Veröffentlicht: 05.02.2018. Rubrik: Persönliches
Der Prinz von Ägypten
-Yoga ist Opium für die Mutter-
Nach 20 lustigen Jahren musste ich in die Einöde ziehen. Da, wo die Leute aussehen wie verkleidet. Da wo nachts niemand über 25 unterwegs war. Da wo man nicht sein wollte.
Das einzig Gute, das einzige Tor zur Welt war, dass ich mit ein paar Kollegen mit Migrationshintergrund zusammenarbeitete. Hauptsächlich mit Kollegen mit ägyptischer Zuwanderungsgeschichte. Die arabische Sprache und die Geschichten aus der Heimat der Kollegen trösteten mich, auch wenn ich oft nichts verstand. Ich versuchte sogar, ein wenig Arabisch zu lernen, doch meine ersten Sprechversuche scheiterten so kläglich, dass ich es vorerst gar nicht mehr versuchte.
An einem ganz normalen Abend, dem Sonntag, den 16.05. brach der Prinz von Ägypten über mich herein. Der Abend war wie immer langweilig, während irgendeiner Sendung im Fernsehen ging ich ins Bett. Ich hasste Fernsehen, ich sagte immer, das sei eine Aktivität für das Altenheim und danach. Doch der Prinz von Ägypten nutzte diesen Kanal und rief nach mir. Er blieb, und während der Nacht nahm er Besitz von mir.
Ich musste dort leben, wo man Kuchen essen musste, zur Kirche ging und sich über Hortensien unterhielt. Es gab keinen spontanen Input im Stadtviertel, alle Eindrücke musste man sich selbst aktiv über das Internet oder den mp3-Player zuführen. Das Leben war tot und nur das Lied „Breaker One“ der Band Interpol hielt mich am Leben.
Ich versuchte sogar, mir Plätze in der Einöde zu suchen, an denen ich mich wohl fühlte. Und wurde fündig. Doch das Heimweh materialisierte sich nur noch mehr. Nur eine geschlossene Lebensweise mit Musik und Laufen, Aktivitäten, die man an jedem Ort der Welt autark praktizieren kann, wie Murakami schrieb, konnte mich vor dem Verfall retten.
Ich besuchte ein paar unterschiedliche unspezifische Sport- und Musikveranstaltungen vor Ort und bemerkte, dass das Leben weiter ging. Ausgefallenere, interessante Angebote wurden hier sowieso nicht durchgeführt.
Es ging darum, dass der sogenannte Prinz von Ägypten, der lange Zeit aktiv im Arabischen Frühling die Demokratisierung der arabischen Welt vorantrieb, zum ersten Mal live im deutschen Fernsehen interviewt wurde. Er steckte alle Diskussionsteilnehmer, von denen ich auch schon vor der Diskussion nichts gehalten hatte, die sich an diesem Tag aber auch besonders ungeschickt anstellten und sich in Borniertheit geradezu überboten, in die Tasche und ging als rhetorisch und wissenschaftlich optimal aufgestellter Gewinner aus dem Ring.
Ich hatte kein Zuhause mehr. Wenn ich draußen getrunken oder sonst etwas gemacht hatte, fühlte ich mich wie eine Jugendliche mit strengen Eltern, die Ärger erwartet. Das kann doch nicht sein, ich bin erwachsen. Wirken die Beziehungen nur von außen modern, aber der Mann dominiert die Beziehung? Vorwürfe und Kontrolle, ohne etwas zu sagen. Oder ziehe ich meine Sachen einfach nicht durch?
Eines Morgens werde ich aufwachen und entdecken, dass in mir nichts übrig geblieben ist, ich bin hohl und leer, ich weiß nicht mehr, wer ich bin: mein Kern ist vernichtet worden. Meine Rolle als Frau und mein Kern stehen zueinander im Gegensatz. (vgl. Die essbare Frau, Margaret Atwood, S.278)
Anfang 2011 protestierten viele und junge Aktivistinnen und Aktivisten mit neuen, innovativen Formen in Tunesien, Ägypten und den Nachbarländern– sei es in den sozialen Netzwerken oder auf der Straße. Eine wichtige Funktion hatten auch mit Handy-Kameras aufgenommene Bilder – sie sorgten dafür, dass die Proteste an der Zensur vorbei dokumentiert und über Satellitensender oder Internet in die Wohnzimmer der Welt getragen werden.
Seitdem ich in der Abgeschiedenheit leben musste, nahm ich rege an den Geschehnissen des öffentlichen Lebens teil. Bisher hatte ich mich von der Umgebung ihres lebendigen Stadtteils inspirieren lassen können, jetzt war ich auf öffentliche Medien angewiesen. Schließlich war auch mein Wohnzimmer eines der Wohnzimmer der Welt. Ich musste mich mit Gesprächen über Wohnblogs herumärgern. Nein, keine Wohnblocks, sondern Einfamilienhäuser. Die „Landlust“ ertragen. Es war mal so angedacht, dass ich mal Spaß an Gartenarbeit entwickeln könnte. Dabei wusste ich schon immer, dass das für mich nichts war. Wenn überhaupt, dann zusammen mit anderen als lustiges Gemeinschaftsprojekt wie urban gardening oder etwas Interessantes wie Permakultur. Zumindest müsste es mir als kurzweilige Familienaktion verkauft werden. Den Anbau und die Ernte von Lebensmitteln fand ich ja durchaus sinnvoll. Wenn ich jedoch gezwungen wurde, Unkraut zu jäten, und das auf dem Steinweg vor der Haustür, stellte ich mir lieber vor, ich sei Mitglied in einem gemeinnützigen Workcamp in der Mongolei. So konnte ich dieses sinnlose Unterfangen, das nur den Augen der Nachbarn diente, ertragen.
Weder ein Rutschschutz für betagte Mitbürger noch eine Auflage der Wohnstraße (was ich alles noch als Argument gelten lassen würde) war der Sinn dieses Zwangs zum Jäten. Nicht etwa im Gemüsegarten, wo es vielleicht noch Sonnenlicht-, Humus- oder Platzverteilungskämpfe geben könnte, sondern in den Fugen eines Fußwegs. Ausschließlich pure Zeitverschwendung.
“Damit es ordentlich aussieht.“ Ordentlich ist das Gegenteil von schön. Von authentisch. Von sinnvoll. Von cool. Von lebenswert. Sogar von demütig. Und ich rechnete mir die verbleibende Zeit bis zur Volljährigkeit ihrer Tochter aus. Und damit bis zu dem Tag, an dem sie ein freier Mensch wurde. Mein Flugticket war datiert auf diesen Tag, der noch ein gutes Jahrzehnt in der Zukunft lag.
