geschrieben 2019 von Elijah A. Chain (Elijah A. Chain).
Veröffentlicht: 26.04.2019. Rubrik: Kinder und Jugend
Die Route
Die Route
Von Elijah A. Chain
Als Ryan auf sein Handy sah, war es bereits an. Er war es nicht, der den Knopf an der rechten Seite drückte, um es zu starten, es war einfach schon die ganze Zeit an gewesen. Die offene App für Karten und Navigation (Warum war die Navigation gestartet?) wollte Ryan mit einer Wischgeste nach oben beenden, aber auch nach mehrmaligen Versuchen gelang es ihm nicht. Das scheiß Ding muss sich aufgehängt habe. Aber warum ließ sich das verdammt Handy jetzt auch nicht ausschalten? Ryan beschloss, dass er das Handy erstmal wieder in seiner Tasche verstauen sollte, um dem Unterreicht wieder zu folgen. Er konnte gar nicht in Worte fassen wie sehr ihn der Biologieunterricht von Frau Klein langweilte. Es vergingen noch quälende 20 Minuten, bis er endlich dem Gelaber über aerobe Dissimilation entgehen konnte. Auf dem Gang blickte Ryan erneut auf sein Handy. Noch immer war die Navigation der Karten-App gestartet, noch immer ließ sie sich nicht abschalten. Mit einem leichten Anflug von Panik stellte Ryan fest, dass sich seine Position auf der Karte geändert hatte. Er presste zwei Finger auf das Display und schob sie langsam zusammen. Normalerweise hätte das aus der Ansicht gezoomt und ihm erlaubt zu sehen, wohin der markierte Weg ihn führen wollte. Natürlich funktionierte das auch nicht. Hätte ihn auch gewundert. Wollte sein Mobiltelefon ihn irgendwo hinführen? Vielleicht war das Handy ja sein Weg zum Glück geworden oder in seinen Untergang. Ryan lachte auf. Er war kein gläubiger Mensch, glaube nicht an das Schicksal. Seine Mutter schleppte ihn früher jeden Sonntag in diesen bescheuerten Anzügen mit in die Kirche, wo er Predigten über sich ergehen lassen musste, die fast so langweilig waren, wie die Predigten von Frau Klein über Zellatmung.
Aber was wollte sein Handy jetzt von ihm? Er verabschiedete sich von seinem besten Freund Marc und ging der Route nach. Nicht ahnend, welche Veränderung sie in seinem Leben bewirken würde.
Drei Straßen weiter hatte die Route noch immer kein Ende und Ryan fragte sich, ob er sich von seinem Handy wirklich weiter durch sein Heimatdorf Neubrunnen führen lassen sollte.
Neubrunnen war ein überschaubares 600-Einwohner-Dorf mit einer Schule, in der sich die Kinder langweilten, einer Kneipe, in der deren Eltern sich Abends die Birne breit soffen und einem Rathaus, in der Bürgermeister Rheinschmitt schon seit vielen Jahren regierte und sich selbst viel zu wichtig nahm. Als Ryan in die Mittelhoverstraße einbog, immer der roten Linie auf seinem Display nach, erinnerte er sich an die letzte Wahl in der Rheinschmitt groß verkündete das Dorf in die Zukunft zu führen und während seiner Rede so sehr in Wallungen geriet, dass er von der schäbig zusammengebauten Bühne fiel und sich seinen Knöchel verstauchte. Trotz dieses Fauxpasses gewann Rheinschmitt mit schwindelerregender Mehrheit gegen seine Kontrahentin Sarah Kurz. Dieses verdammte Dorf mit den verdammten Saufköpfen, die immer der gleichen Routine nachgingen, kotzte Ryan an. Er wollte mit aller Kraft aus Neubrunnen raus und nach Berlin Schauspiel studieren. Als ob die Götter, die sein Handy kontrollierten, ihn gehört hätten, führte der nächste Abschnitt seines Weges aus Neubrunnen heraus in den nahegelegenen Wald, der Ryan schon immer einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Als er kleiner war hatte er sich einmal in diesem Wald verlaufen. Als es dunkel wurde beschloss der Junge sich ein Versteck für die Nacht zu suchen. Als man den armen 8-Jährigen am nächsten Morgen unter einem Felsvorsprung herauszog, zitterte er am ganzen Körper und war scheißgebadet. Irgendetwas war in diesem Wald was Ryan so verschreckte, dass er noch Wochen später die schlimmsten Albträume hatte. Damals ging es auch wieder los mit dem Bettnässen, was er sich in den folgenden Jahren mühselig abtrainieren musste.
„Geh in den Wald“, schien ihm sein Handy zu sagen und er spürte einen dicken Kloß in seinem Hals, den er nur mit viel Mühe schlucken konnte.
