der Mann mit dem fahlen Gesicht und dem gewickelten Handtuch um die Hüften.
„Ein Zimmer?“ meinte ich mit wankender Stimme.
Er kratzte sich am grauen Bart. „Aber doch nicht bei mir. Ich bin schließlich der Gast dieser ehrenwerten Pension und nicht der Betreiber.“
„Achso“, meinte ich. „Ich habe niemanden gefunden, der mir ein Zimmer geben könnte.“
„Das macht die alte Frau. Auf Wiedersehen. Ich gehe jetzt Duschen.“
„Auf Wiedersehen!“
Mein Dilemma war nicht kleiner geworden. Ich beabsichtige kaum, in die Dunkelheit „ist hier eine alte Frau“ hinauszurufen. Ich tastete also weiter an der Wand entlang und stieß nach einigen Metern mit dem Fuß an eine Treppe. „Sicherlich finde ich jemanden im Obergeschoss, der mir ein Zimmer geben kann“, überzeugte ich mich selbst, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass die Rückkehr an der Tapete entlang zur Ausgangstüre die noch lächerlichere Alternative gewesen wäre.
Ich war überrascht, wie geräumig das Zimmer mit dem großen Doppelbett war, nachdem ich den Lichtschalter, der sich unmittelbar rechts neben der Türe befand, betätigt hatte. Ich testete auch die beiden Nachttischlampen und überzeugte mich von deren fehlerfreiem Zustand. Der Wasserhahn lieferte Kalt- und nach einigen Minuten sogar Heißwasser, Dusche und Toilette fehlten leider gänzlich. Der Schlüssel mit einem großen hölzernen Anhänger, in den die Zahl 101 geschnitzt war, steckte im Schlüsselloch der inneren Türe. Ich nahm den Schlüssel an mich und öffnete den Schrank. Er war leer und sah so unbenutzt aus wie das Bett. Leise verschloss ich die Türe hinter mir, steckte den Schlüssel ein und schlich durch die Dunkelheit wieder die Treppe hinunter.
Die Dunkelheit war bereits weit fortgeschritten, als ich nach draußen trat. Ich vermochte keine genaue Uhrzeit zu schätzen, die Abende in den Bergen waren diesbezüglich oft recht trügerisch. Eine Uhr trug ich gewohnheitsmäßig nicht mit mir. Nicht lange, und ich hatte mein Auto erreicht, das immer noch am Parkplatz des Hotels stand, für das ich ursprünglich ein Zimmer reserviert hatte.
Als ich in den Wagen steigen wollte, öffnete die Hotelfachfrau gerade die Türe. „Und? Haben Sie inzwischen ein passendes Zimmer gefunden?“
Ich dachte an den Schlüssel in meiner Hose und antwortete: „Ja.“
Ein Mann mit einem zusammengeklappten, aber noch immer viel zu sperrigen Drahtgestell und einer gerollten Plane versuchte ungeschickt die Türe des Hotels zu betreten. Die Hotelfachfrau wich zur Seite.
Den Rollkoffer zog ich an seinem langen Plastikgriff und es war mir auch gelungen, gleichzeitig den Wanderrucksack umzuschnallen und die Videokamera auf die Schulter zu nehmen, aber es schien, dass ich für die Klappbox mit den Dagobert-Duck Taschenbüchern ein zweites mal vom Auto durch den dunklen Flur die Treppe hinauf in das Hotelzimmer schleichen müsste. Ich verstaute die Wäsche aus dem Koffer säuberlich im Schrank und legte den Rucksack und die Videokamera in das unterste Fach.
Als ich wieder auf den Flur hinaus trat und gerade die Türe verschließen wolle, brannte Licht. Ich hörte erst einen schweren Atem aus dem Erdgeschoss und dann nicht minder schwere Schritte, die sich unmissverständlich die Treppe hinaufbewegten.
Ebenso leise wie schnell verschloss ich die Türe hinter mir, steckte den Schlüssel in das Schlüsselloch und stellte mich hinter den Schrank. Meine Geistesgegenwart gab mir recht: Die Türe öffnete sich und eine Person mit keuchendem Atem betätigte den Lichtschalter. Da ich die Person nicht sehen konnte, ging ich davon aus, dass auch die Person mich nicht sehen konnte. Diese Vorstellung unterstützend drehte ich meinen Blick fort vom Zimmer hin zur hellbraunen Wand des Kiefernholzimitates des Schrankes.
Es war wieder dunkel im Zimmer und die schweren Schritte bewegten sich die Treppe hinab. Ich tastete mich an die Türe heran und stellte erleichtert fest, dass der Schlüssel noch steckte. Im Bewusstsein, dass es keine Entschuldigung für die eigenmächtige Inbesitznahme des Zimmers gab, zog ich meine säuberlich in Paare zusammengewurstelte Socken auseinander und knotete sie zu einem langen Seil zusammen.
„Guten Abend, ich hätte gerne ein Zimmer.“
„Ein Zimmer? Oh was machen wir denn da?“ Die alte Frau drehte sich um und schleppte sich ein paar Schritte in Richtung Treppe.