Der Tahrir-Platz in Kairo, das Zentrum der Protestbewegung, wurde zum Symbol des demokratischen Aufbruchs in der arabischen Welt. Ana schaute sich jede Sendung zu diesem Thema im Fernsehen an und stellte sich vor, mit dabei zu sein, mit wehenden Fahnen alle zusammen am Tahrir-Platz.
Ländliche Redemaschinen. Die Anwohner der Provinz nahmen den Begriff small talk nicht beim Wort. Sie redeten einen fest, saugten einen fast aus, obwohl sie ja eigentlich Schallwellen abgaben. Ihre Geschichten brachen oft in der Mitte ohne Pointe ab. Ich wartete vergebens auf den Sinn der langen Rede. Meist wurde vom Kauf irgendeines Gegenstands gesprochen. Vielleicht sollte das bereits die Pointe sein?
Auch wenn die konkreten Forderungen von Land zu Land variierten, hatten die Proteste in den arabischen Ländern doch eines gemein: Stets verbanden sie soziale, wirtschaftliche und politische Anliegen. Fortschritte in allen drei Bereichen wurden als unabdingbar angesehen, damit "ein Leben in Würde" möglich ist.
„Das Bild ist so süß, eine kleiner Sonnenschein. Sie hat deine Augen.“ Junge Mütter freuten sich über solche Sätze. Jungen Müttern stand der Segen ins Gesicht geschrieben, der ihnen widerfahren war. Dä Kawenzmann. Aber ich? Rabenmutter. Was für ein Wort? Regretting mother. Warum gibt es den Begriff regretting father nicht?
Ich liebte meine Tochter. Ich war keine regretting mother. Ja, aber das konnte man auch woanders. Unter andern Umständen. In einer Hippiekommune. In einem Zelt in der Mongolei. Ohne den ganzen Ballast. Und ohne jahreszeitlichen Schmuck im Fenster. Ohne so etwas wird ein Kind nicht sterben, vielleicht sogar glücklicher sein?
Oder einfach da leben, wo man hingehörte – am Boxhagener Platz.
Oder am Tahrir-Platz, am Platz, wo das Leben war. Die Zukunft. Die Veränderung.
In erster Linie ging es den Protestierenden um bessere Lebensbedingungen und mehr Teilhabe an Wachstum und Entwicklung. Denn obwohl die arabischen Volkswirtschaften in den letzten Jahren mit wenigen Ausnahmen fast durchweg moderate oder sogar hohe Wachstumsraten verzeichnen konnten, ist es ihnen nicht gelungen, ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Dabei standen alle Staaten vor der Herausforderung, ihre nach wie vor schnell wachsende, junge Bevölkerung in den Arbeitsmarkt zu integrieren. So gibt es nach wie vor arabische Staaten mit erschreckend hoher Armut, niedrigen Alphabetisierungsraten und einem geringen Bildungsniveau.
Der Interviewer des Prinzen von Ägypten zeigte am 16.05. im deutschen Fernsehen eine Aufnahme einer antiken ägyptischen Götterstatue. Die Statue steckte Angela Merkel beim Besuch des Pergamonmuseums die Zunge heraus. Der Prinz von Ägypten interessierte sich sehr für die ägyptische Mythologie. Er identifizierte sich sehr mit der Gottheit Chnum, dem Schöpfergott mit dem Schafskopf, und betonte dies immer wieder öffentlich.
Die Götterstatue Chnum wurde manchmal mit herausgestreckter Zunge dargestellt. Wie auch das Exemplar im Pergamonmuseum.
Der Prinz war von brutaler, klassischer Schönheit. Er weigerte sich, sich in irgendeiner Art und Weise von dieser Figur zu distanzieren. Als Angela Merkel bei einem Staatsbesuch an der Chnum-Statue vorbeiging, änderte die Statue selbstverständlich nichts an ihrer Mimik. Die Regierungsschefin empfand das Verhalten der Statue jedoch als skandalös und respektlos. Sie machte sofort eine Pressemitteilung über den Vorfall, und am nächsten Morgen wusste es die ganze Welt.
Der Prinz von Ägypten war ein Humanist. Er war zutiefst davon überzeugt, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Oberflächlichkeiten und Besitz interessierten ihn kaum. Er war ein Visionär und hatte nach dem Scheitern des Arabischen Frühlings vor, eine Organisation namens sUN (saturated united nations) zu gründen. Der Gründungsort war die antike Stadt Heliopolis im Nordwesten von Kairo. Die Organisation sUN zielte darauf ab, weltweite Gesetze zu schaffen, um die Grundversorgung, allem voran die Ernährung für alle Menschen sicherzustellen. Zu den Zielen gehörten natürlich auch der Zugang für alle Menschen zu medizinischer Versorgung, zu einer angemessenen Unterkunft sowie die Demokratisierung.
Zur Gründungsveranstaltung in seiner Stadt Matayira, ehemals Heliopolis, zu der weltweit angesehene Aktivisten und Politiker kamen, kam der Prinz von Ägypten zu Pferde. Er würde sich niemals in ein privates Automobil setzen oder in ein anders Gefährt, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war.
Außer dieser Extravaganz gab er sich unauffällig. Er trug geschmackvolle Herrengarderobe und es brach ihm auch kein Zacken aus der Krone, wenn er, wenn es sein musste, im Business-Look erscheinen musste. Sein Haar war lang, dicht, schwarz gelockt und stets äußerst gepflegt.
Da der Prinz von Ägypten einige Zeit in Kanada gelebt hatte, sprach er fließendes Französisch. Sein Englisch war selbstverständlich auch perfekt. Er kam aus reichem Elternhaus, genauer gesagt aus einer gated community. Er legte hierauf aber keinen Wert und sprach mit jedem Menschen, der mit ihm sprechen wollte.
An diesem Abend, dem 16.05. sprach der Prinz von Ägypten zu mir. Die Sendung war zunächst langweilig und sogar der Prinz von Ägypten erschien mir zunächst falsch, eingebildet und glatt. Es schien, als würde er sehr berechnend argumentieren und alle Bewohner dieser Welt nur für sein Projekt, den arabischen Frühling, einbinden zu wollen.
Als würde er die restliche Welt dafür mit seinen rhetorischen Tricks um den Finger wickeln wollen.