„Hey Ryan! Ryan, warte doch!“ Von hinten hörte er eine Stimme. Susan Kurz, die Tochter von Sarah Kurz holte ihn in schnellen Schritten ein. Sie waren in der gleichen Stufe, hatten aber noch nie wirklich miteinander geredet.
„Susan, was machst du denn hier und warum bist du nicht in der Schule?“
„Das Gleiche könnte ich dich auch fragen.“ Sie zögerte. „Folgst du auch dieser Route auf deinem Handy?“
Seine Schläfe begann zu zucken wie sie es immer tat, wenn Ryan etwas wunderte. „Ja, aber ich wusste nicht, dass sie auch auf anderen Handys erschienen ist. Schon merkwürdig, was?“
„Das ist sie auch nicht. Ich habe mich bei meinen Freundinnen umgehört. Nur ich hatte diese Route auf dem Handy und du, wie es aussieht. Lässt sich deine auch nicht schließen?“
„Nein. Ich müsste das verdammte Ding gegen die Wand werfen damit es mich in Ruhe ließe. Haben wir genau den gleichen Weg?“ Ryan sah ihr das erste Mal wirklich ins Gesicht. Nicht die Hübscheste mit ihren Hasenzähnen und dem ausgefransten Pony aber wenn sie lächelte, konnte sie die meisten Jungs bezaubern. Susan gehörte nicht zu den beliebtesten in der Stufe. Soweit Ryan das beurteilen konnte, eher zu den unteren 20%. Im Gegensatz zu ihm hatte sie aber schon Beziehungen gehabt.
„Ich bin dir eine Weile gefolgt und habe deine Schritte mit einem Weg abgeglichen. Es ist der gleiche.“ Sie lächelte und ihre Hasenzähne blitzten im Sonnenlicht.
Ryans Schläfe pulsierte und der drückte mit seiner flachen Hand dagegen, um ihr Einhalt zu gebieten. „Alles in Ordnung, hast du Kopfschmerzen?“
„Geh schon“, entgegnete Ryan trocken.
Die beiden sahen zum Wald rüber, der mit seinen dichten, hohen Bäumen bedrohlich zu ihnen zurück zu schauen schien. Trotzdem fühlte sich Ryan jetzt besser, der Wald erschien weniger beängstigend. Es war ein herrlicher Tag, die Sonne schien und Susans Anwesenheit lockerte die Angelegenheit ungemein auf.
„Also“, sagte er langsam,“ sollen wir los? Sonst finden wir raus wohin uns dieser Weg führen wird.“
Und sie betraten den Wald nebeneinanderlaufen und schnatternd als wären sie schon lange die besten Freunde.
Susan stellte sich als angenehme Gesprächspartnerin heraus. Sie war witzig und klug und grinste mit ihrem breiten Lächeln. Warum hatten sie früher nie miteinander geredet? Jetzt schien ihm die Gruppenbildung in der Schule weit weg und idiotisch. Nie hätte er sich getraut in den Kreis der Mädchen zu gehen und eine von ihnen anzusprechen. Lisa Schneider, eine Blondine mit ordentlich Holz vor der Hütte, hatte ihn schon lange in ihren Bann gezogen. Das Problem war allerdings, dass sich Lisa Schneider immer mit einer ganzen Armee aus Mädchen umgab, die sie schlecht behandelte und die sich schlecht behandeln ließen, um ein bisschen im Dunst ihrer Beliebtheit mit zu schwelgen. Umgeben von ihren Mädchen verlor Ryan stets den Mut sie anzusprechen. Was besonders ärgerlich war, als die Schule letztes Jahr einen Schulball nach amerikanischem Vorbild organisiert hatte. Die Jungs sollten sich eine Begleitung aussuchen und dann erwartete die Pubertierenden eine geschmückte Sporthalle mit einer Band, die Softrock spielte. Er hatte sich fest vorgenommen Lisa zu fragen ihn zu begleiten, trotz ihrer Leibwächter. So sehr er sich vorher Mut machte und sich von seinem Kumpel Marc gut zusprechen ließ, er verebbte wie eine Welle, die ihre Zerstörungskraft brach, bevor sie den Strand erreichte und nur noch milde den Sand ein paar Zentimeter nach hinten und dann wieder nach vorne schob. Von zittrigen Knien bis zu schwitzigen Händen, der Gang zur Clique gestaltete sich als Todesmarsch wie der eines verurteilten Mörders, den der elektrische Stuhl erwartete. Letzten Ende ging er ohne Begleitung zum Ball und sah betrübt, wie sich Lisa mit Phil Flouder amüsierte. Und wie er so alleine am Rande der Tanzfläche auf den Zuschauertribünen saß (Marc hatte seine Freundin von einer anderen Schule mitgebracht) beneidete er die Erwachsenen, die sich mit Alkohol Mut antrinken konnten, wodurch sie ungehindert mit allen Frauen sprechen konnten. Zumindest erschien es ihm damals so. Auch Ryan würde noch lernen, dass dazu weit mehr gehörte als ein kräftiger Schluck aus einem Flachmann.