Ich schloss hinter mir die Eingangstüre. Ein Marienbild hing an der Wand auf der linken Seite. Die Tapete schien aus den siebziger Jahren zu sein.
Die Frau drehte sich wieder um und kratzte sich am Pflaster, das ihr Glasauge an ihrem Gesicht befestigt hielt. „Ein Einzelzimmer oder ein Doppelzimmer?“
Ich dachte an meine Wäsche, den Rucksack und die Videokamera. „Ein Doppelzimmer“, sagte ich schließlich.
Die Frau schaute an meiner Schulter vorbei, als wolle sie hinter mir noch eine weitere Person ausfindig machen.
„Ähm, ich reise allein.“
„Ein Doppelzimmer...“, murmelte sie vor sich hin.
„Also, ich schlafe immer auf der linken Seite.“ Der Mann mit dem fahlen Gesicht rubbelte sich mit dem Handtuch den grauen Bart trocken. „Und im Schrank ist auch nur noch das unterste Fach frei. Sicherlich beabsichtigen Sie nicht, allzu lange zu bleiben.“
„Nein, natürlich nicht.“
„Nun wird es aber Zeit.“ Die alte Frau hielt sich am Türrahmen gestützt. „Wir müssen doch Ihre Sachen holen. Es ist schon dunkel.“
„Oh ja, natürlich.“
„Das ist Ihr ganzes Gepäck?“
„Ähm, ja. Wissen Sie, ich lese gerne viele Comics.“
Die alte Frau begann fürchterlich zu schnaufen, als sie die Klappbox aus dem Kofferraum hob. „Dummes Zeugs. Diese Schlepperei ist irgendwann mein Tod.“
Sie war sehr alt und es widerstrebte mir deshalb, ihr zu widersprechen. Ich schloss den Kofferraum und trottete langsam hinter ihr her.
„Das hätten wir alles schon bei Tageslicht erledigen können.“ Ungeschickt schob sie mit der Klappbox die Eingangstüre auf. „Aber heutzutage reist man ja erst mitten in der Nacht an. Nicht wahr mein Herr?“
„Nun ja...“
„Längst wäre es Zeit für das Abendbrot.“
„Ach“, meinte ich verlegen. „Machen Sie sich wegen mir keine Umstände. Ich beabsichtige auswärts zu essen.“
„Ha. Das könnte Ihnen so passen. Nichts da. Bei mir gibt’s nur Vollpension.“
„Oh.“
„Hier die Karten!“
Der Mann mit dem fahlen Gesicht öffnete seine Speisekarte und nickte mir vom Nebentisch freundlich zu. Seine Haare waren inzwischen trocken. „Na, das ist aber wieder eine Auswahl heute abend.“
„Ja, ich bin auch ganz erstaunt.“
„Das sieht ja sogar noch besser aus als auf der Karte heute Mittag.“
„Jetzt wird es aber langsam Zeit, nicht wahr.“ Die alte Frau rückte ihre Schürze zurecht. „Ich habe noch andere Dinge zu tun, als hier zu stehen.“
„Oh ja, sicher.“ Hastig blätterte ich in der Speisekarte und tippte auf irgendeine beliebige Stelle. „Ich nehme die 738. Halbes Hähnchen mit Reis.“
Sie ballte die Faust. „Soso. Halbes Hähnchen mit Reis. Und das um diese Uhrzeit. Als wenn es sonst nichts zu tun gäbe mitten in der Nacht.“
„Rührend diese Frau, nicht wahr“, meinte der Fahle neben mir, nachdem er seine Bestellung aufgegeben hatte.
„Oh ja“, gab ich zu. „Ich bin schwer beeindruckt.“
„Da will man überhaupt nicht mehr fort.“
„Ja?“
„Sie werden schon sehen. Ich bin schon seit Jahren hier. Hab nichts vermisst.“
Vom Garten hörte ich einen aufgeregten Hahn schreien. „Wird sicherlich noch eine Weile dauern, bis unser Essen fertig ist.“
„Da habe ich keinen Zweifel“, lachte der Mann. „Die alte Frau wird sich für uns wieder alle Mühe geben.“
Ich überlegte, das Zimmer im Obergeschoss aufzusuchen, um nach meinen Sachen zu sehen und setze an, mich zu erheben.
„Interessieren Sie sich für Sport?“ frage der Mann.
„Och“, behauptete ich.
„Wissen Sie, die Radfahrer heute, die müssen ja höllisch aufpassen.“
Ich setze mich wieder.
„Wegen den Dopingkontrollen und so.“
Aus dem Nebenraum hörte ich etwas brutzeln.
„Die dürfen vor den Rennen keinen Sex haben. Wegen dem Viagra, sie wissen schon.“
„Aha“, meinte ich.