Am Morgen nach der Sendung sahen sie Dinge jedoch anders aus. Mein Gehirn erstrahlte in Klarheit, der ganze Tag danach gerann detailgenau in meinem Gedächtnis.
Erst mal musste ich Informationen heranschaffen. Bildliche Informationen. Textliche Informationen. Musikalische Informationen.
Meine Recherchen ergaben folgende Informationen: Der Prinz war ein 25jähriger Doktor der Biologie. Sein Name war Aleadasat Althaquila. Er promovierte in Kairo letztes Jahr. Ich war restlos begeistert. Sein Engagement war aufgeklärt, modern, gleichberechtigt, mutig…. Dies alles galt es alles zu unterstützen. Der Prinz von Ägypten war für mich der Inbegriff von Männlichkeit. Gerade durch seine femininen Wimpern und schräg liegenden Augen wurde seine klassische Attraktivität noch betont. Sein Blick durchbohrte alles, was sich ihm in den Weg stellte. Seine schwarzen Reiterhosen taten den Rest. Ich sammelte Fotos, druckte sie aus, klebte sie ein und versteckte sie wie eine extrem wirksame illegale Droge. Ein kurzer Blick darauf ließ mich die Nächte mit klopfendem Herzen durchwachen. Nichts half dagegen. Gar nichts. Die schönste Zeit war die Zeit alleine vor dem Rechner. Die neuesten Infos und Fotos.
Das neueste Fiasko im Arabischen Frühling zeichnete sich ab. Das liberale und linke Spektrum in Ägypten war organisatorisch nicht in der Lage, eine echte Alternative anzubieten – unter anderem, weil die Parteien stark zerstritten waren und keine gemeinsame Strategie entwickelt hatten. Das islamistische Verfassungsprojekt, das der religiösen und kulturellen Vielfalt Ägyptens nicht entsprach, wurde gegen den Willen der urbanen Mittelschichten durchgepeitscht. Meistens saß Ana zu Recherchezwecken im Internetcafe aus Furcht, Datenspuren zu hinterlassen. So viel politisches Interesse konnte nur Aufsehen erregen.
So weit weg von der putzigen Affigkeit, der Auslangweilung. Dem Abstecken von Besitz. Und, was das Schlimmste ist: der Furcht vor den Gedanken des Nachbarn.
Die Agonie der Region, in der ich nun leben musste, lähmte mich.
Am lähmendsten waren die Kriminalitätsangst-Gespräche. Vor irgendetwas musste sich die Landbevölkerung doch gruseln. Buchensumpfweg war ein merkwürdig verwunschen klingender Name. Der Ort bestand aus einer verstreuten Ansammlung von Wohngebieten ohne Zentrum. Zwanzig Jahre hatte sie in ihrer Wahlheimat gelebt, nun war ich in der Provinz angekommen, in einem Landstrich so fremd wie der Mond.
Alles war gleich weit weg vom Arabischen Frühling, egal ob Dörpen im Emsland oder der Boxhagener Platz. Das war gerecht für die Menschen, die nicht dort leben konnten, wo sie wollten. Aber in den Medien war der Arabische Frühling ständig präsent, egal ob in Berlin oder auch hier in der Abgeschiedenheit. Und dann war ich zurück zu Besuch auf dem Boxhagener Platz. Das erste Mal nach der Widerfahrnis. Warum sah das hier noch so gleich aus? Warum hieß die Straße hier nicht zeitgemäß Chaussee de Heliopolis? Oder warum hießen die Cocktails noch immer Cuba Libre? Und nicht Kairo sUN? Die Leute hier hatten doch keine Ahnung… So viel weltmännischer als in Königs Wusterhausen waren die Leute hier anscheinend doch nicht.
Bei meinen Recherchen stieß ich auf ein Event, gar nicht so weit weg, auf dem der Prinz eine Rede gehalten hatte. Gestern. Mist, so knapp verpasst. Das hätte ich schaffen können. Leider stand davon gestern noch nichts online.
Da hat Mr. X wohl ein Black Ticket ausgespielt. Verwegen, der Gedanke, den Prinzen einmal live zu sehen.
Brennende soziale und ökonomische Fragen und der Aufbau neuer demokratischer Institutionen wurden derzeit in Ägypten vernachlässigt. Erneut kam es zu Massenprotesten, diesmal gegen einen Staatschef, der erst wenige Monate im Amt war.
Als das Militär im Juli 2013 putschte und eine Übergangsregierung einsetzte, jubelten tausende Menschen auf dem Tahrir-Platz. Viele Ägypterinnen und Ägypter sahen in dem Militärputsch die Chance auf die Vollendung der Revolution, eine Fortsetzung der Demokratisierung – wenn das Militär erst einmal Ordnung und Sicherheit wiederhergestellt hätte. Das sollte sich jedoch als Illusion herausstellen. Es wurde deutlich, dass das Militär das Land zurück in die Autokratie führen würde.
Die demokratische Öffnung Ägyptens wurde rückgängig gemacht, Versammlungs- und Meinungsfreiheit stark eingeschränkt. 45.000 Menschen sind ins Gefängnis gesteckt worden. Der neue starke Mann Ägyptens, General Abdel Fatah al-Sisi, baute nach seiner Wahl zum Präsidenten die staatliche Repression massiv aus. Das wirkte sich auch auf die ägyptische Zivilgesellschaft aus, die kaum noch handlungsfähig war. Mit dieser Strategie haben die neuen Machthaber Ägyptens vorerst für Ruhe im Land gesorgt – nicht jedoch für langfristige Stabilität.
Besonders abstoßend fand ich auf dem Land die Dominanz des PKW. Kein öffentlicher Nahverkehr. Ich dachte schon daran, das Aroma einer richtigen U-Bahn als Parfum zu erwerben und manchmal daran zu schnuppern! Überall PKW-Infrastruktur. PKW-Verkauf. Anmelden. Wartung. Reparatur. Waschen. Monströse Hallen zum Reinigen der Fahrzeuge. Supersonderangebote: eine Stunde Saugen für nur 5 Euro. Haben die Menschen hier denn gar keine Hobbies? What about Waxing? Massage? Ein wenig Puderzucker in den Auspuff blasen? Very special treatments for your beloved sugarcar. Das eigene Auto als Statussymbol. Der Traum der 1950er Jahre. Hatte dieses Relikt aus dem 20sten Jahrhundert hier noch immer nicht ausgedient? Haben die Menschen hier nichts von zeitgemäßer Nutzungsvielfalt gehört?