„Wohin denkst du führt uns die Navigation?“ Susan lief entspannt zu seiner Rechten, mit einer Hand hielt sie lässig die Halterung ihres dunkelblauen Eastpaks.
„Vielleicht ist das so eine Art verspäteter Aprilscherz.“ Ryan blieb stehen. „Oder Außerirdische wollen uns erst ein paar hundert Meter in den Wald locken, um uns danach auf ihr Mutterschiff zu teleportieren. Dann machen sie grässliche Versuche mit uns und zwingen uns ihnen zu dienen.“
Oh Gott, jetzt hatte er es versaut. Bestimmt fand sie seinen Scherz nicht lustig und hielt ihn für einen Freak. Warum nur hatte er das gesagt? Warum?
„Ich denke eher, sie wollen uns zu ihren Anführern machen. Wir können ihnen befehlen die Schule niederzubrennen. Nie wieder Physik bei Dr. Chain!“
Erleichtern lachte Ryan los. Und auch Susan lachte los. Die Sonne schien sachte durch die Blätter der hohen Bäume und hinterließ ein unregelmäßiges Muster auf ihren Gesichtern. Sie war wirklich schön! Nicht schön wie die Topmodels, die man von Zeit zu Zeit im Fernsehen sieht. Sie war es auf ihre ganz eigene, fast schon unschuldige Art.
„Aber jetzt mal ehrlich, wohin denkst du werden wir geführt?“
Ryan sog tief die frische Waldluft in seine Lungen. „Ich bezweifle, dass uns dieser Weg irgendwo hinbringt. Vielleicht ist es einfach nur ein Softwarefehler und morgen lesen wir in den Nachrichten, dass tausende junge Leute von ihren Handys in die Pampa geführt worden sind.“
„So, glaubst du das?“ Sie gingen weiter der Route nach. Dem roten Weg ins Ungewisse. „Ich denke ja, dass wir am Ende des Weges einen Schatz finden werden, so wie am Ende eines Regenbogens.“ Sie lächelte ihr bezauberndes Lächeln und Ryan konnte kaum die Augen von ihr lassen. Er blickte einen Augenblick zu lange, denn er übersah eine Wurzel, die sich ihren Weg von der einen Seite des Weges zur anderen schlängelte und fiel bäuchlings auf den festgetretenen Wanderpfad. Er schrie auf, sie lachte, sie beide lachten. Nachdem Susan ihm aufgeholfen hatte fuhr sie mit ihren Spekulationen fort. Von Goldtöpfen zu Hinterhalten von Geheimagenten über den Ursprung der Welt. Alles was man sich ausdenken konnte war dabei. Jeden andere Junge seiner Stufe hätte bei dieser blühenden Fantasie den Eindruck gewonnen, bei ihr seien nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ryan hingegen klebte wie gebannt an ihren Lippen und folgte jeder ihrer wilden Theorien. Susan hatte eine gewisse Naivität an sich. Nicht dieses kleine Dummchen-Naivität aber etwas Unschuldiges, das durch ihr sonniges Gemüt ein warmes Gefühl in ihm auslöste.
„Du sag mal …“, fing sie plötzlich an und Ryan spürte wie Blut in sein Gesicht lief und es sich in Folge dessen rot färbte. Hoffentlich sah sie ihn jetzt nicht direkt an. Zum Glück tat sie das nicht, sie blickte den Waldweg entlang auf den Boden. Sie zögerte kurz als wäre es ihr unangenehm die nächsten Worte auszusprechen. „Mit wem bist du damals zum Ball gegangen?“ Er sag zu seiner Wegbegleitung rüber, die sehr vom Boden angetan zu sein schien und nicht aufblickte.
