geschrieben 2019 von Lili Kram (Lili Kram).
Veröffentlicht: 05.07.2019. Rubrik: Historisches
Und sie kannten sich doch - Eine Story aus einer Zeit, als Homo sapiens und Neandertaler Nachbarn waren
Als Läuft-ohne-Geräusch wach wurde, sah sie, dass das Lager bis auf die Kinder leer war. ‚Wo sind die Erwachsenen‘, dachte das achtjährige Mädchen. Sie sah ihre Mutter Fliegende-Fledermaus am Feuer und grüßte sie. Das Mädchen stand auf und schaute aus der Tür über den Vorplatz ihrer warmen Hütte, die vor einer Felswand im Norden der heutigen Schweiz stand. In späteren, unvorstellbar anderen Zeiten würde dieser Ort den Namen Schweizersbild tragen.
Es war noch früh am Morgen, und die Atemluft formte vor ihrem Mund eine kleine Wolke. Eine Eiszeit ging gerade zu Ende, und die Gletscher zogen sich in die Hochalpen zurück. Sie sah, wie eine Herde von Rentieren in der wasserreichen Ebene graste. Und geduckt hinter den niedrigen Büschen näherte sich ihnen gegen den Wind ein kleiner Verband von Männern und Frauen. Sie waren mit braun-weißen Adlerfedern geschmückt, und in der Hand hielten alle einen hölzernen Speer mit einer im Feuer gehärteten Feuersteinspitze vorne.
Kurz dahinter sah sie die Jäger aus der nächst gelegenen Höhle mit ihren Körperbemalungen aus Ocker und Aschenkohle gebückt laufen. Der wie sie nomadische Nachbarklan, den sie die Dicken nannten, lebte im Moment zwei Gehstunden entfernt in der tieferen Höhle Kesslerloch. Bei wärmerem Wetter stellten sie Zelte aus Ästen und Fellen auf einem Plateau davor auf.
Häufig gingen die Dicken und die Langen gemeinsam auf Jagd. In vielem sahen die Dicken anders aus: Ihre Körper waren kleiner und gedrungener. Das ließ sie besser der Kälte im Winter trotzen. Durch die dickeren Nasen und die großen Überaugenwülste konnte bei ihnen die eingezogene Luft schneller erwärmt werden. In spätere Zeiten sollten diesen Menschen den Namen Neandertaler erhalten. Dank ihrer geschickten Teamarbeit war die gemeinsame Jagd meist erfolgreich. Die dicken Neandertaler waren gut an das kühlere Klima angepasst. Sie hatten eine helle Haut und rötliche Haare. Direkt in Europa hatten sie sich vor etwa 300.000 Jahren aus der Art Homo erectus entwickelt.
Die drei Hütten, in denen die anatomisch moderneren Langen lebten, standen seit vielen Generationen. Sie waren aus Stoßzähnen und –knochen von erjagten Wollmammuts aufgebaut und mit Mammutfellen abgedeckt. Das Mädchen Läuft-ohne-Geräusch hatte einmal aus der Ferne diese furchterregenden, vor Kraft strotzenden Tiere zu Gesicht bekommen und war davon stark beeindruckt.
Auf einer dünnen Schicht aus nährstoffreichem Humus wuchsen in der Tundra, in der sie lebten, kleine Buchen, Baumfarne, Moos und Flechten. Ihre Aufgabe, Pflanzen auszugraben, war nicht leicht für die Kinder. Gerade unterhalb der flachen Wurzeln blieb die Erde dauerhaft gefroren. Der Boden war übersät von kleinen runden Erhebungen.
In einiger Entfernung wand sich ein breiter Fluss. Das Mädchen Läuft-ohne-Geräusch bedauerte, dass die Kultstelle für ihr wichtiges Wasserritual eine halbe Tagesreise entfernt am Ufer des großen Flusses lag. An dem lauten und schnellen Wasserfall, der sich an einer engeren Felsenstelle mitten im Fluss gebildet hatte, spürten sie die Kraft des Wassers.
Fliegende-Fledermaus, die Mutter des Mädchens, war in dieser Mondphase zusammen mit zwei anderen Frauen für das Sammeln von Feuerholz zuständig. Jede von den drei Frauen band sich eine Holztrage auf den Rücken, und sie überließen das Lager für ein paar Stunden in der Obhut ihrer älteren Kinder. Um sie vor dem Zugriff des Steppenadlers zu schützen, durften die kleinen Kinder nicht ins Freie gebracht werden.