Die Musik des Provinzsenders. Aus dem rasenden Auto herausgeplärrt. Vordergründig. Dur. Einfach gestrickt. Dreiakkordig. Brachial. Brechreiz. Ich googelte weiter.
"Am Ende haben wir nichts gewonnen", sagt I. Tayyab. Dann, nach einer Pause, "immerhin, die Freiheit". Sie lächelt. Man darf wieder über Politik und Religion sprechen, auf der Straße, an der Universität. Bleibt denn noch Raum für Stolz? Wer einen festen Job habe, der sei stolz darauf, sagt sie, wer arbeitslos sei, nicht. Freiheit kann man nicht essen.
Nach der Niederschlagung des Arabischen Frühlings in Ägypten war ich desillusioniert. So viele junge, engagierte Aktivisten, grenzüberschreitend, mutig, ideenreich – und jetzt war die Lage fast noch schlimmer als zuvor. Zusätzlich hatte ich Sorge, das musste ich mir eingestehen, den Prinzen von Ägypten ganz aus den Augen zu verlieren. Minimale Medienpräsenz. Keine Berichte mehr in den Zeitungen. Keine Reporter mehr, die in seiner Wohnung übernachteten und sich gegenseitig trafen.
Der Prinz von Ägypten blieb indes nicht untätig. Ihm schien es einerlei, seine Ämter nun nicht mehr bekleiden zu können. Finanziell war er recht unabhängig, da er die Möglichkeit hatte, durch seine herausragenden Forschungsleistungen, sein unglaubliches Charisma und seine kometenhaft gestiegene Popularität sowie seinen gesteigerten Bekanntheitsgrad durch seine angeblich herausgestreckte Zunge seinen Lebensunterhalt und seine Menschenrechtsorganisation suN großzügig zu finanzieren. Er berechnete, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedern von sUN gerade die Formel für die Sicherstellung der Welternährung, anwendbar für bis zu 17, 8 Milliarden sUN citizens. Der Prinz von Ägypten wand sich nun nicht nur an die Bevölkerungen arabischer Länder, sondern bewusst an die ganze Weltbevölkerung. „Sunny side up“ war der nun der claim für alle progressiven sUNners.
Ich meldete mich unter einer falschen mailadresse bei einem E-Mail-Anbieter an und schrieb dem Prinzen. Ihm, der sich so volksnah gab. Der mit jedem sprach. Der niemals am Flughafen die Priority Lane nutzte (auch nicht nach anstrengenden Interkontinentalflügen). Der sich trotz abertausend Bonusmeilen immer wieder hinten anstellte. Und der so weit weg war. Tausende von Kilometern, egal in welche Richtung.
Eine Berühmtheit der Humanität.
Und das Unmögliche passierte. Wieder im Internetcafe, Tage später, wählte ich mich erneut in meine alternative Adresse ein und: Der Prinz von Ägypten hatte geantwortet. Nur ganz genau 20 Minuten nach der Anfrage. Also bereits Tage zuvor. Mir kam es so vor, als hätte mir der Prinz von Alpha Centauri geantwortet. Und das hat er auch.
Nun musste ich ihn aber unbedingt einmal live sehen. Koste es, was es wolle. Einmal in die süße, rote, pralle Frucht beißen. Das Problem war, dass er üblicherweise hauptsächlich nur in arabischen Ländern, aber noch nicht in Europa öffentlich auftrat. Das war zu weit für eine Notlüge einer gewöhnlichen deutschen Vorstadtmutti.
Nun, dank seines offiziellen Scheiterns (zumindest, das, was die Welt als Scheitern in den Medien verkaufte) bekam er mehr und mehr hochdotierte Anfragen für Workshops, Seminare, Moderationen, Vorträge und Diskussionsrunden aus Mitteleuropa und Nordamerika. Er nahm gerne vieles an, doch einen Großteil schlug er aus. Das Leben war hierfür zu kurz. Reichtum war für ihn nur die Freiheit, etwas auszuschlagen. Und das konnte er sich leisten. Mobilität war für ihn kein Reichtum, sondern die Luft zum Atmen. Obwohl er sich gerne und erfolgreich down-to-earth gab, war er doch Vielflieger. Zu Pferde ging das nicht mehr. Nur zuhause in Kairo. Er ging er auch unbezahlten Anfragen nach, vorausgesetzt, sie halfen ihm oder suN, seine Interessen zu verfolgen.
Ich ergoogelte nun das erste Event diesseits meines selbstgesteckten persönlichen 600-Meilen-Radius. Da, wo ich gerade eben noch hinkam mit einer Notlüge. Luxemburg. Ich traute mich zunächst lediglich, eine Fahrkarte zu kaufen, nicht aber, diese auch zu nutzen und zum Event fahren. Obwohl ich alles akribisch im Vorfeld recherchiert hatte. Den Weg vom Bahnhof zum Veranstaltungsort. Der Arbeit fernbleiben. Den Ehemann anlügen. Eine passende Ausrede auch für die Arbeitsstelle erfinden. Das schaffte ich nicht. Noch nicht.
Viele Gelegenheiten mussten ungenutzt bleiben. Schweren Herzens schrieb ich ständig meinen very best buddy an.
Mr. X setzte sein nächstes Ticket ein. Dann folgte ich mit meinem Ticketeinsatz. Doch ich hatte nicht den Prinzen, sondern nur seinen Kollegen, genauer gesagt, seinen Nachfolger von hinten gesehen. Das war noch immer kein ovales Feld bei Scotland Yard. Ich musste bei der Rückfahrt in einen putzigen einwagigen Pendelzug umsteigen. Was das für ein Ticket bei Scotland Yard wäre?
Ernüchterung. Angst. Wenn die Anspannung nachließ. Das weiße Piepsen im Off, wenn es vorbei war. Nichts essen und trinken. Illegalität. Nicht mal die rote Ampel darf man benutzen.
Das Schützenwesen. Eine Unart der deutschen Provinz. Warum musste es das geben? Und dann auch noch so dominant? Wann konnte ich das endlich hinter sich lassen….
12,8 Jahre bis zum Leben auf verschiedenen Ebenen des Aufenthaltstyps.
Sabbathalbjahr in Marseille, Urlaub davon in Sapporo, Madagaskar und Brasilien, Basiswohnung (bzw. Verschlag) in Köln, Schlüssel nach München, 3-jähriger Auslandseinsatz in Athen. Kurztrip nach Georgien. Fertig.