„Mit niemandem. Ich saß gelangweilt am Rand während die Band Songs von Lord Huron verschandelte. Mit wem warst du denn da?“
„Mit Tom Schuster. Er hatte mich gefragt und naja, du weißt schon.“
Sofort begriff er was Susan sagen wollte. Tom Schuster war Sportler und äußerst beliebt in der Stufe. Sie wäre verrückt, wenn sie angelehnt hätte. Aber warum fragte sie das? Ihm kam der Gedanke, dass sie vielleicht lieber mit ihm dahin gegangen wäre. Dieser Gedanke wurde vom Nächsten gejagt. War Susan in ihn verliebt? Hatte sie vielleicht dafür gesorgt, dass ihre Handys diese komischen Sachen taten damit sie allein mit ihm sein konnte? Jetzt wo Ryan darüber nachdachte erschien es ihm gar nicht mal so abwegig. Warum sollte sein Handy eigentlich diese komische Route anzeigen und warum wurde er von Susan Kurz begleitet, einem Mädchen, mit der er nie geredet hatte. Und ausgerechnet in dieser Situation kam sie auf den Schulball zu sprechen? Das erschien ihm alles sehr merkwürdig und hatte weniger mit Schicksal zu tun, als mehr mit einer Masche ihn zu bezirzen. Ja, Susan musste ihn in den Wald gelockt haben und gleich würde sie ihm ihre Liebe gestehen. Sie müssen nur den Wald bis zum Ende durchquert haben und bei der großen Wiese herauskommen. Ungefähr dann erwartete er auch den Sonnenuntergang und es gab nichts Romantischeres als den Sonnenuntergang. Er hatte ihren Plan durchschaut und sie überführt.
„Dieser Ballabend hat mein Leben zerstört.“
Mit allem Möglichen hatte Ryan gerechnet, nur nicht damit. Susan hielt inne und begann zu erzählen:
„Nachdem meine Mum die Wahl gegen diesen selbstgefälligen Ekel verloren hatte, hat sie mir verboten auf den Ball zu gehen. Ich weiß nicht wieso, ich denke aus Frust und damit konnte sie noch nie wirklich umgehen. Tom hat mich trotzdem abgeholt und ist mit mir zur Schule gefahren. Wir hatten einen zauberhaften Abend. Mich hat überrascht, dass er doch so ein Gentleman war und mich wie eine echte Lady behandelt hat. Als er mich ein paar Stunden später wieder nach Hause brachte und mich überredete ihn noch mit zu mir nach Oben zu lassen, hat ihn meine Mum dabei erwischt, noch bevor er die Treppe hochhuschen konnte. Sie hat ihn angeschrieben, er solle die Finger von ihrer Tochter lassen und ist auf ihn losgegangen. Hat ihm gegen die Brust gehämmert und geschrien. Immer lauter ist sie geworden. Und da hat Tom ausgeholt und ihr eine verpasst. Sein Schlag muss ziemlich heftig gewesen sein, denn sie fiel auf den Boden und war erstmal nicht ansprechbar.“ Sie holte tief Luft und fuhr fort: „Naja und dann habe ich geschrien und geweint und ihm gesagt er solle sich verpissen. Das tat er dann auch und ich half meiner Mum wieder auf die Beine. Wir lagen uns in den Armen und haben beide geweint bis wir keine Tränen mehr hatten. Es war furchtbar.“
Genauso erschlagen wie Sarah Kurz von Toms Schlag fühlte sich Ryan von Susans Worten. Nichts mit Liebe, nichts mit Plan. Der Kloß, den er vor Betreten des Waldes dachte verschluckt zu haben, kam aus den Untiefen seiner Kehle wieder nach oben gekrabbelt. Dieser Kloß nahm sich ein Beispiel an Andy Dufresne, der in ‚Die Verurteilten‘ einen engen Kanal aus Scheiße und Abfällen hindurch in die Freiheit robbte. Nur robbte sein Kloß nicht in die Freiheit, sondern in die Mitte seines Halses wo er sich verkantete und sich nicht mehr lösen wollte. Tschau Andy Dufresne, jetzt verreckst du in diesem Rohr aus Fäkalien und Spucke.
„Am nächsten Schultag habe ich mich gar nicht richtig in die Schule getraut. Meine Mum ist was sowas angeht aber rigoros. Sie sagte, wenn mich dieser Tom auch nur schief ansieht reicht sie die Klage ein, die sie noch am selben Abend geschrieben hatte. Ich glaube sie hatte sie nur noch nicht abgeschickt, weil sie eine derartige Aufmerksamkeit nach ihrer Wahlniederlage nicht haben wollte. Tom hat mich auch nicht angesehen, aber alle anderen auf der Schule.“
Ryan fiel es wie Schuppen von den Augen. Irgendjemand hatte das Gerücht verbreitet Susan sei eine Schlampe und würde jedem dahergelaufenen Loser in ihr Bett lassen. Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Schule, aber Ryan hatte zu dieser Zeit andere Sorgen, denn sein Chemielehrer wartete noch auf ein sehr umfangreiches Referat. Er beteiligte sich ohnehin nicht gerne am Buschfunk und ließ die Sache einfach auf sich beruhen. Er hatte nur eine Zweiminus bekommen. Mister White dieser Arsch konnte ihn einfach nicht leiden. Nächstes Jahr konnte er Chemie abwählen und zum Teufel, dass würde er auch tun.
