geschrieben 2019 von Navid Linnemann (Navid).
Veröffentlicht: 24.11.2019. Rubrik: Historisches
Blick über Palastmauern
Genau in der Mitte des Bildes lag die Blaue Moschee, von der jedoch nur vier der insgesamt sechs Minarette zu sehen waren. Unmittelbar am rechten Rand schloss sich die imposante Hagia Sophia an. Durch ihre Position im Vordergrund erschien sie noch mächtiger, als sie es ohnehin war. Ibrahim merkte sich die Stelle, an der das jahrhundertealte Gebäude abgeschnitten wurde und betätigte den Auslöser. Das Bild war im Kasten.
Vorsichtig schwenkte er die auf einem hölzernen Dreibein befestigte Kamera nach rechts. Ein prüfender Blick durch den Sucher zeigte, dass er seine Faltkamera einige Millimeter zu weit gedreht hatte. Die prächtige Kathedrale des alten Byzanz würde später eines ihrer Minarette einbüßen, würde er jetzt nicht korrigieren. Ibrahim tat es, betätigte erneut den Auslöser und stellte erst dann fest, dass eine Dampflok die Parkanlagen zwischen Topkapi-Palast und Bosporusufer mit strahlend weißen Wolken dekorierte. Um diese nicht auch auf dem dritten Abschnitt seiner Panoramaaufnahme abzulichten, legte er eine kleine Pause ein.
Ibrahim trat einen Schritt zurück und sog die frische Meeresluft tief durch die Nase. Hier, am anatolischen Ufer des Bosporus, hatte er eine geeignete Stelle für sein Vorhaben gefunden. Auch das Wetter war günstig, die Sicht klar und deutlich. Vom Marmarameer, über die großen Moscheen, die Serailspitze und die Brücke über das Goldene Horn bis zum mächtigen Turm in Galata, würde er Stambul in seiner vollen Breite zu einem einzigen Panoramafoto zusammenfügen. Besser konnte es nicht sein. Zudem war die Ruhe, welche die nur spärlich besiedelte Fläche zwischen den Orten Üsküdar im Norden und Kadiköi im Süden hervorbrachte, eine lang ersehnte Erholung gegenüber dem sonst rauen Alltag in Stambul.
Die Lokomotive war mittlerweile verschwunden, sodass Ibrahim erneut den Bildausschnitt prüfen und seine Kamera ein weiteres Mal verschieben konnte. Nun lag die am Hang gelegene Großküche des Palasts im Fokus des Bildes. Der Fotograf betätigte ein drittes Mal den Auslöser. Wieder prüfte Ibrahim, an welcher Stelle die Technik einen Einschnitt in der Landschaft erzwingen würde. Doch bevor er seine Kamera entsprechend schwenken konnte, vernahm er die Hufschläge eines Pferdes. Er schaute über seine Schulter und erblickte einen einzelnen Reiter in militärischer Uniform, der gemächlich den Hügel hinunter ritt. Ibrahim kümmerte sich nicht weiter darum, sondern blickte wieder durch den Sucher, verschob die Kamera, prüfte erneut und betätigte den Auslöser. Das vierte Bild war im Kasten.
Der Reiter, ein junger Mann mit der Kappe eines Offiziersschülers sowie zahlreichen Orden auf der Brust, kam hinter Ibrahim zum Stehen. Er beobachtete die Tätigkeit des Fotografen, der sich ein fünftes Mal zur Kamera beugte, um auf die gewohnte Art einen Ausschnitt der ewigen Stadt des Ostens anzufertigen. Es klickte. Ibrahim richtete sich auf.
„Ein herrliches Wetter ist das heute, nicht wahr?“, sagte der Reiter just in diesem Moment.
„Durchaus“, antwortete Ibrahim, der sich nun dem Beobachter zuwandte. „Zumindest erleichtert es mein Handwerk.“
„Und diese fantastische Aussicht“, sprach der Reiter mehr zu sich selbst, als dass es dem Fotografen gegolten hätte.