So, nun aber ran an den Speck. Erst einmal endloses Googeln, die Suche nach einem Event. Übermorgen oder in 2 Wochen, in Straßburg oder vielleicht sogar Berlin. Krank oder müde oder verpickelt. Oder gerade einfach kein push-Faktor. Egal, koste es was es wolle. Ein Ticket bekommen. Eine passende Ausrede erfinden.
Ein Postfach einrichten. Eine Alias-Adresse. Einen Postfachschlüssel deponieren. Einen Urlaubstag erfinden. Vieles absagen, schöne Dinge, lange ausgemachte Treffen. Verschieben auf weißnichtwann. Das Handy ausschalten. Egal, ich musste jetzt mehr und mehr heimlich machen. So musste sich beginnende Delinquenz anfühlen.
Für einen Blick in die Augen, einen Händedruck, ein paar Sätze und ein Autogramm. Ich würde dafür aus dem Stand mit dem sofortigen Ableben bezahlen. Ohne Abschiedsbrief.
Nun das Kitzbühel-Event. Ewiges Rumschleichen und Versteckspiel im kleinen lächerlichen Schickimickistädtchen. Dann auch noch ein Anruf auf dem Handy wegen einer Unwichtigkeit. Aufgriff durch die Polizei wegen Schauens ins Fenster. Fahndungsfoto. Mit blonder Perücke. Draußen bleiben müssen. Superteure Tickets. Ausverkauft. Nicht für jeden erhältlich. Aufgeben und in Kitzbühel rumlaufen. Dann zurück zur Bahn. Enttäuschung. Doch da… Mittagspause.
Es gab ihn wirklich! Und er sah mich an. Die Polizisten waren bei ihm, kurz nach den Anschlägen in Paris waren sie zu zweit im Einsatz.
Sie sahen mich am Bahnhof und erzählen dem Prinzen von meiner Existenz. Er drehte sich ein Mal, zwei Mal um. Der Prinz von Ägypten erwartete bestimmt ein Nachlaufen, ein Betteln um ein Autogramm.
Ich stand nur da und genoss den Augenblick. Paralysiert. Wollte nicht mehr als diesen Moment. Kein Autogramm, nichts. Erstmal nicht.
Dann das Vorbeilaufen der Gruppe, mit den beiden Polizisten wie in Zeitlupe. Das Dahinschwinden der Möglichkeiten. Und dann Gespräch mit den Polizisten. Ohne blonde Perücke. Aus Angst vor Kameras. Ich hatte in der Arbeit gefehlt und wollte nicht, dass ihre Chefs sie an dieser Stelle zu dieser Zeit womöglich im Fernsehen sehen. Zu sehr war ich noch an die ehemalige Medienpräsenz gewöhnt. Die Angst vor der Entlarvung.
Danach feuchtfröhliches Biertrinken mir zwei best buddies in der ehemaligen homebase München. Was für ein Tag und Abend!
Immer wieder kam er momentan für Vorträge nach München, der Prinz von Ägypten. Nicht einmal nach Hause kommen kann man in Ruhe. Bei Mutters Siebzigsten ist der Prinz im Anmarsch. Da wo man sich verkriechen will, verschanzen, erden, ist er da. Doch immer wieder terminlich so ungünstig, dass ich keine triftige Ausrede für den Besuch des Events erfinden konnte. Kurz nach den Ferien. Kurz vor dem Feiertag.
Kurz nach Silvester gab es eine Fortbildung mit Option auf Übernachtfahrt nach München. Dort eine Diskussionsveranstaltung zwischen dem berühmten Prinzen von Ägypten und dem Bürgermeister. In einem Club, den ich von früher kannte. Nicht hingefahren. Enttäuschung, Regenwetter, Schnee und Telefongespräch mit best buddy. Dann wieder nichts. Sollte man dem Prinzen von Ägypten abschwören?
Dann kam ich zurück auf meine Umlaufbahn. Königs Wusterhausen. Doch nicht auf die Erde, sondern nur auf den Mond. Ab und zu durfte ich auf die Erde, war ja nicht weit. Aber ich durfte dort nicht schlafen. Fast nie. So wie eine Ehe, bei der man nicht mit dem Partner schlafen durfte.
Außerdem kamen die Kuchenfresser. Warum müssen Menschen bei allen Gelegenheiten Kuchen in sich hereinstopfen? Ab 11 Uhr morgens? Nur weil Zucker so billig ist? Warum wird das Backen und Essen von Kuchen so glorifiziert? Das ist doch keine Versuchung, sondern eine Belastung. Immer Gespräche über das Einkaufen. Die Auslangweilung.
In kürzester Zeit recherchierte ich das nächste Event in Mannheim. Die nächste Option, ihm etwas näher zu kommen. War es wirklich möglich, eine Karte zu bekommen? Biologin war ich nicht.….so what? Der Eintritt war jedoch nur Naturwissenschaftlern vorbehalten. Alles chemisch hier… Der Name auf der Eintrittskarte war gefälscht. Sogar eine Frühbucherkarte hatte ich im Internet gewonnen. Für Biologen. Taxifahrt nach Köln frühmorgens. Dann in den ICE. Wirklich auf die Veranstaltung reingekommen. Wirklich den Prinzen live gehört. Guten Platz bekommen. Leider war der Prinz von Ägypten war nach dem Vortrag nicht mehr zu finden. Andere Promis standen im Blitzlichtgewitter. Nach dem Vortrag schnell zum Zug.
Und noch vor high noon war ich zurück in dem Ort, in dem ein Schützenfest die Hauptattraktion war. Knall mit dem Kopf frontal auf den Beton. Aus 90 Metern. Wie ein Katzenkind mit dem Gesicht mitten in die Scheiße.
Dann wieder nichts, wochenlang, monatelang…was ist jetzt das Ziel? Dichter herankommen. Einen Blick erhaschen. Hannover ist das Ziel. Ach wie toll, so exklusiv, so wenige Zuhörer. Der Prinz ritt heran und band sein Pferd fest.
Er wollte das Pferd bzw. auch die Kutsche als emissionsfreies öffentliches Verkehrsmittel im Nahverkehr als Alternative zu den bereits vorhandenen etablieren.