Noch immer war Ryan nicht in der Lage zu sprechen. Zu schwer wogen ihre unerwarteten Worte, die ihn wie der Schlag einer Bowlingkugel getroffen hatten. Es war ihm unbegreiflich warum sie das alles erzählte. Warum ihm, warum jetzt? Weg was ihre kindliche Naivität und ihr lockeres Gemüt. Susans Schultern hingen schlaff wie ein nasser Sack an ihr herunter während sie weiterhin vor sich in die Leere schaute.
„Seitdem habe ich keinen ruhigen Tag mehr an der Schule. Alle reden über mich sobald ich ihnen den Rücken zudrehe. Sogar Sabine habe ich mit Lisa tuscheln hören und von ihr hätte ich das nie erwartet. Gott, warum habe ich ihr nur vertraut? Sie war meine beste Freundin und als alles den Bach runter ging hätte ich nie im Leben daran gedacht, dass sie schlecht über mich redet. Kannst du dir das vorstellen Ryan? Nein, natürlich nicht, du lebst in deiner kleinen perfekten Welt ohne Sorgen!“
„Jetzt hör aber mal auf“, unterbrach er sie. Diese plötzliche Anschuldigung hatten seinen Stimmbändern abrupt ins Schwingen gebracht. „Wer sagt denn, dass meine Welt perfekt ist? Bin ich beliebt? Nein. Bin ich besonders gutaussehend oder sportlich? Nein! Hatte ich je in meinem Leben eine Freundin? NEIN!“
Die letzten Worte schrie Ryan in den Wald und seine Stimme wurde von gleich mehreren Stellen unschön zurückgeworfen, was ihren Effekt auf grässliche Art verstärkten. So gemein wollte er eigentlich nicht sein. Entschuldigen wollte er sich dafür aber auch nicht. Immerhin hatte sie ihn zuerst angegriffen.
Eine volle Viertelstunde liefen sie schweigend nebeneinander her und keiner der beiden traute sich noch etwas zu sagen. Sie starrten nur auf ihre Handys, die ihnen weiterhin den Weg in die Hölle zeigten. So schien es zumindest, denn die Stimmung lag schwer wie eine Decke über den beiden, durch die man nur schlecht Atmen konnte. Auch der Wald zeigte sich mit seinen finsteren Winkeln und Spinnenweben wieder von seiner hässlichsten Seite. Ryan musste sich zunehmend konzentrieren den Blick nicht zu lange auf dem Unterholz zu lassen. Er hatte Angst, die Dämonen seiner Kindheit kämen wieder. Er war felsenfest davon überzeugt, irgendjemand oder besser irgendetwas hatte ihn damals durch den Wald gejagt. Nein, gesehen hatte er ES nicht aber gehört und das sehr deutlich. Er war wie der Junge, der sich schnell unheimliche Geschichten ausdachte und sei es, um die Aufmerksamkeit der Erwachsenen auch nur eine kurze Zeit auf sich zu ziehen. Nein, seine Fantasie war eher beschränkt und er investierte seine freie Zeit, von der man als Kind ja reichlich hat, lieber in das Nachspielen von Szenen aus ‚Herr der Ringe‘. Am liebsten war er Aragorn, der werdende König von Gondor. Zuerst war er ein Waldläufter, ein Underdog, den keiner auf dem Schirm hatte und zwei glorreiche Schlachten und ein mystisches Schwert später war er König der Menschheit. In gewisser Weise war Ryan wie Aragorn, dachte er. Auch er würde aus Neubrunnen, einem Ort, dass kein Schwein kannte wie aus dem Nichts auf der Bildfläche erscheinen und der berühmteste Schauspieler des Landes werden. Da war sich Ryan sicher.
Schweigend liefen sie nebeneinander und das Ende des Waldes war bald erreicht. Danach würde die große Wiese auf sie warten und auch der Sonnenuntergang. Susan war die erste, die die Stille durchbrach. Ihr Worte durchschnitten die warme Sommerluft. „Tut mir leid was ich gesagt habe Ryan.“
„Kein Thema“, entgegnete er mit einem aufgezwungenen Lächeln. Er wollte nicht weiter über diese betrüblichen Themen sprechen, aber er vergaß sie sein Lebtag nicht mehr. „Sag mal“, setzte er fort, „glaubst du wir kommen noch irgendwann am Ende des Weges an?“
„Vielleicht wenn wir mal alt und grau sind“
„Ich trag dich dann aber nicht!“
„Wie kommst du drauf mich tragen zu müssen?“
„Naja, weil du ein Mädchen bist und so …“
„Was hat das denn damit zu tun, dass ich ein Mädchen bin? Du Arsch.“
Böse war Susan ihm trotz der Beleidung, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte nicht. Sie lachte und dann lachte er und damit waren die ernsten Worte von vorhin wie weggepustet. Sie lachten bis sie keine Luft mehr hatten und die Route erschien ihnen wie der gelbe Ziegelsteinweg, den Dorothe in ‚Der Zauberer von Oz‘ beschritt. Eigentlich war der es ja auch ein schöner Tag und es hätte Ryan nicht überrascht, wenn ein Blechmann am Wegesrand stand und ihn um ein Herz gebeten hätte.