Trockenes Brennholz war in der feuchten Tundra ein seltenes Gut. Die drei Frauen nahmen auf der Suche nach Holznachschub den stundenlangen unsicheren Marsch auf sich.
Für den Klan war es überlebenswichtig, das Feuer an ihrem Lagerplatz in Gang zu halten. Tag und Nacht wachten im Wechsel zwei Mitglieder der Gruppe darüber, dass es am Brennen blieb.
Der Vater von Läuft-ohne-Geräusch hatte ihr eines Abends erklärt, dass es eine der Aufgaben des Feuers war, Raubtiere auf Abstand zu halten, für die sie anderenfalls in der Nacht zur leichten Beute geworden wären. „Außerdem“, sagte er, „wärmt und erleuchtet das Feuer unser Lager. Und was noch dazu kommt, bekommt erjagtes Fleisch auf dem Feuer einen besseren Geschmack und wird besser verträglich.“
Ein wichtiger mythischer Zweck des Feuers war, dass es eine Hilfe dabei, Speerspitzen ihre Härte zu verleihen. Feuer hatte eine zweischneidige mythische Kraft. Auf der einen Seite konnte der Klan nicht ohne ein Lagerfeuer existieren und es ermöglichte ihnen das Leben, andererseits trug es den geheimen Namen Totgeber. Die aktiven Jäger – Männer, wie Frauen – waren die einzigen, denen es erlaubt war, das Feuer bei diesem Namen zu nennen.
Nachdem das Mädchen Läuft-ohne-Geräusch gerade die Gruppe aus Männern und Frauen auf der Jagd gesehen hatte, wusste es was für sie zu tun war: Aufgabe der Kinder im Lager war es, pflanzliche Nahrung, wie Beeren, Pilze, Nüsse und Wurzeln als Beilage zum erjagten Fleisch zu sammeln.
In der Tundra mit ihrem spärlichen Bäumen, Strauchgewächsen, Moosen und Flechten kannten die drei Frauen, wie alle Holzsammler, mehrere windgeschützte Stellen, wo verlässlich Feuerholz zu finden war. Am ersten Platz, an dem sich niedrige Buchen in eine Mulde duckten, war keinerlei trockenes Holz zu finden. Scheinbar war hier gestern der Klan der Neandertaler auf seinem Streifzug durchgezogen. „Schade“, dachte Fliegende-Fledermaus, „die Dicken sind bereits hier gewesen.“ Sie mussten geduldig weiterziehen. Fliegende-Fledermaus stöhnte. In dieser baum- und straucharmen Tundra war es nicht gerade leicht, ausreichend trockenes Feuerholz zu sammeln.
Alles war belebt
Endlich trafen sie hinter einem Hügel auf einen ausgedorrten großen Wacholderstrauch. Als Fliegende-Fledermaus voller Tatendrang in einen Ast griff, den sie mitnehmen wollte, hatte sie das Gefühl einer großen Abwehr, die vom Strauch ausging. Aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen, denn die Langen benötigten dringend das Feuer zum Überleben. Fliegende-Fledermaus wies den Geist des Strauches an, er solle sich nicht so anstellen und nahm gebieterisch alle nachgewachsenen Zweige.
Sie fragte sich, in welches Lager sie in einigen Wochen auf der Suche nach neuen Jagdgründen weiterziehen würden. Mal sehen, wo ihre Nachbarn, die Dicken, dann lagerten.
Die Klans der Langen und der Dicken begegneten sich häufig auf ihren Wanderungen. Beide zogen sie als Nomaden zu wechselnden Nahrungsgründen in einem Umkreis von rund 100 km2. So gravierend die Unterschiede sein mochten, es bestand bei allen ein großes Interesse am Wohlergehen der jeweils anderen Gruppe, ihren Neugeborenen und Verstorbenen.
Diese enge Beziehung zwischen den Menschenspezies bestand bereits über Generationen. Mit der Zeit übernahmen die Dicken einige Neuerungen von ihren Nachbarn, den Langen, die sie ohne Hehl bewunderten. Beispielsweise brachte Ruhelos aus dem Team der Dicken seinem Freund Guter-Erzähler von den Langen diesmal einen geschnitzten Waldelefanten mit, weil er das gute Schnitzen von Guter-Erzähler gelernt hatte. Er war dafür sehr dankbar und schenkte ihm gerne einen Teil seiner Schnitzereien.