„Und rauchen dürfen sie auch nicht.“ Er unterstützte seine Aussage mit einem beharrlichen Nicken. „Sonst findet man das Nikotin bei der Blutuntersuchung.“
„Oh, so streng sind die?“
„Jaja. Aber die kleben sich heimlich Nikotinpflaster unters Trikot. Da guckt ja keiner drunter.“
„Ja, hab ich auch noch nie gehört.“
„Aber Schnaps, das ist schon ok.“
„Is nicht wahr?“
„Doch. Man muss als Radrennfahrer nur regelmäßig trinken. Damit sich der Körper daran gewöhnt und in der Urinprobe keiner mehr was merkt.“
„Donnerwetter!“
Die Schürze der alten Frau war voller Blut, als sie mir das nicht weniger blutige Hähnchen servierte. Ihr Glasauge hatte sich verschoben. Ein Pflaster hatte sich gelöst. „So bitteschön der Herr. Wenn ich darum bitten darf, schnell zu speisen. Ich möchte nicht die ganze Nacht Geschirrspülen.“
„Ich werde mir Mühe geben“, sagte ich und schimpfte innerlich. Es entsprach eher meinem Naturell sehr langsam zu essen.
„Wann möchte der Herr geweckt werden?“
„Um acht. Ich möchte zur Berghütte wandern morgen.“
„Soso. Dann haben wir morgen wohl so einiges vor, was?“
„Bei den Basketballspielern muss man darauf achten, dass sie sich schnell und geschickt bewegen können.“
„Jaja.“ Ich zog mir die Decke über den Kopf und versuchte, den Mann im Bett zu meiner Linken zu ignorieren.
„Deshalb nimmt man auch immer ganz kleine Sportler für die Mannschaften.“
Dann wurde es still. Ich drehte mich um und konnte im Schein des Mondlichts erkennen, dass der Fahle eingeschlafen war. Leise zog ich meine Socken an und schlich zur Türe.
„Es ist noch nicht acht. Legen Sie sich wieder hin“, sagte die alte Frau auf ihrem Stuhl im Flur sitzend, nachdem ich die Türe geöffnet hatte. Sie trug ein Nachthemd und zu meiner Überraschung weiße Tennissocken. „Trauen Sie einer alten Frau etwa nicht zu, Sie rechtzeitig zu wecken? Mein Herr, jetzt bin ich schwer beleidigt.“
„Oh, Entschuldigung.“
So. Einmal Hüttenwanderung Standard.“ Die alte Frau trug meine Jogginghose und eines meiner schwarzen Hemden. Eine unsägliche Kombination. „Oder aber, seit heute im Angebot, die Hüttenwanderung Deluxe.“
„Hm, was ist denn da der Unterschied?“
„Deluxe ist mit Urlaubserinnerungen.“ Stolz zeigte sie mir meine Videokamera.
Stunden waren vergangen.
„Wenn Sie weiter so rennen, hole ich mir gleich den Tod.“
„Oh, Entschuldigung.“
„Eine alte Frau den Berg hinauf hetzen, nur weil der gnädige Herr gefilmt werden will.“
„Bitte nicht im Profil. Da sehe ich nicht so gut aus.“
„Auch noch Sonderwünsche, was?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „So. Jetzt kommt die Vogelperspektive. Sie bleiben hier unten und ich lauf voraus. Das gibt eine tolle Aufnahme, wenn ich Sie von der Hütte aus filme, wie Sie den Berg hochkommen..“
Als ich mich auf den großen Stein setzte, nahm ich erstaunt zur Kenntnis, wie sich die Frau eilig in Richtung Berghütte entfernte.
„Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass ich mir heute den Tod hole“, schnaufte die alte Frau. „Das haben Sie nun davon.“
„Oh, tut mir leid. Das wollte ich nicht.“
„Das hätten Sie sich früher überlegen müssen.“ Ihre Stimme wurde immer schwächer. „Eine Frau in meinem Alter die Berge hochzuhetzen. Nein nein nein, Sie haben noch viel zu lernen, junger Mann.“
„Hm, kann sein.“
„Dafür müssen Sie mir noch eines versprechen, bevor ich diese Welt verlasse.“
„Hm. Na gut.“
„Das ist mein ganzes Gepäck.“ Der Gleitschirmflieger zeigte mir verlegen ein paar Landkarten, die er im Auto noch liegengelassen hatte.
„Soso“, meinte ich. „Dann lassen Sie mich das mal auf Ihr Zimmer tragen.“
„Was für ein Glück, dass ich Ihre Pension gefunden habe. In dem Hotel, für das ich ursprünglich reserviert hatte, hat man mir einen wildfremden Mann mit ins Doppelbett gelegt.“
„Soso“, wiederholte ich. „Was für ein Zimmer wünschen Sie denn?“
„Ein Doppelzimmer“, sagte er und ich konnte an seiner Nasenspitze erkennen, wie schlau er sich dabei vorkam.
„Setzen Sie sich schon mal in den Speisesaal. Ich bringe in der Zwischenzeit Ihre Landkarten ins Zimmer.“
„Oh, vielen Dank. Eine Stärkung kommt mir gerade recht. Ich möchte morgen Gleitschirmfliegen.“
„Was für ein Glück für Sie. Gerade seit heute haben wir Gleitschirmflüge in unserem Ausflugsprogramm“, antwortete ich während ich seine Statur musterte und überlegte, ob mir seine Kleidung, die sich im Schrank des Zimmers 101 befinden musste, wohl passen würde.
Titelbild: PIRO4D / pixabay.com (public domain)