Die beiden Umherwandernden plauderten ausgelassen über die Schule und wie doof sich ihre Lehrer und Mitschüler oft verhielten. „Weißt du noch“, erinnerte sich Susan, „als Frau Klein mit uns Frösche sezieren wollte und Emilie aufgesprungen ist, um die bereits toten Frösche zu retten. Hatte sie gedacht die schlafen nur? Sie hatte sich die Packung voller Leichen geschnappt und ist mit ihnen rausgerannt um sie draußen frei zu lassen. Wie sie wohl geschaut haben muss als sie 20 tote Frösche auf den Schulhof kippte?“ Sie prustete bei der Erzählung. „Danach musste Emilie alle Leichen wieder einsammeln und hat einen Monat Nachsitzen aufgebrummt bekommen.“
„Das hat sie auch verdient“, entgegnete Ryan entrüstet. „Endlich mal was Spannendes in Biologie und Emilie machte es und kaputt. Die virtuelle Sezierung war auf jeden Fall nicht der Hammer. Sie war stinklangweilig!“
„Ja, das war sie“, bestätigte Susan und verzog das Gesicht.
Durch ihr heiteres Geschnacke wäre ihnen um ein Haar nicht aufgefallen, dass der Wald sich lichtete und man bereits die ersten Gräser erkennen konnte. Sie waren geradewegs von der einen Seite, auf der Neubrunnen lag, bis zur anderen Seite, die in die Lotherwiese mündete, gelaufen. Selbst ein guter Wanderer hätte dafür mindestens 2 Stunden gebraucht. Sie waren in knapp 3 Stunden durchgekommen und es wurde in der Tat bereits dunkler. Hinter einem Hügel konnten sie die Sonne sehen, die sich in ihren letzten Zügen befand, bevor sie am Horizont verschwinden sollte. Der Weg, den sie genommen hatten, teilte sich an der Lotherwiese und führte südlich am Wald entlang zurück nach Neubrunnen (eine schöne Wanderrute für lange Sonntagnachmittage). In westlicher Richtung, der untergehenden roten Sonne entgegen, führte der Weg nach Friedrichsheim. Es war die nächstgelegene größere Stadt und die Einwohner von Neubrunnen erledigten dort ihre Wocheneinkäufe. Mit dem Auto schaffte man die Strecke in einer halben Stunde, konnte seine Einkäufe erledigen und war in eineinhalb Stunden wieder in Neubrunnen, wenn man es darauf anlegte.
Unschlüssig welchen Weg sie gehen sollten, denn auf ihre Handys hatten sie schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen (nicht, dass es viele Abzweigungen unterwegs gegeben hätte), holten sie dies nach. Es sollte das Ende ihres gemeinsamen Weges sein.
„Gut, auf diesem Weg kommen wir zurück und sind, wenn alles gut geht, vor 9 Uhr wieder zuhause“, bemerkte Susan und drehte sich in südliche Richtung.
„Moment, mein Navi zeigt an, dass wir weiter nach Westen gehen sollen.“
„Rede keinen Unsinn!“ Sie wollte ihm nicht glauben und nahm ihm sein Handy aus der Hand. „Offenbar trennen sich hier unsere Wege“
„Ja, scheint so.“
Ryan konnte es nicht so recht fassen. Die ganze Zeit, von der Schule bis hier her, hatten sie die gleiche Route. Wie konnten sie sich trennen? Gerade begann Susan ihm zu gefallen. Nicht auf eine ‚Lass uns Freunde sein‘-Art, nicht auf eine ‚Komm doch Samstag mal vorbei und wir schauen uns das Deutschlandspiel an‘-Art. Nein, ihr Lächeln hatte ihn völlig in den Bann gezogen. Er wollte weiter mit ihr reden, weiter mit ihr lachen und dabei weiterhin die Möglichkeit haben ihr von der Seite unbemerkt Blicke auf ihr süßes Profil zuwerfen zu können.