Beide Klans hatten gelernt, sich auch in der Sprache der Nachbargruppe zu verständigen. Nach der gemeinsamen Jagd wurde die Beute geteilt. Für die Langen reichte dieses Fleisch aus. Bei den Dicken mit ihrem hohen Energieverbrauch war allerdings der Fleischbedarf größer, und sie mussten zusätzlich noch Jagd auf Kleintiere, wie Schneehuhn und Schneehase, machen.
War die Beute aufgeteilt, kamen die Kinder dazu und spielten zusammen die Jagd nach. Wie alle Kinder lernten sie äußerst schnell, sich zu unterhalten. Sobald später von einem Erwachsenen der Dicken ein bestimmter Pfiff ertönte, stieben sie auseinander und beteiligten sich daran, das Fleisch in ihr jeweiliges Lager zu tragen.
Am liebsten war dem Mädchen Läuft-ohne-Geräusch das Fleisch vom heiligen, starken Höhlenbär. Im letzten Winter, als sie bereits bald vergessen hatte, wie Fleisch überhaupt schmeckt, hatte ihr Vater Großer-Flügel tief in einem Erdloch eine einsame schlafende Bärin entdeckt.
Diesen Glücksfall hatten sie am gleichen Tag die Dicken wissen lassen, damit ebenso die Nachbarn in diesem harten Winter eine Chance zum Überleben hatten. Die Jäger aus beiden Gruppen trugen in Folge voller Stolz Ketten aus Sehnen und Krallen der heiligen Bärin. Die aufwändigste Kette trug natürlich Großer-Flügel, ihr Vater, weil er die Bärin in ihrem Winterschlaf entdeckt hatte.
Den gesamten Nachmittag über hatten alle arbeitsfähigen Mitglieder des Klans gemeinsam alles daran gesetzt, dass die beiden erbeuteten Rentiere am späteren Abend zum Verzehr fertig vorbereitet wären, damit noch am gleichen Abend das Festmahl stattfinden konnte.
Am späten Abend genoss der gesamte Klan an der Feuergrube das erjagte, sorgfältig, aber gleichzeitig rasch ausgenommene und im Feuer gegarte Fleisch von zwei Rentieren. Als Beilage dazu hatte Läuft-ohne-Geräusch mit den anderen Kindern aus ihrem Lager große Mengen von zartgrünen Löwenzahnblättern, Gänseblümchen und Weißklee gesammelt.
Als nach einiger Zeit der Klan gemütlich um das Lagerfeuer saß, erzählte Heilendes Feuer davon, wie er sich bereits seit seiner frühen Kindheit zum Schamanen berufen gefühlt hatte. Die Zuhörer konnten gut verstehen, dass er zunächst darüber tief erschrocken gewesen war. Voller Angst war er als Junge aus dem Lager geflüchtet und hatte eine Zeit in der Wildnis verbracht. Aus der Not, nicht allein überleben zu können, hatte er sich dem Anspruch gebeugt, der tief in seinem Inneren nagte. Seitdem nahm er alle Anforderungen wahr, die ein Schamane zu tragen hat. Das Wichtigste hatte er vom Vater, seinem Vorgänger, erfahren, und ansonsten sagte seine Intuition ihm, was zu tun war. Heute wurde er stark bewundert vom gesamten Klan für die Art und Weise, mit der er die Verantwortung für das Wohlergehen des Klans trug.
Während der Schamane lange Zeit erzählte, ging für die Holzsammlerin Fliegende-Fledermaus von den im Feuer knackenden Ästen des Wacholderstrauches eine ungute Aura aus. Zunächst ließ sie sich nicht davon beirren, das beklemmende Gefühl verstärkte sich jedoch rasch. Der dritte Bissen blieb ihr im Hals stecken. Nach langem Husten und Schlucken blieb sie regungslos am Feuer sitzen. Ihre Gefährten sahen sie voller Sorge an.
Um die Götter für eine Entnahme aus der Natur zu besänftigen, musste der Schamane jedes Mal gegenüber den Geistern der Opfertiere die großen Dankesrituale vornehmen, denn sie hatten sich für ihr Überleben geopfert. Der ganze Klan erhob sich zum Dank an die Natur. Im Gesang, in den alle einfielen, erbaten sie für die Zukunft, dass sich das Jagdwild vielfältig fortpflanzen sollte, so dass sie weiter wohlbehalten überleben könnten. Sie drückten ihre tiefe Dankbarkeit darüber aus, dass sie dank der beiden Rentiere überleben konnten. Am Ende gaben sie in ihrem Gesang der Hoffnung Ausdruck, dass ihr Klan mit vielen Kindern beschenkt würde. Die beiden schwangeren Frauen des Klans waren Mittelpunkt dieses Rituals und wurden hoch verehrt.