Der Pferdestall von Pharao Ramses II und seinen Nachfolgern hatte riesige Ausmaße. Er war rund 200 Meter lang und 100 Meter breit. Insgesamt hatten nicht weniger als 500 Rösser Platz. Für die Pferde waren sogar Latrinen angebracht, die so konstruiert waren, dass die Exkremente nicht den Stall verunreinigten. Die Menschen damals – Ramses II regierte von 1279 bis 1225 v. Chr. – kannten offenbar schon die Segnungen von Hygiene und Sauberkeit, um die Pferde vor Krankheiten zu schützen.
Der Prinz von Ägypten hatte den Plan, öffentlich geförderte Reitinfrastruktur als Konjunkturmotor zu nutzen, um in allen strukturschwachen Regionen Europas nachhaltige Arbeitsplätze in der Baubranche, Tierpflege, Futtermittelproduktion und vielen anderen Branchen zu generieren.
Er trat auf die Bühne. Zunächst sprach ein anderer und kündigte den Prinzen an. Der Prinz ließ seinen Blick über das Publikum schweifen. So nah! Der Mimikwechsel erfolgte genau beim Scannen des Blicks durch Ana. Gut, dass ich die Pille heute nicht vergessen habe.
Endlose Zugfahrten ohne Nahrungsaufnahme, Mobilfunk, Zerstreuung…nur das weiße Rauschen. Ein Gefühl von Illegalität. Ich hatte Angst, dass auf meinem Handy eine Ortungssoftware installiert ist. Deshalb musste ich das Handy stets ausschalten, wenn ich on tour war.
Nun als nächster Wunsch ein Händedruck, ein Wort, ein Blick direkt in die Augen. Ein direkter Blick in die Augen konnte eine unglaublich offensive Handlung sein. Ich grinste, als ich mir das vorstellte. Ich, eine einfache Vorstadtmutti mittleren Alters, die nie jemand ernst genommen hatte, hatte auf einmal alle Optionen offen. Wurde ich langsam verrückt? Nein, ich konnte mich nicht daran erinnern, mich jemals besser gefühlt zu haben. Das ganze war urkomisch, völlig surreal. Meine Euphorie verlangte nach Taten. Der Prinz von Ägypten war wieder in Brüssel. Ja, es hat tatsächlich geklappt.
Der Veranstaltungsort war ganz in der Nähe des Bahnhofs. Nach dem Warten hatte ich die Möglichkeit, hinter die Absperrung zu gehen. Drin sein, nicht nur als Zuschauer. Sondern als Helfer. Die Mitglieder alle waren versammelt. Als erstes kam sein Vize, er begrüßte alle freundlich. Dann kam er, zu Pferd. Schüttelte jedem Mitglied die Hand. Ein ganz kurzer Blick in die Augen, fast gar keiner, ein Händedruck, ja, aber abgelenkt. Neben mir stand eine Frau, die kannte er, Umarmung nach ägyptischer Art, aber angespannt. Dann das teure Taxi zurück von Brüssel! Welche Frevel, nicht das Pferd als Verkehrsmittel gewählt zu haben. Dennoch, der ganze Aufwand hatte sich gelohnt.
Immer wieder nach den glücklichen Tagen der freie Fall.
Der Mensch kann nach einem solchen Ereignis nicht für immer glücklich sein. Es müssen neue Termine gefunden werden. Closer!
Trinken ohne Ende. Was jetzt tun? Wenn das Googeln nichts bringt?
Wenn er keine Perspektive gibt? Es war kein gesetzter Termin in Sicht.
Das ist Horror, deshalb schlafe ich in solchen Situationen gern, das ist wie tot, man hat seine Ruhe und kein schlechtes Gewissen. Hau dich weg aus der Wirklichkeit. Man kann mich zwar zwingen, körperlich hier zu sein, aber nicht geistig. Die Gedanken sind frei! Zwang zum Kuchenessen und zum Sprechen über Konsum, Kommerz, Nonsense. Google die letzte Rettung.
Was war der allerletzte Wunsch? Der Hitchhikers´Guide von Pamela des Barres I´m with the band gab auch keine zufriedenstellende Antwort.
Neu zugestiegen? Fahrkarte bitte! Ach ja, eine Fahrkarte habe ich ja sogar. Ganz illegal bin ich ja gar nicht. Amsterdam. U-Bahn-Fahrt, danach das Eintreffen des Prinzen. Immer wieder der gleiche Ablauf. Nach dem Abstieg von dem Rappen, den er sich für seine beiden Veranstaltungen ausgeliehen hat, die er heute in der Stadt hatte, extrem aufrechter Gang zum Veranstaltungsort. Ich hatte paradoxerweise gar keine Lust mehr, als ich ihn sah. Dann das gewohnte Platznehmen. Perfekte Ausleuchtung dieses Gottes der Schönheit.
Das Event begann. In mich kehrten Ruhe und Andächtigkeit ein. „Sie haben nun ihre Reiseflughöhe erreicht. 70 000 miles. Ground speed: 990 mph.“ Für eine Stunde die gewohnte Stimme, die gewohnte Faszination, die gewohnten Inhalte. Fast quälend und dann doch viel zu schnell vorbei. Eine alte Dame, die neben mir saß, mit dem Opernglas, verzückt lächelnd: “Es gibt doch nur schöne Männer hier“.
Dann danach – er stand am Hinterausgang! Mit nur 2 oder 3 Leuten. Bitte ein Autogramm! Und jetzt ein richtiger Blick in die Augen. Für wen denn? Für Deine lokale sUN-Gruppe? Ich war mittlerweile schon lange aktives Mitglied der Organisation sUN und koordinierte eine lokale Gruppe.
Oh, so viel kollektives Denken hättest Du den Menschen in Mitteleuropa gar nicht zugetraut. Excuse me for being so silly!
Natürlich verbrachte ich die Nacht in Qualen in meiner Schlafkoje im Nachtzug. Es war unverzeihlich dumm von mir, nicht gesehen zu haben, dass mich diese Situation nicht für immer glücklich machen würde. Excuse me for being so silly! Doch noch immer erhellten Freude und Dankbarkeit die Welt und machten eine freundliche Anteilnahme an anderen Menschen, anderen Dingen möglich. Nach der Paralyse geläutert sein. Fast schon demütig.
Innerhalb der Organisation sUN wurde abgestimmt, dass sUN in naher Zukunft bei den Globalwahlen antreten wird.