Tatsächlich hatte er während der letzten halben Stunde gedacht, dass dieser Weg, ihr Weg, dazu da war, dass sie aufeinandertreffen. Dass sich hier die Chance bot, die in der Schule niemals zu Stande gekommen wäre. Nie war sie ihm wirklich aufgefallen. Selbst als diese hässlichen Schlampengerüchte aufgetaucht sind, reichte es nicht, seine Aufmerksamkeit länger als 2 Minuten auf Susan Kurz zu lenken. Und was war nun? Sie hatten Stunden zusammen verbracht und sich dabei auf eine innige Art kennen gelernt, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Nein, er wollte sich jetzt nicht von ihr trennen. Er wollte mit ihr zurück nach Neubrunnen gehen und dann am nächsten Tag mit ihr zur Schule und von der Schule Heim und den Nachmittag mit ihr verbringen und und und…
„Naja Ryan, ich denke ich sollte mich dann mal auf den Weg machen. Es wird dunkel und ich darf nicht all zu spät nach Hause kommen. Meine Mum macht sich bestimmt Sorgen. Ich habe ihr nichts von meinem Ausflug erzählt, weil, naja mein Handy nicht funktioniert, aber wem sage ich das, deins funktioniert ja auch nicht.“
Susan machte einen nervösen, fast scheuen Eindruck und scharrte mit den Füßen auf dem sandigen Boden. Sie sah ihn nicht an während sie mit ihm sprach. War ihr die Trennung auch unangenehm? Wollte sie, dass er sie begleitete? Warum sagte sie es dann nicht? Auch der Gedanke sie allein in den Wald zurück gehen zu lassen, bereitete ihm Sorge. Sollte er weiter seiner Route folgen oder sich ihr anschließen? Andererseits machte der Gedanke, im dunklen im Wald zu sein, ihm mächtig zittrige Knie. Selbst wenn sie dabei wäre, keine zehn Pferde würden ihn nachts wieder in diesen Wald bekommen, niemals! Jetzt wo Ryan an das Monster aus dem Wald dachte, kam ihm der Gedanke Susan auch nicht allein mit dem Wesen aus dem Wald zu lassen.
„Gut“, sagte Ryan zögerlich, „dann trennen sich hier unsere Wege. Eins muss ich dir aber noch über diesen Wald sagen…“, begann er ihr zu erklären bis er von Susan unterbrochen wurde:
„Denkst du wirklich, dass sich zwischen den Bäumen ein Mörder oder Monster versteckt?“ Ryan konnte es nicht fassen. Konnte Susan Gedanken lesen? Er merkte wie seine Schläfe zu pochen anfing. Offenbar sah man ihm sein Erstaunen an, denn Susan fuhr fort:
„Jetzt tu mal nicht so, als ob das ein Geheimnis wäre! Jeder weiß, dass du damals im Wald verloren gegangen bist. Das ist ein kleines Dorf, die Menschen reden.“
Damit hatte Ryan nicht gerechnet. Er war fast ein bisschen beleidigt. Zwar sprach sie nicht mit herablassendem Ton, aber Ryan interpretierte ihr Grinsen als Beleidigung. Wie konnte sie sich über seine Ängste lustig machen? „Jetzt hör mal…“, fing er an, aber Susan unterbrach ihn erneut. „Schon gut, wir haben doch alle vor irgendetwas Angst. Deine ist wenigstens ein Kindheitstrauma. Ich hingegen habe Angst vor Schnurrbärten, nennt sich Pogonophobie und traue mich nicht mehr in die Schule zu gehen.“
„Kein Witz?“ Ryan musste sein Lachen zurückhalten. „Pogogonophobie?“
„Pogonophobie“, berichtigte Susan und dann brachen die Dämme und ihr Lachen überflutete die stille Wiese, wobei die Lawine alles Schlechte mit sich riss. Gott, sie war so hübsch in diesem gold-roten Licht, dass ihr auf die eine Seite ihres Gesichtes schien. In Ryans Brust wurde es ganz warm. Ein Sie streckte ihm die Hand hin, um ihm Lebwohl zu sagen. Ryan ergriff und schüttelte ihre warme und weiche Hand. „Viel Glück auf deinem Weg.“
„Ja, dir auch“ Und sie liefen in getrennten Wegen auseinander. Das Schicksal hatte unterschiedliche Routen für sie vorgesehen!