Es würde der jungen Läuft-ohne-Geräusch so sehr gefallen, wenn die beiden Klans für ein gemeinsames Essen zusammenbleiben würden. Dann konnte sie endlich das Mädchen Regentropfen bei den Dicken näher kennenlernen, das ungefähr ihr Alter haben musste und mit der sie sich bei jedem Treffen viel austauschte.
Läuft-ohne-Geräusch träumte davon, dass der Tag kommen wird, an dem die Langen und die Dicken die Nahrung am gemeinsamen Feuer zubereiteten und zu sich nahmen. Andersherum befürchtete sie, dass den Dicken die Nähe bei einem gemeinsamen Essen nicht behagen könnte. Zunächst wollte sie es ihrem Vater Großer-Flügel vorschlagen, weil sie ihm vertraute. Wenn er zustimmte, dann würde sie den Mut für den Vorschlag vor dem gesamten Lager haben.
Ihre Mutter Fliegende-Fledermaus ihrerseits hielt sich diesmal bei den Ritualen völlig abseits von der Gruppe. Diesmal konnte sie nicht daran teilnehmen. Der gerade verbrennende Ast des Wachholderstrauchs, den sie gesammelt hatte, zog ihren Blick an. Sie hatte das Gefühl, als ob er sie aufhalten wollte. Voller Sorge erhob sich Heilendes-Feuer, der Schamane im Klan der Langen. Er wusste, dass er das nicht zulassen konnte und setzte sich neben Fliegende-Fledermaus.
Sie erzählte ihm in wenigen Worten von der Abwehr des Strauchgeistes. Für die damaligen Menschen war alles in ihrer Welt mit einem Geist beseelt, seien es lebende Geschöpfe, Pflanzen, Wasser, Steine oder die Sonne. Für den Schamanen war das ein alltägliches Problem.
Der schamanische Seelsorger war hier mit seinem Heilwissen gefragt. Was er vor allen Dingen an seinen Aufgaben als Schamane für den Klan liebte, war das Zaubermus, mit dem er leichteren Zugang zu der Anderwelt der Geister erhalten konnte.
Wenn möglich, stand eine große Portion für den Schamanen Heilendes-Feuer bereit, für den Fall, dass er eine spontane Heilzeremonie vornehmen musste. Das Mus bestand aus überreifen Äpfeln und enthielt nicht wenig Alkohol.
Niemand außer dem Schamanen durfte diese heilige Speise mit alkoholisiertem Zaubermus zu sich nehmen. Keine andere Person hätte das auch jemals gewagt, denn es war klar, dass nur Heilendes-Feuer das Wissen und die Macht besaß, richtig damit umzugehen.
Heilendes-Feuer ging erfreut in sein Heilzelt und nahm eine große Portion der heiligen Speise zu sich. Dann sang und tanzte er lange Zeit, bis der Geist des Wacholderstrauches zu ihm kam. Der Alkohol im Zaubermus tat seine Wirkung. Dem Schamanen war zwar schwindelig, er interpretierte dieses Gefühl jedoch als Kraft des Strauchgeistes. Er war sich sicher, den Kontakt herstellen und seine Aufgabe wahrnehmen zu können. Er ging zum Lager zurück, nickte Fliegende-Fledermaus zu, und sie folgte ihm in sein Heilzelt.
Dort vollzog er die notwendige Zeremonie mit dem Ritualgerät in der Hand, dem Lochstab, an den Streifen aus Birkenrinde gebunden waren. Schwankend schaffte er es, seine Hand auf die Stirn von Fliegende-Fledermaus zu legen, wodurch er ihren Geist mit dem Geist des Strauches verbinden konnte. Sie wussten beide, dass der Strauchgeist weiterhin noch wütend über das Wegnehmen der Äste war. Der Schamane bat den Geist des Wacholdergebüsches um Verzeihung.
Er fühlte sich nicht wenig betrunken, so richtig ruusch, war aber sicher, dass sein zauberlicher Schwindelzustand für die Heilung nur förderlich sein konnte. Nun fühlte er deutlich, dass der Ärger sich beim Strauchgeist gelegt hatte.
Heilendes-Feuer war völlig erschöpft, aber zufrieden, dass sich auch diesmal wieder sein Beitrag für den Klan gelohnt hatte, denn Fliegende-Fledermaus konnte erneut vollständig am Leben im Klan teilhaben. Ein solches Opfer für das Wohlbefinden ihrer Gemeinschaft gefiel dem Schamanen jedes Mal richtig gut.