Wenn die Realität die Phantasie übertrifft
„Das Restaurant an der Spitze des Hotels neben dem Postturm dreht sich sehr langsam. Langsam wie der Zeiger einer Uhr. Wie rasch drehte es sich an diesem Abend? War es völlig unbeweglich, durch Denken angehalten, eine nur in der Einbildung existierende Bewegung in einer Welt jenseits von Dauer? Oder wirbelte es wie ein Kreisel hinein in die Unsichtbarkeit, und wurde ich, von der Zentrifugalkraft gekreuzigt, wie eine junge Katze an die Außenwand gepresst? Liebe weiß viel von Abwesenheit zu sagen. Das Thema fordert melancholische Mitteilsamkeit heraus, auch wenn es Schmerzen gibt, die unsagbar sind. Aber hat sie je die Anwesenheit eines geliebten Menschen genügend besungen? Kann sie das überhaupt? Geht diese nicht immer auch mit Angst einher? Der gegenwärtige Augenblick erhält eine Intensität, die ihn aus der Zeit heraushebt. Was ich an jenem Abend auf dem Hotel neben dem Postturm empfand, war eine Glückseligkeit, die mich blendete. Es war, als explodierten Sterne vor meinen Augen, so dass ich im buchstäblichen Sinne nicht sehen konnte. Aber wie den Taumel des Geistes beschreiben? Jeder Strahl im Universum bürgt dafür, dass man am absolut richtigen und ersehnten Platz ist. Das Bewusstsein schwindet einem fast vor lauter Demut und Freude über die vergönnte Gunst, das Auge, das Ohr und die Nase verschlingt zwischen den Sternenexplosionen jede Einzelheit der realen Gegenwart. Ich bin jetzt hier, du bist jetzt hier, wir sind jetzt hier. Ich verspürte eine Fröhlichkeit und Ruhe, weil mir klar war, dass diese flüchtigen Sekunden die erfülltesten und vollkommensten waren, die einem Menschen zuteil werden können, ja von größerer Vollkommenheit sogar als die sexuelle Vereinigung. (nach Murdoch, I. „Der Schwarze Prinz, eines der Lieblingsbücher des Prinzen von Ägypten)
Sein Angebot, mich zwischen ihn und seine Assistentin zu quetschen, habe ich selbstverständlich abgelehnt. Es war zwar eine einmalige Gelegenheit, doch konnte ich ein Versagen meines Körpers nicht riskieren. Zumal ich auch hier nahezu inkognito war und mir medizinische Bedürfnisse auf gar keinen Fall erlauben durfte. Doch sogar auf diesem Gebiet konnte den Prinzen nichts beeindrucken. Er war es gewohnt, dass Menschen in seiner Gegenwart das Bewusstsein verlieren. Ich war sehr erpicht darauf, die Herrschaft über meinen Körper zu behalten.
In der Sauna hatte ich die Situation eingeübt. Während des Aufgusses sprach ich mit mir selbst in meinem Kopf auf englisch über Welternährungsprogramme.
Die Wirklichkeit war jetzt ähnlich. Erstaunlich war, dass die extreme Durchblutung meines Körpers nach circa einer Stunde nachließ. Ich beobachtete diese Reaktion meines Körpers von außen, explorativ, wie ein Biologe, nicht in der Lage, darauf Einfluss zu nehmen.
Ich wagte tatsächlich, etwas zu sagen. Auf englisch. Einen kleinen Einwand. Fast schon Kritik. Er wollte, dass ich den Einwand wiederhole. Und er ging darauf ein. In diesem Moment war ich genau auf Augenhöhe. Die Mitte meines Lebens. Ich bin völlig davon überzeugt, dass exakt genauso viel Zeit von meiner Geburt bis jetzt wie von diesem Moment bis zu meinem Tod steht.
Diesen Einwand äußerte der Prinz Monate später in einem berühmten Interview, integriert in seine Argumentation. Vielleicht hat es nicht so viele Menschen gegeben, die ihn darauf hingewiesen haben. Vielleicht auch nur ich.
Beim Hinunterfahren im Lift machte ich einen Schritt auf den Prinzen zu. Und es passierte nach dem Händedruck des Abschieds, dass sich unsere Wangen berührten. Ich konnte es nicht sagen, wer die Initiative ergriffen hatte.
Nun öffnete sich die Tür Welt der Optionen einen Spalt. Es war genau zu diesem Zeitpunkt möglich, dass der Prinz mir ins Ohr flüsterte, bitte noch eine Unterschrift zu leisten für eine angebliche Steuerbehörde, die es in Ägypten in der Form nicht gab. Ein kleiner Vorwand, um mich aus der Gruppe herauszulösen und die Klinke zu hinunterzudrücken.
Ich ging in Richtung Fahrstuhl. Drückte auf die Nummer 17. Die Fahrstuhltür glitt lautlos auf. Gedankenverloren trat ich in den Flur. Erst dann bemerkte ich, dass er stockfinster war. Ich stand wie versteinert in der Finsternis. Wo zum Teufel bin ich? Ich bin an einem völlig anderen Ort. Ich habe eine Grenze überschritten und bin in eine merkwürdige Welt geraten. Ich bin in einer Wüste. Ein Wesen kommt auf mich zu, er hat die Wüste durchquert, ein Schafsfell schützt ihn vor der Sonne. Mit seinem nach innen gerichteten Blick vermag er in die Zukunft zu schauen. Er sieht den nahen Niedergang des Arabischen Frühlings vor sich. Aber auch die Sonne in nicht allzu weiter Ferne.
Ich taste mich an der Wand entlang. Da ist eine unbekannte Tür. Eine alte Holztür. Mit einem Schild. Patara stand darauf. Im Dunkeln vernehme ich einen dröhnenden Herzschlag. Es ist mein eigener. Ich bin eingehüllt in diesen Ton, bin ein Teil von ihm. Ich war mit allem verbunden. Mit den Ufern des Nils. Mit Heliopolis. Hier war mein Knotenpunkt. (nach Murakami, H.: Tanz mit dem Schafsmann). Chnum stand in der Tür, die einen Spalt breit geöffnet war: „Ich habe auf Dich gewartet. Die ganze Zeit schon!“.
“Wenn Du möchtest, dass ich eintrete, dann müssen wir drei Erinnerungen teilen.“ Chnum nickte.
1. Blond durchs Fenster geschaut und 2 Polizisten lassen mich nicht?
Chnum wusste nach kurzem Nachdenken, was ich meinte. Er hatte zwar vor allem zu Beginn einen enormen Andrang an Groupies, auch einige sehr offensive, aber diese Geschichte hatte er sich gemerkt. Der 1600-Kilometer-Fahrtweg für einen Blick aus der Ferne. Besonders gewundert hatte er sich darüber, dass ich nicht nachgelaufen kam. Chnum drehte sich nochmals um. Und die Perücke, über die ihn erst die Polizisten informierten, hatte doch einen gewissen Unterhaltungswert.