Susan hatte die warme Sonne im Nacken, als sie den Weg Richtung Neubrunnen einschlug. War das gerade alles wirklich passiert? Hatte sie wirklich so viel Zeit mit Ryan verbracht? Ihr Atem ging schwerfällig und unregelmäßig. Nicht von der beachtlichen Strecke, die die beiden hinter sich gebracht hatten, nicht wegen des Weges, den sie noch vor sich hatte. Sie vermisste Ryan einfach. Warum nur hatte sie ihn diesen Weg gehen lassen? Ein Blick auf ihr Handy verriet, dass sie tatsächlich zurück in ihr 600-Einwohner-Dorf geführt wurde. Eine Abzweigung auf dieser Straße gab es nicht mehr. Susan blieb kurz stehen, um sich die untergehende Sonne anzusehen. Wie konnte etwas so Alltägliches, so wunderschön sei? Warum nur war ihr der Sonnenuntergang nie wirklich aufgefallen? Klar hatte sie ihn gesehen, aber noch nie nahm sie ihn wahr wie in diesem Augenblick. Die warmen rötlichen Strahlen durchfluteten sie und wärmten sie scheinbar von Innen heraus. Sie wärmten ihr Herz. Was ein angenehmes Gefühl, was für ein erinnerungswürdiger Tag. Sie drehte sich wieder ihrer Route zu und ging frohen Mutes voran. Morgen würde sie Ryan in der Schule wiedersehen. Dann wären sie keine Fremden mehr, sie wären Freunde oder vielleicht ein bisschen mehr? Bei diesem Gedanken wurde Susan unweigerlich rot.
Ihre Schuhe hinterließen schwache Abdrücke auf dem Feldweg und wirbelte bei jedem Schritt eine kleine Wolke aus Sand auf. Susan erschrak ein wenig, als plötzlich das Licht ihres Smartphones anging. Auf eine magische Weise wusste es also, dass es jetzt dunkel wurde. Aber überrascht war sie nicht, ihr Handy machte ohnehin was es wollte. Längst hatte sie aufgegeben es zu bedienen und folgte stattdessen einfach dem roten Weg, der ihr angezeigt wurde. Was nicht die schlechteste Entscheidung war, denn so wurde sie ja zu Ryan geführt, allerdings auch wieder von ihm weg. In ihr flammte das Verlangen auf, sich auf der Stelle umzudrehen und ihrem einstigen Wegbegleiter hinterherzulaufen. Auch der Gedanke allein durch den Wald zurück zu gehen, war ihr nicht geheuer. Sie hatte keine Angst vor Monstern, aber es war noch immer ein dunkler Wald und sie war noch immer ein Mädchen, dass allein hindurchgehen musste. Ihre Mutter hatte ihr von bösen Männern erzähl, die nur darauf warteten, einem Mädchen über den Weg zu laufen, um mit ihnen Unaussprechliches zu tun. Viel mehr Angst hatte sie aber vor ihren Klassenkammeraden. Bis in die Träume wurde sie von ihnen verfolgt, wo sie sie auslachten und ihr Wörter wie ‚Schlampe‘ oder ‚Flittchen‘ an den Kopf warfen. Bis zur Unkenntlichkeit waren ihre Frantzen verzogen mit Augenhöhlen, die mal Augäpfel waren. Die wirklichen Monster lauerten nicht hinter Bäumen oder in Höhlen, sie gingen in Neubrunnen auf die Schule.
Tapp, Tapp, Tapp.
Wäre sie nur nicht allein.
Tapp, Tapp, Tapp.
Sie war so dumm!
Tapp, Tapp, Tapp.
Susan merkte wie ihre Hand von hinten ergriffen wurde. Sie drehte sich um und sah Ryan ins Gesicht.
„Ryan, was? Warum bist du hier?“
„Mir ist bei nach einigen hundert Metern klar geworden, dass es gar nicht darauf ankommt wo mich diese Route hinführt oder dass ich ihr folge. Ich wollte ihr schlicht und ergreifend auch nicht mehr einfach so stur nachgehen. Ist doch scheißegal wohin uns das Schicksal oder das Universum oder sonst wer führt. Ich möchte selbst bestimmen wohin ich gehe oder mit wem.“
„Ryan…“
Er ergriff auch ihre andere Hand und sie warf sich ihm um den Hals. Und die Welt hörte für einen kurzen Augenblick auf sich zu drehen.
Sie gingen gemeinsam zurück und der Weg bereitete weder ihr noch ihm irgendwelche Ängste oder Probleme. Gemeinsam konnten sie die Welt erobern. Auch wenn sie noch nicht am Ende ihrer Route waren, so wussten sie, dass sie sie gemeinsam gehen wollten.
Die Mitschüler schauen sie am nächsten Morgen verdattert an, als sie händchenhaltend den Biologieunterricht betraten, aber keiner traute sich etwas zu sagen. Auch auf dem Gang zwischen den Stunden spürten sie die Blicke im Nacken und hörten leise das Getuschel. Sollten die anderen doch schauen und reden. Gemeinsam war alles zu schaffen.