„Das mag schon sein ...“, murmelte Ibrahim, während er sich wieder seiner Kamera widmen wollte. Doch der Reiter hielt ihn davon ab, indem er fortfuhr: „Wie meint Ihr das? Ihr steht hier vor der gewaltigen Kulisse Stambuls. Einer Stadt, die seit Hunderten von Jahren das Zentrum eines Weltreichs ist. Einer Stadt, in der eine Moschee größer als die andere und ein Palast prächtiger als der nächste ist. Ihr könnt es mit eigenen Augen sehen. Wieso stimmt Ihr mir dann nicht vollen Herzens zu?“
„Effendim, es scheint mir, Ihr habt die Stadt noch nie betreten. Sonst wüsstet Ihr, dass Stambul nur aus der Ferne schön ist. Betritt man die Gassen hinter Protz und Prunk, so offenbaren sich Chaos, Verfall und Laster. Die aus der Ferne noch hoch in den Himmel wachsenden Minarette flechten sich dort zu einem Flickenteppich aus Bettlern, Huren und Tagelöhnern, der dichter gewoben ist als die Gassen im Großen Basar. Von den prächtigen Palästen bleibt bei genauer Betrachtung nicht viel mehr als die schwelenden Brandruinen der Wohnhäuser, wie sie das Feuer in regelmäßigen Abständen hinterlässt. Selbst die glänzenden Kuppeln der Moscheen verwandeln sich in die fetten Bäuche der Bürokraten, die von ihren Dienststuben auf direktem Wege in die ruchlosen Gassen des Hafens stolpern.“
„Nun findet doch ein Ende!“, unterbrach ihn der Reiter. „Mit Euren Worten beschmutzt Ihr die Stadt meiner Vorväter, dass ich euch auf der Stelle dafür den Stock geben müsste.“
Ibrahim betrachtete den Reiter jetzt genauer. Seine Uniform war nicht nur die eines Offiziersschülers, sondern wies ihn auch als Mitglied der Herrscherfamilie aus. Der junge Mann musste einer der zahlreichen Söhne des letzten Sultans sein.
„Ihr seid ein Prinz, oder? Den Stock könnt ihr euch sparen, Schehsademm, denn das Stambul eurer Vorväter schlägt mich jeden Tag.“
Ross und Reiter schnaubten.
„Ihr redet Unfug!“, ertönte es vom Sattel. „Stambul ist wie die Vorstufe zum Paradies für jeden rechtschaffenen Untertan. Dort, seht selbst! In das Goldene Horn fahren Schiffe. Sie bringen Waren aus aller Welt und frischen Fisch für jeden Einwohner. Denkt an die Schönheit der Gärten, die Brunnen mit klarem Wasser an jeder Straßenecke und die elektrische Tram, die das Leben eines jeden so viel angenehmer machen. Sind es nicht auch die festen Mauern, dort hinter dem Horizont, und die starken Arme unserer Soldaten, die jedem Bewohner Stambuls Frieden und Sicherheit garantieren?“
Ibrahim lachte: „Hah! Man merkt Euch an, Schesademm, dass Ihr wohlbehütet im Schatten der Palmen im Inneren von Palastmauern aufgewachsen seid. Gar nichts wisst Ihr vom Leben der Menschen, die Ihr Eure Untertanen nennt. Das Volk ächzt unter der Last der Steuern und der Preise auf dem Markt. Es beweint seine Söhne, die Ihr an die Fronten werft, als würden sie wie die Feigen an den Bäumen wachsen. Seine Augen können sich nicht auf die Schönheit Eurer Gärten legen, da ihm vor lauter Knurren seines Magens nicht nur das Hören, sondern auch das Sehen vergangen ist. Und die Sicherheit, von der Ihr sprecht, bringt ihm nicht viel, wenn sie ihm in den festen Mauern Eurer Kerker zuteilwird, da es den Versuch wagte, sein Recht einzufordern.“
Dem Prinzen kam die Geduld mit dem uneinsichtigen Ibrahim abhanden. Er fragte: „So möchtet auch Ihr diesem Kerker einen Besuch abstatten, um die Größe Stambuls endlich zu erkennen?“
Ibrahim zuckte mit den Achseln.
„Was kümmert es mich?“, antwortete er mit einem Anflug von Resignation in der Stimme. „Hinter den Mauern müsste ich mir mein Brot nicht mit Fotografien verdienen, die nur den Schein zeigen, nicht aber das Sein. Was ist nun, wollt Ihr mich mit der Pracht Eurer Gärten und dem Schutz Eurer Mauern verzaubern?“
Der Reiter zögerte. Er wusste den Mann nicht zu deuten, der es sich erlaubt hatte, derart offen seinen Missmut vorzutragen, nur um dann plötzlich in augenscheinliche Teilnahmslosigkeit zu verfallen.
Ibrahim lächelte erneut, als er der Sprachlosigkeit des Prinzen gewahr wurde: „Nun, wenn Ihr weiter nichts zu sagen habt, Schehsademm, dann reitet Eures Weges und verbleibt in den Mauern Eures paradiesischen Palastes. Mich aber, lasst mein Werk vom Schein beenden.“
Der Fotograf drehte sich nach diesen Worten zu seiner Kamera um, blickte wieder durch den Sucher, verschob die Kamera, prüfte erneut und betätigte den Auslöser. Das sechste Bild war im Kasten. Es zeigte den stolzen Galataturm, der schon viele Herrscherfamilien kommen und gehen gesehen hatte. Auch die Jetzige würde er überdauern.