Außerdem war ich diesen Mittag die einzige Followerin gewesen.
Chnum antwortete: Kitzbühel.
2. Could you spell “sUN local group Wusterhausen”, please?
Die Aufgabe war schwerer- Chnum kam ins Straucheln. Oooh, I didn´t expect your collective thinking in cold middle Europe. Silly prejudice. Excuse me, please. Auch diese Aufgabe war gelöst. Wie immer respektvolle Höflichkeit und Selbstkritik.
3. Would you like to inform me about 1001 campaigns in the middle of Europe?
Chnum war verblüfft. 1001 war der ehemalige Name für sUN, als die Organisation noch in Planung war, der aber nie benutzt wurde. Es war schon jahrelang her, dass dieser Name nie wieder aufgetaucht ist. Zu dieser Zeit wollte nahezu niemand aus Mitteleuropa bei sUN mitmachen. Chnum sagte: The first request for sUN from middle Europe by s_bouajila.
Er öffnete die Tür ganz. Er brachte mich zum Fenster. Ein ovales Fenster. Das ovale Feld des Scotland Yard Spiels.
Er zog mein Ohr an seine Brust und ich hörte seinen dröhnenden Herzschlag, der sich mit meinem verband. Ich schloss die Augen und ließ mich von einem reißenden Fluss davon tragen und mochte am Ende auch ein Wasserfall sein, ich hätte nicht aufhören wollen, selbst wenn es möglich gewesen wäre.
Das einzige, was ich sagen konnte, war „thank you“.
Epilog
„Ich habe ihn zu sehr bewundert, das erkenne ich jetzt. Wenn man sich verliebt, machte man den anderen zu seinem Gott- eine große Gefahr…Es geht um eine süße Euphorie, um den Zauber, sich mit einem Wesen jenseits des eigenen vertrauten Selbst zu verbinden… Wir leiden in der Hand der Götter, die wir selbst erschufen….Das waren nicht Sie, es war der Prinz, den ich mir selbst erschaffen habe- In diesen Prinzen war ich verliebt, in den Prinzen in meinem Kopf (nach Shafak, E.: Der Geruch des Paradieses). Wie der geliebte Mensch wirklich ist, spielt überhaupt keine Rolle.
Nachwort
Ich blinzelte. Die Sonne brannte durch das Glasdach auf meinen Kopf. Ich musste wohl eingeschlafen sein. Wo war ich? Ach ja, in Kairo, ich hatte ein paar Stunden Aufenthalt. Ich hatte keinen bezahlbaren Nonstopflug mehr nach Madagaskar bekommen.
Ich verließ das Flughafengebäude und beschloss, ein wenig herumzuschlendern.
Ich kramte nach meinem Handy, aber es war nicht in meiner Tasche.
Mir fiel auf, dass kein Mensch in meiner Nähe ein Smartphone benutze. Sie waren wohl alle in der Free-Wifi-Zone.
Ich begann mich zu wundern, als ich die Leute beobachtete. Die Mode war mir nicht nur etwas, sondern gänzlich unbekannt. Auch die Materialien hatte ich noch nie gesehen. In Ägypten kleideten sich die jungen Leute doch ziemlich anders als bei uns.
Die Jugendlichen, langsam wurden sie mir wirklich fremd, bald lag wohl eine ganze Generation zwischen mir und ihnen, denen ich mich immer noch so nah fühlte.
Ich beobachtete, dass einige Menschen über eine kleine Vorrichtung verfügten, die in den meisten Fällen auf sehr modische Weise am Kopf befestigt war.
Gleich musste die Stelle kommen, an der sich normalerweise sehr viele Obdachlose aufhielten. Ich bog um die Ecke. Dort war ein Schnellrestaurant zu sehen. sunnymeals war der Name. Alles schien aufgeräumt und einladend. Schade, dass ich noch keinen Hunger hatte.
Daneben war noch ein anderer Laden, sunnyservice. Die Symbole Rotes Kreuz, Schlüssel sowie Hemd und Hose waren an drei verschiedenen Türen angebracht.
Es saßen ein paar Leute auf einer der Bänke vor dem Schnellrestaurant.
Sie plauderten vergnügt miteinander.
Ich betrachtete mein Spiegelbild in einer verglasten Fassade. Ich sah ganz schön abgerockt und fertig aus. Mein Gesicht hatte in diesem Fassadenspiegelbild seltsam markante Züge.
An der nächsten Ecke kam ich an einem Zeitungskiosk vorbei. Ich sah sofort die Schlagzeile Globale Parlamentswahlen: Knappes Ergebnis erwartet. Darunter waren zwei Fotos zu sehen. Eines sah so aus wie der ältere Bruder des Prinzen … hihi, es gab wohl doch einen ganz speziellen ägyptischen Look.
Ein vielstimmiges Wiehern drang an mein Ohr. Ich befand sich am zentralen Park- and Ride- Nahverkehrsbahnhof von Kairo.
Ich hatte nun endlich mein Round-the-world-Ticket. Mein Sabbatjahr. Und eine Zweitwohnung in Berlin. Vielmehr einen kleinen Verschlag zum Ausgehen und für das Rattern der Straßenbahn zum Einschlafen. Und die Zusage zu einem Auslandseinsatz in Kairo. Manchmal besuchte ihr Mann mich. Manchmal ließ er mich einfach in Ruhe. Und manchmal fuhr ich dort hin, wo mein Mann gerne hinfahren wollte. Und bisweilen blieben wir auch zuhause. In meinem Verschlag mitten in Berlin. Und in seiner Zweitwohnung in der Provinz.
Kurze Zeit später erschallte ein lautes Jubeln aus allen Richtungen. Musik spielte. Die Leute tanzten auf den Straßen. Sie sangen: „Let the sunshine in“, schwangen Sonnenfahnen und umarmten einander.
Ich eilte zu einer Riesenleinwand, die vor dem Flughafengebäude aufgestellt war. Dort berichtete jemand von den ersten Hochrechnungen der Globalen Parlamentswahl 2027. Es war dort ein Diagramm zu sehen. Auf dem größten Kuchenstück, das gelb-orange eingefärbt war, blinkte eine Sonne.